Johannes Calvin: Die echte und die falsche Prädestination.
- Diskurs 100
Im Auftrag des Reformierten Bundes in Deutschland / JOHANNES A LASCO BIBLIOTHEK
Emden und auf der Grundlage einer Scan-Texterfassung des Instituts für Reformationsforschung der
Universität Apeldoorn für die Edition im Internet vorbereitet von Matthias Freudenberg.
https://www.calvin-institutio.de/display_dokument.php?elementId=2
Die Lehre Calvins – Buch I: Von der Erkenntnis Gottes des Schöpfers
Die Lehre Calvins – Buch II: Von der Erkenntnis Gottes als des
Erlösers in Jesus Christus
Die Lehre Calvins – Buch III: Auf welche Weise wir der Gnade Christi teilhaftig werden, was für Früchte uns daraus erwachsen und was für Wirkungen sich daraus ergeben
Die Lehre Calvins – Buch IV: Von den äußeren Mitteln oder Beihilfen, mit denen uns Gott zu der Gemeinschaft mit Christus einlädt und in ihr
erhält
Die ursprünglich dreibändige Ausgabe der Übersetzung Otto Webers erschien in den
Jahren 1936-1938. Für die vorliegende Internet-Edition schienen uns die von Weber notierten
inhaltlichen Hinweise am Textrand verzichtbar. Ebenfalls wurden die wenigen Anmerkungen, die zumeist
keine Sacherklärungen bieten, nicht aufgenommen. Die alte Rechtschreibung wurde beibehalten.
Offensichtliche Druckfehler, Ungenauigkeiten bei der Angabe von Bibelstellen und anderer Literatur
sowie unübliche Darstellungsformen im Drucksatz wurden berichtigt.
Editionsplan
Buch I Juli 2006
Buch II August 2006
Buch III Dezember 2006
Buch IV März 2007
Erstes Kapitel
Von der wahren Kirche, mit der wir die Einheit halten müssen, weil sie die Mutter aller Frommen ist
Zweites Kapitel
Vergleich der falschen Kirche mit der wahren
Drittes Kapitel
Von den Lehrern und Dienern der Kirche, ihrer Erwählung und ihrer Amtspflicht
Viertes Kapitel
Vom Zustand der Alten Kirche und von der Regierungsweise, die vor dem Papsttum in Übung stand
Fünftes Kapitel
Die alte Form des Kirchenregiments ist durch die Tyrannei des Papsttums völlig zugrunde gerichtet
worden
Sechstes Kapitel
Von der Obergewalt des römischen Stuhles
Siebentes Kapitel
Vom Beginn und vom Wachstum des römischen Papsttums, bis es zu seiner heutigen Hoheit
emporgestiegen ist, durch welche die Freiheit der Kirche unterdrückt und zugleich alles rechte Maß
umgestürzt worden ist
Achtes Kapitel
Von der Macht der Kirche im Bezug auf die Glaubenssätze, und mit was für einer zügellosen
Willkür diese im Papsttum zur Verfälschung aller Reinheit der Lehre benutzt worden ist
Neuntes Kapitel
Von den Konzilien und ihrer Autorität
Zehntes Kapitel
Von der gesetzgebenden Gewalt der Kirche, in welcher der Papst samt den Seinen die Seelen einer
grausamen Tyrannei und Quälerei unterworfen hat
Elftes Kapitel
Von der Rechtsprechung der Kirche und deren Mißbrauch, wie er im Papsttum zu sehen ist
Zwölftes Kapitel
Von der Zucht der Kirche, wie sie vornehmlich in den Strafen und im Bann geübt wird
Dreizehntes Kapitel
Von den Gelübden, durch deren unbesonnenes Aussprechen sich jedermann jämmerlich in Stricke gelegt
hat
Vierzehntes Kapitel
Von den Sakramenten
Fünfzehntes Kapitel
Von der Taufe
Sechzehntes Kapitel
Die Kindertaufe steht mit Christi Stiftung und mit dem Wesen des Zeichens aufs beste im Einklang
Siebzehntes Kapitel
Vom Heiligen Abendmahl des Herrn — und was es uns bringt
Achtzehntes Kapitel
Von der päpstlichen Messe, einer Heiligtumsschändung, durch die das Abendmahl Christi nicht nur
entweiht, sondern zunichte gemacht worden ist
Neunzehntes Kapitel
Von den fünf fälschlich so genannten Sakramenten; hier wird erklärt, daß die fünf anderen
Sakramente, die man bisher allgemein für solche gehalten hat, keine Sakramente sind, auch wird
gezeigt, welche Art sie tragen
Zwanzigstes Kapitel
Vom bürgerlichen Regiment
Von der wahren Kirche, mit der wir die Einheit halten müssen, weil sie die Mutter
aller Frommen ist
IV,1,1 Im vorigen Buche wurde auseinandergelegt, daß durch den Glauben an das
Evangelium Christus unser eigen wird und wir des von ihm erworbenen Heils und der ewigen Seligkeit
teilhaftig werden. Nun sind wir aber grobsinnig und träge, zudem auch von eitlem Verstande, und
deshalb haben wir äußerliche Hilfsmittel nötig, damit der Glaube durch sie in uns erzeugt und
vermehrt werde und seinen Fortgang habe bis zum Ziele hin. Darum hat Gott auch diese äußeren
Mittel zugefügt, um so unserer Schwachheit aufzuhelfen; und damit die Predigt des Evangeliums ihre
Wirkung tut, hat er der Kirche diesen Schatz in Bewahrung gegeben. Er hat "Hirten" und "Lehrer"
eingesetzt (Eph. 4,11), um durch ihren Mund die Seinen zu unterweisen. Dazu hat er sie auch mit
Autorität ausgerüstet. Kurz, er hat nichts unterlassen, was zur heiligen Einigkeit im Glauben und
zu rechter Ordnung dienlich sein konnte, vor allem hat er die Sakramente eingesetzt, die, wie wir es
durch die Erfahrung merken, höchst nutzbringende Mittel sind, um den Glauben zu erhalten und zu
stärken. Denn wir sind ja noch in das Knechtshaus unseres Fleisches eingeschlossen und noch nicht
auf die Stufe der Engel gelangt; darum hat sich Gott unserem Fassungsvermögen angepaßt und uns in
seiner wunderbaren Vorsehung eine Art und Weise vorgeschrieben, wie wir zu ihm nahen sollen, obwohl
wir doch in weiter Ferne von ihm sind. Die Reihenfolge der Unterweisung erfordert es daher, daß wir
jetzt in die Behandlung der Kirche und ihres Regiments, ihrer Ordnungen und ihrer Gewalt, ebenso
auch der Sakramente und zum Schluß auch in eine solche der bürgerlichen Ordnung eintreten.
Zugleich ist es hier erforderlich, daß wir den frommen Leser von den Verderbnissen wegrufen, mit
denen der Satan im Papsttum alles verfälscht hat, was Gott zu unserem Heil bestimmt hatte. Den
Anfang will ich aber mit der Kirche machen: in ihrem Schoß sollen nach Gottes Willen seine Kinder
versammelt werden, und zwar nicht nur, damit sie durch ihre Mühe und ihren Dienst genährt werden,
solange sie Unmündige und Kinder sind, sondern auch, damit sie durch ihre mütterliche Fürsorge
regiert werden, bis sie herangewachsen sind und endlich zum Ziel des Glaubens hindurchdringen. Denn
was "Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden" (Mark. 10,9): wer also Gott zum
Vater hat, der muß auch die Kirche zur Mutter haben, und zwar (galt das) nicht allein unter dem
Gesetz, sondern (es gilt) auch nach dem Kommen Christi; so bezeugt es Paulus, der uns lehrt, daß
wir die Kinder des neuen, himmlischen Jerusalem sind (Gal. 4,26).
IV,1,2 Wenn wir in den Glaubensartikeln bekennen, daß wir "die Kirche
glauben", so bezieht sich das nicht allein auf die sichtbare Kirche, von der wir jetzt reden,
sondern auch auf alle Auserwählten Gottes, unter deren Zahl auch die einbegriffen werden, die
bereits verstorben sind. Deshalb wird hier auch das Wörtlein "glauben" gebraucht; denn oft
läßt sich kein Unterschied zwischen den Kindern Gottes und den Unheiligen, zwischen seiner eigenen
Herde und den wilden Tieren herausmerken. Manche fügen nun in das Glaubensbekenntnis das Wörtlein
"an" (in) ein ("ich glaube an eine ... Kirche"!); aber dafür besteht keine ersichtliche
Ursache. Ich gebe allerdings zu, daß dies Verfahren recht gebräuchlich ist und auch des Beistandes
der Alten Kirche nicht ermangelt. Denn auch das Nicaenische Glaubensbekenntnis fügt in der Fassung,
wie es uns die Kirchengeschichte überliefert, diese Präposition zu. Doch läßt sich zugleich aus
den Schriften der Alten ersehen, daß es in alter Zeit ohne Widerrede üblich war, daß man sagte:
"Ich glaube eine ... Kirche", nicht aber: "Ich glaube an eine ... Kirche". Denn Augustin und
der alte Schriftsteller, dessen Büchlein "Von der Auslegung des Glaubensbekenntnisses" unter
dem Namen des Cyprian umgeht – er mag nun sein, wer er will! -, reden nicht nur auf diese Weise;
nein, sie bemerken auch ausdrücklich, es würde eine uneigentliche Redeweise sein, wenn man jene
Präposition anfügte, auch bekräftigen sie ihre Meinung mit einer begründeten Ursache. Denn wenn
wir sagen: "Ich glaube an Gott", so geben wir solch Zeugnis darum, weil unser Herz sich auf ihn
als den Wahrhaftigen stützt und weil sich unsere Zuversicht auf ihn verläßt. Das würde aber auf
die Kirche nicht in gleicher Weise zutreffen, auch nicht auf die "Vergebung der Sünden" und die
"Auferstehung des Fleisches". Obgleich ich nun also nicht über die Worte streiten will, so
möchte ich doch lieber der Eigenart der Rede folgen, die besser geeignet ist, um die Sache zum
Ausdruck zu bringen, statt nach Formeln zu haschen, mit denen die Sache ohne Grund verdunkelt
würde. Der Zweck (unserer Erörterungen) liegt aber darin, daß wir wissen: mag auch der Teufel
kein Mittel unversucht lassen, um Christi Gnade zunichte zu machen, mögen auch die Feinde Gottes in
wütendem Ansturm dem gleichen Ziel nachjagen, so kann sie doch nicht ausgelöscht, kann auch
Christi Blut nicht unfruchtbar gemacht werden, nein, es bringt immerdar einige Frucht hervor! In
diesem Sinne müssen wir unser Augenmerk auf Gottes verborgene Erwählung und innerliche Berufung
richten; denn er allein weiß, wer die Seinigen sind, und er hält sie, wie Paulus sagt, unter einem
Siegel verschlossen (Eph. 1,13; 2. Tim. 2,19); dazu kommt auch, daß sie seine Kennzeichen tragen,
an denen sie von den Verworfenen unterschieden werden sollen. Aber da das kleine, verachtete
Häuflein unter einer unmeßbaren Menge verborgen liegt und die wenigen Weizenkörner von einem
Haufen von Spreu überdeckt werden, so muß man Gott allein die Erkenntnis seiner Kirche
überlassen, deren Fundament ja seine verborgene Erwählung ist. Es ist aber nicht genug, daß wir
solche Schar der Auserwählten bloß mit unserem Denken und unserem Herzen erfassen, sondern wir
müssen dergestalt auf die Einheit der Kirche sinnen, daß wir wahrhaftig überzeugt sind, selbst in
sie eingefügt zu sein. Denn wenn wir nicht mit allen übrigen Gliedern zusammen unter unserem
Haupte, Christus, zu einer Einheit zusammengefügt sind, so bleibt uns keine Hoffnung auf das
zukünftige Erbe. Deshalb heißt die Kirche "katholisch" oder "allgemein"; denn man könnte
nicht zwei oder drei "Kirchen" finden, ohne daß damit Christus in Stücke gerissen würde – und
das kann doch nicht geschehen! Nein, alle Auserwählten Gottes sind dergestalt in Christus
miteinander verbunden, daß sie, wie sie ja an dem einen Haupte hängen, auch gleichsam zu einem
Leibe zusammenwachsen, und sie leben in solcher Gefügtheit zusammen wie die Glieder des gleichen
Leibes; sie sind wahrhaft eins geworden, als solche, die in einem Glauben, einer Hoffnung, einer
Liebe, in dem gleichen Geiste Gottes miteinander leben und die nicht nur zum gleichen Erbe des
ewigen Lebens berufen sind, sondern auch zum Teilhaben an dem einen Gott und dem einen Christus. Mag
nun auch solche traurige Öde, wie sie uns von allen Seiten entgegentritt, mit lauter Stimme zu
bezeugen scheinen, es sei von der Kirche nichts mehr übrig, so sollen wir doch wissen, daß Christi
Tod seine Frucht trägt und daß Gott seine Kirche auf wundersame Weise gleichsam in dunkler
Verborgenheit bewahrt. Es ist, wie es einst zu Elia gesagt wurde: "Ich habe mir lassen
übrigbleiben siebentausend Mann, die nicht ihre Knie gebeugt haben vor Baal" (1. Kön. 18,19;
nicht Luthertext).
IV,1,3 Allerdings bezieht sich dieser Artikel des Glaubensbekenntnisses in
einem gewissen Sinne auch auf die äußerliche Kirche, damit sich jeder von uns in brüderlicher
Einigkeit mit allen Kindern Gottes halte, der Kirche die Autorität zuerkenne, die sie verdient,
sich so aufführe wie ein Schaf aus der Herde. Zu diesem Zweck wird dann auch hinzugesetzt: "die
Gemeinschaft der Heiligen". Dieser Titel der Aussage wird freilich von den Alten durchweg
ausgelassen; er ist aber trotzdem nicht zu vernachlässigen, weil er die Eigenart der Kirche sehr
gut zum Ausdruck bringt. Er bedeutet doch soviel, als wenn da gesagt wäre: die Heiligen werden nach
der Ordnung zur Gemeinschaft mit Christus versammelt, daß sie all die Wohltaten, die ihnen Gott
gewährt, gegenseitig einander mitteilen. Dadurch wird die Verschiedenheit der Gnadengaben nicht
aufgehoben; denn wir wissen ja, daß die Gaben des Heiligen Geistes vielartig ausgeteilt werden.
Auch wird dadurch die bürgerliche Ordnung nicht umgestürzt, nach der jeder einzelne für sich
allein sein besonderes Vermögen in Besitz haben darf; denn es ist ja zur Aufrechterhaltung des
Friedens unter den Menschen erforderlich, daß jeder unter ihnen sein eigenes, besonderes
Eigentumsrecht an seinem Besitz hat. Nein, es wird hier jene Gemeinschaft gewahrt, wie sie uns Lukas
beschreibt: "Die Menge aber der Gläubigen war ein Herz und eine Seele" (Apg. 4,32), und wie sie
Paulus im Auge hat, wenn er die Epheser ermahnt, sie sollten "ein Leib und ein Geist" sein, wie
sie ja auch zu einer Hoffnung berufen seien (Eph. 4,4). Denn wenn sie wahrhaft von der Überzeugung
getragen sind, daß Gott für sie alle der gemeinsame Vater und Christus das gemeinsame Haupt ist,
so kann es nicht anders zugehen, als daß auch sie, in brüderlicher Liebe miteinander verbunden,
einander gegenseitig ihren Besitz mitteilen. Nun liegt aber für uns sehr viel daran, daß wir
wissen, welche Frucht uns daraus erwächst. Denn wenn wir "die Kirche glauben", so geschieht das
dergestalt, daß wir fest überzeugt sind, ihre Glieder zu sein. Auf diese Weise nämlich stützt
sich unser Heil auf sichere und feste Grundlagen, so daß es, selbst wenn das ganze Gebäu der Welt
ins Wanken geriete, doch selber nicht zusammenstürzen und ineinanderfallen kann. Zunächst: es hat
ja seinen Bestand zusammen mit Gottes Erwählung, und es kann deshalb auch allein mit Gottes ewiger
Vorsehung zusammen eine Änderung erfahren oder zusammenbrechen! Zum zweiten ist unser Heil
gewissermaßen mit der Festigkeit Christi verbunden, und er wird ebensowenig dulden, daß seine
Gläubigen von ihm losgerissen werden, wie er es zugeben wird, daß seine Glieder zerstückelt oder
auseinandergezerrt werden. Dazu kommt auch dies: wir sind sicher, daß die Wahrheit für uns
allezeit Bestand haben wird, solange wir im Schoße der Kirche gehalten werden. Und endlich: wir
empfinden es, daß uns nun solche Verheißungen gelten wie diese: "Auf dem Berge Zion wird eine
Errettung sein" (Joel 3,5; Ob. 17), oder auch: "In Ewigkeit wird Gott inmitten Jerusalems
verweilen, so daß es nie und nimmer wanken wird!" (Ps. 46,6; nicht Luthertext). Das Teilhaben an
der Kirche vermag soviel, daß es uns in der Gemeinschaft mit Gott erhält. Auch liegt bereits in
dem Wort "Gemeinschaft" sehr viel Trost: denn es steht doch fest, daß alles, was der Herr
seinen und unseren Gliedern gewährt, auch uns zukommt, und so wird durch alle Güter, die sie
besitzen, unsere Hoffnung bekräftigt! Um übrigens in dieser Weise die Einheit der Kirche
hochzuhalten, ist es, wie ich bereits sagte, durchaus nicht vonnöten, daß wir die Kirche selber
mit Augen sehen oder mit unseren Händen betasten. Nein, die Kirche besteht ja vielmehr im Glauben,
und dadurch werden wir daran gemahnt, daß wir sie, wenn sie unserem Begreifen entzogen ist, doch um
nichts weniger mit unseren Gedanken umfassen müssen, als wenn sie offen in die Erscheinung träte.
Auch ist unser Glaube deshalb nicht von geringerem Wert, weil er die Kirche in ihrer Unbekanntheit
ergreift. Denn wir erhalten hier nicht die Weisung, die Verworfenen von den Auserwählten zu
unterscheiden – das ist allein Gottes Sache und nicht die unsrige! -, sondern wir sollen in unserem
Herzen klar und gewiß daran festhalten, daß alle, die aus der Freundlichkeit Gottes, des Vaters,
durch die Wirkungskraft des Heiligen Geistes in die Gemeinschaft mit Christus gelangt sind, nun zu
Gottes Eigentum und Eigenbesitz abgesondert sind, und daß wir, wenn wir zu ihrer Zahl gehören,
solcher Gnade teilhaftig sind.
IV,1,4 Aber wir haben ja jetzt die Absicht, von der sichtbaren Kirche zu
sprechen, und da wollen wir schon daraus, daß sie mit dem Ehrennamen "Mutter" bezeichnet wird,
lernen, wie nützlich, ja, wie notwendig es für uns ist, sie zu kennen. Denn es gibt für uns
keinen anderen Weg ins Leben hinein, als daß sie uns in ihrem Schoße empfängt, uns gebiert, an
ihrer Brust nährt und schließlich unter ihrer Hut und Leitung in Schutz nimmt, bis wir das
sterbliche Fleisch von uns gelegt haben und den Engeln gleich sein werden (Matth. 22,30). Denn
unsere Schwachheit erträgt es auch nicht, daß wir von der Schule entlassen werden, ehe wir im
ganzen Lauf unseres Lebens Schüler gewesen sind. Zudem ist außerhalb des Schoßes der Kirche keine
Vergebung der Sünden zu erhoffen und kein Heil; so bezeugen es uns Jesaja (Jes. 37,32) und Joel
(Joel 3,5), und Ezechiel stimmt ihnen bei, indem er erklärt, daß die, welche Gott vom himmlischen
Leben ausschließt, nicht auf der Liste seines Volkes stehen sollen (Ez. 13,9). Ebenso heißt es
auch auf der anderen Seite von denen, die sich zum Dienste der wahren Frömmigkeit bekehren, daß
sie ihren Namen unter die Bürger Jerusalems einschreiben (Jes. 56,5; Ps. 87,6). Aus diesem Grunde
heißt es auch in einem anderen Psalm: "Herr, gedenke mein nach der Gnade, die du deinem Volk
verheißen hast; suche mich heim in deinem Heil, damit ich sehe die Wohlfahrt deiner Auserwählten,
damit ich mich freue an der Freude deines Volkes und mich rühme mit deinem Erbteil" (Ps. 106,4f.;
zumeist nicht Luthertext). Mit diesen Worten wird Gottes väterliche Gunst und das besondere Zeugnis
des geistlichen Lebens auf Gottes Herde eingeschränkt, so daß die Absonderung von der Kirche stets
verderblich ist.
IV,1,5 Wir wollen aber in der Besprechung dessen fortfahren, was eigentlich zu
diesem Lehrstück gehört. Paulus schreibt, daß Christus, "auf daß er alles erfülle", "etliche
zu Aposteln gesetzt" hat, "etliche aber zu Propheten, etliche zu Evangelisten, etliche zu Hirten
und Lehrern, daß die Heiligen zugerichtet werden, bis daß wir alle hinankommen zu einerlei Glauben
und Erkenntnis des Sohnes Gottes und ein vollkommener Mann werden, der da sei im Maße des
vollkommenen Alters Christi" (Eph. 4,10-13). Wir sehen da, wie Gott, der die Seinigen in einem
einzigen Augenblick zur Vollendung kommen lassen könnte, dennoch den Willen hat, daß sie allein
durch die Erziehung der Kirche zum Mannesalter heranwachsen. Wir sehen weiter, wie hier die Art und
Weise solcher Erziehung zum Ausdruck kommt; denn den "Hirten" wird die Predigt der himmlischen
Lehre aufgetragen. Und wir sehen, wie alle ohne Ausnahme in die gleiche Ordnung hineinverpflichtet
werden, daß sie sich gefügigen und gelehrigen Geistes der Leitung jener Lehrer unterstellen, die
zu diesem Zweck eingesetzt sind. An diesem Merkzeichen hatte bereits lange zuvor Jesaja das Reich
Christi kenntlich gemacht: "Mein Geist, der bei dir ist, und meine Worte, die ich in deinen Mund
gelegt habe, sollen von deinem Munde nicht weichen noch von dem Munde deines Samens und Kindeskindes
..." (Jes. 59,21). Daraus folgt, daß alle, die diese geistliche Seelenspeise verschmähen, die
ihnen von Gott durch die Hand der Kirche dargereicht wird, wert sind, daß sie an Hunger und Mangel
zugrunde gehen. Gewiß, Gott gibt uns den Glauben ins Herz – aber durch das Werkzeug seines
Evangeliums, wie uns ja auch Paulus daran mahnt, daß der Glaube "aus dem Hören kommt" (Röm.
10,17). Ebenso steht auch die Macht, selig zu machen, bei Gott, aber nach dem Zeugnis des nämlichen
Paulus holt er sie in der Predigt des Evangeliums hervor und entfaltet sie in ihr. Aus dieser
Absicht heraus hat er auch vorzeiten angeordnet, daß man beim Heiligtum heilige Versammlungen
halten sollte, damit die Lehre, die durch den Mund des Priesters verkündigt wurde, die
Einhelligkeit des Glaubens erhielte. Und wenn der Tempel als Gottes "Ruhe" (Ps. 132,14), das
Heiligtum als seine Wohnstatt bezeichnet wird (Jes. 57,15), wenn es von Gott heißt, daß er "sitzet
über den Cherubim" (Ps. 80,2), so haben alle diese prächtigen Lobeserhebungen keinen anderen
Zweck, als dem Dienstamt der himmlischen Lehre Wert, Liebe, Achtung und Würde zu verschaffen; denn
darin könnte sonst der Anblick eines sterblichen, verachteten Menschen nicht wenig Eintrag tun!
Damit wir also erkennen, daß uns aus solch "irdenen Gefäßen" (2. Kor. 4,7) ein
unberechenbarer Schatz zugetragen wird, tritt Gott selber hervor, und da er ja der Stifter dieser
Ordnung ist, will er auch in seiner Einrichtung als gegenwärtig erkannt werden. Deshalb verbietet
er den Seinen, sich mit Wahrsagerei, mit Zeichendeutung, mit magischen Künsten, mit Totenbefragung
und anderem Aberglauben abzugeben (Lev. 19,31); aber er setzt dann hinzu, daß er ihnen eins geben
wird, das für alle genug sein soll, nämlich daß sie niemals ganz ohne Propheten sein sollen
(Deut. 18,9-15). Wie er aber das Volk des Alten Bundes nicht an die Engel verwiesen hat, sondern ihm
von der Erde her Lehrer erweckte, die das Amt der Engel in Wahrheit ausüben sollten, so will er uns
auch heute noch durch Menschen unterweisen. Und wie er sich einst nicht mit dem Gesetz allein
begnügte, sondern auch die Priester als dessen Ausleger hinzugab, aus deren Munde das Volk den
wahren Sinn des Gesetzes erforschen sollte, so will er auch heute nicht nur, daß wir fleißig in
der Schrift lesen, sondern er setzt auch Lehrmeister über uns, durch deren Dienst wir Hilfe
empfangen sollen. Daraus fließt uns ein zwiefacher Nutzen zu: auf der einen Seite stellt er so in
meisterlicher Prüfung unseren Gehorsam auf die Probe, indem wir ja seine Diener nicht anders reden
hören, als wenn wir ihn selbst vernähmen; auf der anderen Seite aber kommt er auch unserer
Schwachheit zu Hilfe: er will uns lieber nach menschlicher Weise durch Ausleger anreden, um uns zu
sich zu locken, als uns etwa mit seinem Donnern von sich wegzutreiben. Und wahrlich, wie segensreich
diese vertrauliche Art der Unterweisung für uns ist, das erfahren alle Frommen aus dem Schrecken,
mit dem sie Gottes Majestät verdientermaßen zu Boden wirft. Wer aber meint, die Autorität der
Lehrer werde durch die Verächtlichkeit der Menschen, die zur Unterweisung berufen sind, zunichte
gemacht, der legt damit seine Undankbarkeit an den Tag; denn unter all den vielen hervorragenden
Gaben, mit denen Gott das Menschengeschlecht geziert hat, ist doch dieses Vorrecht ganz einzigartig,
daß er sich herbeiläßt, den Mund und die Zunge von Menschen für sich zu weihen, damit in ihnen
seine Stimme erschalle! Deshalb wollen wir es uns nicht verdrießen lassen, auch unsererseits die
Lehre des Heils, wie sie uns auf sein Geheiß und durch seinen Mund vorgetragen wird, gehorsam
anzunehmen; denn obwohl Gottes Kraft nicht an solche äußeren Mittel gefesselt ist, so hat er doch
uns an diese geordnete Art der Unterweisung gebunden, und wenn die Schwarmgeister sich weigern, sich
daran zu halten, so verwickeln sie sich in viele verderbliche Stricke. Viele treibt der Hochmut, die
Aufgeblasenheit oder der Ehrgeiz dazu, daß sie sich einreden, wenn sie für sich allein die Schrift
läsen und darüber nachdächten, so könnten sie genug Fortschritte machen, und daß sie auf solche
Weise die öffentlichen Versammlungen mißachten und die Predigt für überflüssig halten. Da aber
solche Leute das heilige Band der Einheit, soviel an ihnen ist, auflösen und zerreißen, so entgeht
keiner der gerechten Strafe für solche gottlose Absonderung, sondern sie begeben sich alle in den
Zauberkreis von verderbenbringenden Irrtümern und greulichen Wahnvorstellungen. Damit also die
reine Einfalt des Glaubens bei uns herrsche, sollen wir keine Beschwernis darin finden, diese Übung
der Frömmigkeit zu gebrauchen; denn Gott zeigt uns ja durch ihre Einsetzung, daß sie notwendig
ist, und er empfiehlt sie uns so nachdrücklich! Gewiß hat sich auch unter den frechsten Hunden nie
einer gefunden, der behauptet hätte, man müsse vor Gott seine Ohren verschließen, aber zu allen
Zeiten hatten die Propheten und die frommen Lehrer einen harten Streit wider die Gottlosen zu
führen, deren Halsstarrigkeit sich niemals unter dies Joch zu beugen vermag, daß sie durch den
Mund und den Dienst von Menschen unterwiesen werden sollen. Das bedeutet aber genau so viel, als
wenn man Gottes Angesicht, das uns in solcher Lehre entgegenleuchtet, austilgt. Denn wenn den
Gläubigen einst geboten wurde, Gottes Angesicht im Heiligtum zu suchen (Ps. 105,4), und wenn diese
Weisung im Gesetz so oft wiederholt wird (Ps. 27, 8; 100,2 u.a.), so geschah das aus keinem anderen
Grunde, als weil für sie die Unterweisung im Gesetz und die prophetischen Vermahnungen das
lebendige Ebenbild Gottes darstellten; so versichert ja auch Paulus, daß in seiner Predigt die "Klarheit
Gottes in dem Angesichte Jesu Christi" aufleuchte (2. Kor. 4,6). Um so mehr muß man die
Abtrünnigen verabscheuen, die darauf aus sind, die Kirchen zu spalten – genau, als wenn sie die
Schafe aus den Hürden vertrieben und sie den Wölfen in den Rachen jagten! Wir dagegen müssen an
dem festhalten, was wir eben aus Paulus anführten: die Kirche wird nicht anders als durch die
äußerliche Predigt erbaut, und die Heiligen sind durch kein anderes Band miteinander
zusammengehalten, als wenn sie einhellig lernend und weiterschreitend die Ordnung der Kirche wahren,
die Gott vorgeschrieben hat. Vornehmlich zu diesem Zweck wurde einst, wie ich sagte, den Gläubigen
unter dem Gesetz die Weisung erteilt, zum Heiligtum zusammenzukommen; denn wenn Mose von Gottes
Wohnstatt redet, dann nennt er sie zugleich auch den Ort des Namens (Gottes), an welchem Gott "seines
Namens Gedächtnis" gestiftet habe (Ex. 20,24). Damit legt er offen dar, daß diese Stätte ohne
die Unterweisung in der Frömmigkeit keinerlei Nutzen hat. Es ist auch kein Zweifel, daß eben die
gleiche Ursache den David dazu gebracht hat, in unendlicher Bitterkeit seines Geistes darüber zu
klagen, daß er durch das tyrannische Wüten der Feinde daran gehindert wurde, in Gottes Hütte zu
treten (Ps. 84,2f.). Vielen scheint das eine geradezu kindische Klage zu sein, weil es doch ein sehr
geringer Verlust wäre, den Vorhof des Tempels entbehren zu müssen, und weil man dadurch doch nicht
eben viel Genuß einbüßte, sofern einem nur andere Vergnügungen zur Verfügung stünden. Trotzdem
aber klagt David, da er durch diesen einen Kummer vor Angst und Traurigkeit gequält und gemartert
wird, ja, sich beinahe verzehrt. Und das geschieht darum, weil bei den Gläubigen nichts höher gilt
als dies Mittel, durch das Gott die Seinen stufenweise zur Höhe führt. Es ist nämlich auch noch
zu bemerken, daß sich Gott den heiligen Vätern im Spiegel seiner Lehre dergestalt gezeigt hat,
daß die Erkenntnis, die sie gewannen, etwas Geistliches sein sollte. Daher heißt auch der Tempel
nicht allein sein "Angesicht", sondern auch – zur Behebung jeglichen Aberglaubens – sein "Fußschemel"
(Ps. 99,5; 132,7; 1. Chron. 28,2). Da geschieht nun jenes glückselige Zusammenstreben zur Einheit
des Glaubens, wenn sie alle, vom Höchsten bis zum Niedrigsten, nach dem Haupte sich ausstrecken.
Alles, was die Heiden Gott in anderer Absicht an Tempeln erbaut haben, das war bloß eine
Entheiligung seiner Verehrung. Darin sind aber auch die Juden, wenn auch nicht ganz so grob, doch in
einem gewissen Umfang verfallen. Das macht ihnen Stephanus zum Vorwurf, und er verwendet dabei die
Worte des Jesaja: "Gott wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind!" (Apg. 7,48; nicht
ganz Luthertext; Jes. 66,1f.). Denn Gott allein heiligt sich durch sein Wort Tempel zu
rechtmäßigem Gebrauch. Und wenn wir in unserem Vorwitz etwas gegen seinen Befehl unternehmen, dann
heften sich an den bösen Anfang sogleich auch weitere Phantastereien, durch die sich dann das Übel
ohne Maß und Ziel weiter ausbreitet. Nichtsdestoweniger war es unbedacht, daß Xerxes auf den Rat
seiner Magier alle Tempel Griechenlands verbrannte und zerstörte, weil er meinte, es sei
widersinnig, daß die Götter, denen doch alles frei offenstehen müßte, zwischen Mauern und
Dachziegeln eingeschlossen würden. Als ob es nicht in Gottes Macht stünde, gewissermaßen zu uns
herabzusteigen, damit er uns nahe sei, und dabei doch nicht den Ort zu wechseln und uns nicht an
irdische Mittel zu binden, sondern uns vielmehr gewissermaßen in einem Wagen zu seiner himmlischen
Herrlichkeit emporzuführen, die in ihrer Unermeßlichkeit alles erfüllt und auch die Himmel an
Hoheit überragt.
IV,1,6 Nun hat sich aber zu unserer Zeit über die Kraft des Predigtamtes ein
großer Streit erhoben. Die einen preisen seine Würde überschwenglich, die anderen behaupten, es
sei verkehrt, daß man einem sterblichen Menschen übertrage, was doch dem Heiligen Geiste allein
eigen sei; das geschehe aber, wenn wir dafür halten, daß die Diener (am Wort) und die Lehrer in
Verstand und Herz der Menschen eindringen, um die Blindheit des Verstandes und die Härtigkeit des
Herzens zu beheben. Wir müssen also eine rechte Beschreibung dieser Meinungsverschiedenheit geben.
Was nun auf beiden Seiten ins Treffen geführt wird, das läßt sich ohne Mühe leicht zum Austrag
bringen, wenn man sein Augenmerk (1) scharf auf die Stellen richtet, an denen Gott, der Urheber der
Predigt, seinen Geist mit ihr verbindet und daraus Frucht verheißt, wenn man aber auf der anderen
Seite (2) auch auf jene Stellen achtet, an denen er sich von den äußeren Mitteln abtrennt und den
Anfang wie auch den ganzen Lauf des Glaubens sich allein zuschreibt. (1) Das Amt des zweiten Elia
bestand nach dem Zeugnis des Maleachi darin, daß er den Verstand erleuchten, "das Herz der Väter
zu den Kindern" und die Ungläubigen zur Verständigkeit der Gerechten bekehren sollte (Mal.
3,23f. = 4,5f.). Christus spricht aus, daß er die Apostel sendet, damit sie aus ihrer Arbeit "Frucht
bringen" (Joh. 15,16), und was das für eine Frucht ist, das gibt Petrus mit kurzen Worten an,
indem er sagte, wir würden "wiedergeboren ... aus unvergänglichem Samen" (1. Petr. 1,23).
Deshalb rühmt sich Paulus, daß er die Korinther "durchs Evangelium" "gezeugt" hat (1. Kor.
4,15) und daß sie das "Siegel" seines Apostelamtes sind (1. Kor. 9,2), ja, daß er nicht bloß
ein Amt des Buchstabens führt und als solcher nur mit dem Klang seiner Stimme die Ohren getroffen
hätte, sondern daß ihm die Wirkkraft des Geistes gegeben ist, damit seine Unterweisung nicht ohne
Nutzen bleibt (2. Kor. 3,6). In diesem Sinne bezeugt er auch anderwärts, daß sein Evangelium nicht
bloß in Worten geschehen ist, sondern in Kraft (1. Kor. 2,4). Auch erklärt er, daß die Galater
"durch die Predigt vom Glauben" den Heiligen Geist empfangen haben (Gal. 3,2). Und schließlich
macht er sich an vielen Stellen nicht allein zu einem "Mitarbeiter" Gottes, sondern er mißt
sich auch die Amtsaufgabe zu, das Heil mitzuteilen (1. Kor. 3,9). (2) Dies alles hat nun Paulus ohne
Zweifel nie und nimmer in der Absicht ausgesprochen, sich selbst auch nur das Allermindeste abseits
von Gott zuzuschreiben; er setzt uns das an anderer Stelle selbst kurz auseinander: "Unsere Arbeit
ist nicht vergeblich gewesen in dem Herrn" (1. Thess. 3,5; sehr ungenau) "nach der Wirkung des,
der in mir kräftig wirkt!" (Kol. 1,29). Ebenso sagt er anderwärts: "Der mit Petrus kräftig
gewesen ist ... unter den Juden, der ist mit mir auch kräftig gewesen unter den Heiden" (Gal.
2,8). Wie rein gar nichts er aber den Dienern (am Wort) für sich allein übrig läßt, das geht aus
anderen Stellen deutlich hervor. So spricht er: "So ist nun weder der da pflanzt, noch der da
begießt, etwas, sondern Gott, der das Gedeihen gibt" (1. Kor. 3,7). Oder ebenso: "Ich habe viel
mehr gearbeitet denn sie alle; nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist" (1. Kor.
15,10). Auch müssen wir unzweifelhaft jene Sprüche behalten, in denen sich Gott die Erleuchtung
des Verstandes und die Erneuerung des Herzens zuschreibt und uns damit daran mahnt, daß es ein
Frevel ist, wenn sich der Mensch irgendeinen Anteil an diesen beiden Gottestaten anmaßt. Indessen
gilt es aber doch: wenn sich jeder den Dienern, die Gott über ihn stellt, gelehrig erweist, so wird
er aus der ihm erwachsenden Frucht erkennen: es war nicht umsonst, daß Gott diese Art der
Unterweisung gefallen hat, und es ist auch nicht umsonst, daß den Gläubigen dieses Joch der
Bescheidenheit auferlegt ist.
IV,1,7 Welches Urteil wir nun über die sichtbare Kirche, die unserer
Erkenntnis zugänglich ist, haben sollen, das ist, wie ich meine, aus den obigen Ausführungen
bereits deutlich. Wir sagten nämlich, daß die Heilige Schrift über die Kirche in zwiefacher Weise
spricht. (1) Wenn sie von der Kirche redet, so versteht sie darunter zuweilen jene Kirche, die in
Wahrheit vor Gott Kirche ist, jene Kirche, in welche nur die aufgenommen werden, die durch die Gnade
der Aufnahme in die Kindschaft Gottes Kinder und die durch die Heiligung des Geistes wahre Glieder
Christi sind. Und zwar umfaßt die Kirche dann nicht allein die Heiligen, die auf Erden wohnen,
sondern alle Auserwählten, die seit Anbeginn der Welt gewesen sind. (2) Oft aber bezeichnet die
Schrift mit dem Ausdruck "Kirche" die gesamte, in der Welt verstreute Schar der Menschen, die da
bekennt, daß sie den einen Gott und Christus verehrt, die durch die Taufe in den Glauben an ihn
eingewiesen wird, durch die Teilnahme am Abendmahl ihre Einheit in der wahren Lehre und der Liebe
bezeugt, einhellig ist im Worte des Herrn und zu dessen Predigt das von Christus eingesetzte Amt
aufrechterhält. Unter diese Schar sind nun aber sehr viele Heuchler gemischt, die von Christus
nichts haben als den Namen und den Anschein, dazu auch sehr viele Ehrsüchtige, Geizige, Neidische,
sehr viele Lästerer, auch Leute von unsauberem Lebenswandel, die eine Zeitlang ertragen werden,
entweder weil man sie nicht mit rechtmäßigem Urteil überführen kann, oder weil auch nicht immer
jene Strenge der Zucht herrscht, die eigentlich sein sollte. Ebenso also, wie es für uns vonnöten
ist, jene unsichtbare, allein für Gottes Augen wahrnehmbare Kirche zu glauben, wird es uns auch
aufgetragen, diese Kirche, die im Blick auf die Anschauung der Menschen Kirche heißt, hochzuhalten
und die Gemeinschaft mit ihr zu pflegen.
IV,1,8 Deshalb hat uns der Herr diese Kirche, sofern es für uns nötig war,
sie zu erkennen, durch bestimmte Kennzeichen und gleichsam durch Merkzeichen (symbola) wahrnehmbar
gemacht. Es ist zwar ein besonderes Vorrecht, das sich Gott selber vorbehalten hat, zu erkennen, wer
die Seinigen sind; das haben wir schon oben aus Paulus angeführt (2. Tim. 2,19). Es ist auch
unzweifelhaft Vorsorge dagegen getroffen, daß sich der Vorwitz der Menschen so weit treiben läßt,
und zwar dadurch, daß Gott uns tagtäglich durch die Geschehnisse selber darauf aufmerksam macht,
wie weit seine verborgenen Gerichte über unser Begreifen hinausgehen. Denn einerseits werden
Menschen, die völlig verloren erschienen und deretwegen man sich keinerlei Hoffnung mehr machen
konnte, durch seine Güte wieder auf den rechten Weg zurückgerufen, und andererseits kommen oft
Leute zu Fall, die mehr als andere festzustehen schienen! Deshalb sind, wie Augustin sagt, nach
Gottes verborgener Vorbestimmung "gar viele Schafe draußen und gar viele Wölfe drinnen"
(Predigten zum Johannesevangelium 45). Denn die Menschen, die weder ihn noch sich selber kennen, die
kennt er und hat er mit seinem Zeichen versehen. Und aus der Zahl derer, die öffentlich sein
Zeichen tragen, schauen allein seine Augen die, die ohne Heuchelei heilig sind und die – was
schließlich das Hauptstück unseres Heils ist! – bis zum Ende beharren werden. Aber weil er auf der
anderen Seite vorhergesehen hat, daß es uns einigermaßen nützlich ist zu wissen, welche Menschen
wir denn für seine Kinder halten sollen, darum hat er sich in diesem Stück unserem
Fassungsvermögen angepaßt. Und da die Gewißheit des Glaubens hierzu nicht erforderlich war, so
hat er an deren Stelle gewissermaßen das Urteil der Liebe gesetzt; danach sollen wir die Menschen
als Glieder der Kirche erkennen, die durch das Bekenntnis des Glaubens, durch das Beispiel ihres
Lebens und durch die Teilnahme an den Sakramenten mit uns den gleichen Gott und Christus bekennen.
Da er nun aber wußte, daß die Erkenntnis des Leibes (der Kirche) selbst für unser Heil von
größerer Notwendigkeit ist, so hat er uns diese auch durch um so gewissere Kennzeichen ans Herz
gelegt.
IV,1,9 Hieraus entsteht nun die anschaubare Gestalt der Kirche, und sie taucht
empor, so daß sie für unsere Augen sichtbar ist. Denn überall, wo wir wahrnehmen, daß Gottes
Wort lauter gepredigt und gehört wird und die Sakramente nach der Einsetzung Christi verwaltet
werden, läßt sich auf keinerlei Weise daran zweifeln, daß wir eine Kirche Gottes vor uns haben.
Denn die Verheißung des Herrn kann nicht trügen: "Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem
Namen, da bin ich mitten unter ihnen" (Matth. 18,20). Um aber den wesentlichen Inhalt dieses
Tatbestandes klar zu erfassen, müssen wir gleichsam stufenweise vorgehen, und zwar in folgender
Art. Die allgemeine Kirche (Ecclesia universalis) ist die Schar, die aus allen Völkern versammelt
ist; sie ist durch räumliche Abstände getrennt und zerstreut, aber sie ist doch einhellig in der
einen Wahrheit der göttlichen Lehre und sie ist durch das Band der gleichen Religionsübung
verbunden. Unter ihr sind dann die einzelnen Kirchen (singulae Ecclesiae) zusammengefaßt, die über
Städte und Dörfer nach den Erfordernissen menschlicher Notdurft verteilt sind, und zwar so, daß
jede einzelne mit vollem Recht den Namen und die Autorität der Kirche innehat. Und endlich: die
einzelnen Menschen, die auf Grund des Bekenntnisses der Frömmigkeit zu solchen Kirchen gerechnet
werden, gehören auch dann, wenn sie in Wirklichkeit außerhalb der Kirche stehen, trotzdem in einem
gewissen Sinne zu ihr, bis sie durch öffentliches Urteil ausgeschlossen sind. Allerdings ist es ein
wenig verschieden bestellt, ob man Einzelmenschen oder Kirchen zu beurteilen hat. Denn es kann sich
zutragen, daß wir Menschen, die wir der Gemeinschaft mit den Frommen nicht durchaus für würdig
erachten, doch wie Brüder behandeln und als Gläubige ansehen müssen, und zwar um der gemeinsamen
Eintracht der Kirche willen, kraft deren sie im Leibe Christi ertragen und geduldet werden. Solchen
Menschen erkennen wir nach unserem eigenen Urteil nicht zu, daß sie Glieder der Kirche sind; aber
wir lassen ihnen den Platz, den sie im Volke Gottes einnehmen, bis er ihnen in rechtmäßiger
Entscheidung abgenommen wird. Dagegen haben wir über die Schar (der Gemeinde) selber anders zu
urteilen: wenn sie den Dienst am Wort hat und in Ehren hält, dazu auch die Verwaltung der
Sakramente, so verdient sie ohne Zweifel, als Kirche angesehen und betrachtet zu werden, weil jene
Güter, die sie besitzt (Dienst am Wort und Verwaltung der Sakramente), ganz sicher nicht ohne
Frucht sind. So erhalten wir der allgemeinen Kirche ihre Einheit, die teuflische Geister allezeit
aufzuspalten bemüht gewesen sind, und wir berauben auch die rechtmäßigen Versammlungen, die je
nach örtlichen Möglichkeiten verstreut sind, nicht ihrer Autorität.
IV,1,10 Als Merkzeichen (symbola), an denen man die Kirche erkennt,
bezeichneten wir die Predigt des Wortes und die Übung der Sakramente. Denn diese beiden können
nicht bestehen, ohne Frucht zu bringen und durch Gottes Segen gedeihlich zu sein. Ich behaupte nicht
etwa, daß überall, wo das Wort gepredigt wird, sogleich Frucht erwächst, nein, ich meine: es wird
nirgendwo aufgenommen und hat nirgendwo seinen festen Sitz, ohne daß es auch seine Wirksamkeit an
den Tag bringt. Wie dem auch sei – wo die Predigt des Evangeliums mit Ehrfurcht vernommen wird und
die Sakramente nicht vernachlässigt werden, da wird für diese Zeit untrüglich und unzweifelhaft
die Erscheinung der Kirche sichtbar, deren Autorität zu verachten, deren Ermahnungen
geringzuschätzen, deren Ratschlägen sich zu widersetzen oder deren Züchtigung zu verspotten
niemandem ungestraft gestattet ist, noch viel weniger aber, von ihr abzufallen oder ihre Einheit zu
sprengen. Denn der Herr mißt der Gemeinschaft seiner Kirche solchen Wert bei, daß er jeden für
einen Überläufer und für einen Verräter der Religion hält, der sich von irgendeiner
christlichen Gemeinschaft, sofern sie nur den wahren Dienst am Worte und an den Sakramenten
hochhält, halsstarrig entfremdet hat. Die Autorität seiner Kirche legt er uns dermaßen ans Herz,
daß er seine eigene Autorität für verkleinert erachtet, wenn jene verletzt wird! Denn es ist
nicht von geringer Bedeutung, daß die Kirche als "ein Pfeiler und eine Grundfeste der Wahrheit"
und als das "Haus Gottes" bezeichnet wird (1. Tim. 3,15). Mit diesen Worten will doch Paulus
zeigen: damit Gottes Wahrheit in der Welt nicht untergeht, wirkt die Kirche als ihre treue
Wächterin; denn durch ihren Dienst und ihre Arbeit hat Gott die reine Predigt seines Wortes
erhalten und sich uns selbst als Hausvater erzeigen wollen, indem er uns mit geistlicher Speise
nährt und uns alles darreicht, was zu unserem Heil dient. Es ist auch kein gewöhnlicher Lobspruch,
daß es von der Kirche heißt, sie sei von Christus auserwählt und ausgesondert zu einer Braut, "die
nicht habe einen Flecken oder Runzel" (Eph. 5,27), und daß sie sein "Leib" und seine "Fülle"
genannt wird (Eph. 1,23)! Daraus ergibt sich, daß die Absonderung von der Kirche die Verleugnung
Gottes und Christi darstellt. Um so mehr müssen wir uns vor solch frevelhafter Scheidung hüten;
denn wenn wir, soviel an uns ist, den Untergang der Wahrheit Gottes herbeizuführen trachten, dann
sind wir wert, daß er die ganze Wucht seines Zorns als Wetterstrahl auf uns niederfahren läßt, um
uns zu zerschmettern. Auch läßt sich keine grausigere Übeltat erdenken, als wenn einer in
frevlerischer Treulosigkeit den Ehebund verletzt, den der eingeborene Sohn Gottes sich
herbeigelassen hat mit uns zu schließen!
IV,1,11 Deshalb sollen wir uns jene Kennzeichen fleißig ins Herz prägen,
sie festhalten und nach dem Ermessen des Herrn wertschätzen. Denn um nichts gibt sich der Satan
mehr Mühe als darum, daß er eines von diesen beiden Kennzeichen oder auch beide aufhebe und
abschaffe, und zwar bald, um nach Abschaffung und Zerstörung jener Kennzeichen die wahre und reine
Bestimmung der Kirche zunichte zu machen, bald auch, um uns deren Verachtung ins Herz zu geben und
uns dadurch in offenkundigem Abfall von der Kirche loszureißen. Seine Machenschaften haben es
fertiggebracht, daß die reine Predigt des Evangeliums manche Jahrhunderte lang verschwunden gewesen
ist. Und jetzt setzt er mit der gleichen Verruchtheit alles daran, um das Amt ins Wanken zu bringen,
das doch Christus in seiner Kirche so verordnet hat, daß mit seiner Aufhebung auch die Erbauung der
Kirche zugrunde geht. Was für eine gefährliche, ja, was für eine verderbenbringende Versuchung
ist es nun, wenn es uns auch nur in den Sinn kommt, uns von einer Versammlung abzusondern, an der
die Kennzeichen und Merkmale sichtbar werden, mit denen nach des Herrn Urteil seine Kirche genugsam
beschrieben ist: Wir sehen, wieviel Achtsamkeit wir nach beiden Seiten anwenden müssen. Damit uns
nämlich unter dem Titel der Kirche kein Betrug zugefügt wird, so müssen wir nach jenem Prüfmaß
wie nach dem Lydischen Stein jede Versammlung messen, die den Namen "Kirche" für sich in
Anspruch nimmt. Hat sie in Wort und Sakrament die Ordnung, die uns der Herr ans Herz gelegt hat, so
wird sie uns nicht trügen, und wir sollen ihr unbekümmert die Ehre erweisen, die den Kirchen
zukommt. Wenn sie sich aber andererseits ohne Wort und Sakramente darbietet, so sollen wir uns vor
dergleichen Verführungen mit eben solcher Scheu in acht nehmen, wie wir uns auf der anderen Seite
vor Vermessenheit und Hoffart zu hüten haben.
IV,1,12 Der reine Dienst am Wort und die reine Übung bei der Feier der
Sakramente, so sagen wir, ist ein geeignetes Pfand und Unterpfand, so daß wir eine Gemeinschaft, in
der beides zu finden ist, mit Sicherheit als Kirche ansprechen können. Dies hat nun so weit
Geltung, daß solche Kirche, solange sie dabei bleibt, niemals zu verwerfen ist, selbst wenn sie
sonst über und über mit vielen Gebrechen bedeckt ist. Ja, selbst in der Verwaltung der Lehre und
der Sakramente könnten allerhand Fehler aufkommen, die uns doch von der Gemeinschaft mit ihr nicht
entfremden dürften. Denn nicht alle Stücke der wahren Lehre sind von gleicher Gestalt. Einige
unter ihnen sind derart notwendig zu wissen, daß sie bei allen unerschütterlich und unzweifelhaft
fest stehen müssen, gleichsam als die eigentlichen Lehrstücke der Religion. Dazu gehören zum
Beispiel folgende Aussagen: Es ist ein Gott, Christus ist Gott und Gottes Sohn, unser Heil besteht
in Gottes Barmherzigkeit, und andere Aussagen gleicher Art. Dann gibt es andere Lehrstücke, über
die unter den Kirchen Meinungsverschiedenheiten herrschen, die aber die Einheit im Glauben nicht
zerreißen. Denn welche Kirchen werden sich wohl um des einen Punktes willen miteinander entzweien,
daß die eine ohne Streitsucht, und ohne hartnäckig auf ihrer Behauptung zu bestehen, der Meinung
ist, die Seelen führen, wenn sie den Leib verließen, sogleich in den Himmel, die andere dagegen
über den Ort nichts Genaues auszusagen wagt, aber doch klar daran festhält, daß diese Seelen dem
Herrn leben? Bei dem Apostel vernehmen wir doch die Worte: "Wie viele nun unser vollkommen sind,
die lasset uns also gesinnt sein. Und solltet ihr sonst etwas halten, das lasset euch Gott
offenbaren" (Phil. 3,15). Zeigt er damit nicht genugsam, daß die Lehrverschiedenheit über solche
nicht so notwendige Dinge unter Christen kein Grund zur Entzweiung sein soll? An erster Stelle steht
zwar, daß wir in allen Dingen gleicher Meinung sein sollen; aber es ist ja keiner, der nicht von
irgendeinem Nebel der Unwissenheit umhüllt wäre, und deshalb müssen wir entweder gar keine Kirche
bestehen lassen oder aber den Unverstand in solchen Dingen mit Nachsicht behandeln, die man ohne
Verletzung des wesentlichen Bestandes der Religion und ohne Verlust der Seligkeit auch nicht wissen
kann. Ich möchte mich hier aber nicht zum Schutzpatron der Irrtümer machen, auch nicht der
allergeringsten, so daß ich etwa meinte, man sollte ihnen schmeicheln und durch die Finger sehen
und sie dadurch nähren. Was ich behaupte, ist nur dies: wir sollen uns nicht leichtfertig um
irgendwelcher kleinen Meinungsverschiedenheiten willen von der Kirche trennen, wenn in ihr bloß
jene Lehre gesund und unverkürzt erhalten wird, auf der die Unverletztheit der Frömmigkeit beruht,
und wenn in ihr die Übung der Sakramente, wie sie der Herr eingesetzt hat, gewahrt bleibt. Wenn wir
uns unterdessen um die Ausmerzung dessen mühen, was wir nicht für richtig halten können, so tun
wir das aus unserer Amtspflicht heraus. Darauf bezieht sich auch das Wort des Paulus: "Wenn einem,
der da sitzt, etwas Besseres offenbart wird, so soll der erste schweigen" (1. Kor. 14,30; nicht
Luthertext). Daraus ergibt sich, daß jedem einzelnen Glied der Kirche die Bemühung um die
allgemeine Erbauung aufgetragen ist, und zwar nach dem Maß der ihm gewährten Gnade. Nur soll das
in geziemender Weise und nach der Ordnung geschehen; das heißt: wir sollen die Gemeinschaft der
Kirche nicht verlassen oder, wenn wir in ihr bleiben, den Frieden und die ordnungsmäßig
eingerichtete Zucht nicht stören.
IV,1,13 Noch viel weiter aber muß unsere Nachsicht im Ertragen der
Unvollkommenheit des Lebens (unserer Brüder) gehen. Denn an diesem Punkt kann man sehr leicht
ausgleiten und zu Fall kommen, auch lauert uns hier der Satan mit mehr als gewöhnlicher Hinterlist
auf. Denn es hat stets Leute gegeben, die von dem falschen Wahn einer vollkommenen Heiligkeit
ergriffen waren, sich einbildeten, als ob sie bereits gleichsam zu Geistern in der Luft geworden
wären, und dann aus solcher Gesinnung heraus die Gemeinschaft mit allen Menschen verachteten, an
denen nach ihrem Eindruck noch etwas Menschliches übriggeblieben war. Von dieser Art waren
vorzeiten die "Katharer" und die Donatisten, die sich ihrem Wahnwitz anschlossen. Von dieser Art
sind heutzutage einige von den Wiedertäufern, die den Eindruck erwecken wollen, als seien sie mehr
als andere fortgeschritten. Dann gibt es andere, die sich mehr aus unbedachtem Eifer um die
Gerechtigkeit als aus jener unsinnigen Hoffart heraus versündigen. Denn wenn sie wahrnehmen, daß
bei denen, denen das Evangelium verkündigt wird, die Frucht des Lebens seiner Lehre nicht
entspricht, so kommen sie sogleich zu dem Urteil, da sei keine Kirche. Das ist nun freilich ein sehr
berechtigter Anstoß, zu dem wir auch in unseren gar traurigen Zeiten mehr als genug Anlaß bieten.
Auch geht es nicht an, unsere verfluchte Faulheit zu entschuldigen, die der Herr nicht ungestraft
lassen wird – er fängt ja bereits an, sie mit harten Geißeln zu züchtigen! Also wehe uns, die wir
durch solch ungebundene Zügellosigkeit unserer Laster daran schuld sind, daß schwache Gewissen
unsertwegen verwundet werden! Aber andererseits versündigen sich jene Leute, von denen wir
sprachen, darin, daß sie ihrem Ärgernis kein Maß zu setzen wissen. Denn wo der Herr Milde
fordert, da lassen sie sie beiseite und liefern sich ganz und gar einer maßlosen Strenge aus. Sie
meinen nämlich, wo keine vollkommene Reinheit und Lauterkeit des Lebens sei, da sei auch keine
Kirche, und deshalb fondern sie sich aus Haß gegen die Laster und in der Meinung, sie schieden sich
von einer Rotte der Gottlosen, tatsächlich von der rechtmäßigen Kirche ab! Sie verweisen darauf,
daß doch die Kirche Christi heilig sei. Aber sie sollen zugleich auch einsehen, daß sie aus Guten
und Bösen gemischt ist, und dazu sollen sie aus dem Munde Christi jenes Gleichnis vernehmen, in dem
die Kirche mit einem Netz verglichen wird, mit dem man Fische aller Art miteinander fängt, die aber
erst dann verlesen werden, wenn sie am Ufer ausgebreitet sind (Matth. 13,47f.). Sie sollen hören,
daß die Kirche einem Ackerfeld gleicht, das zwar mit gutem Samen besät ist, aber doch durch die
Hinterlist des Feindes mit Lolch verunreinigt wird, von dem es erst dann gereinigt werden kann, wenn
die Ernte auf die Tenne gefahren ist (Matth. 13,24-30). Und sie sollen endlich vernehmen, daß die
Kirche eine Tenne ist, auf der der Weizen so gesammelt liegt, daß er unter der Spreu verborgen ist,
bis er, mit Schwinge und Sieb gesäubert, schließlich in die Scheune verbracht wird (Matth. 3,12).
Wenn der Herr kundmacht, daß die Kirche bis zum Tag des Gerichtes mit jenem Übel zu kämpfen haben
wird, durch die Vermengung mit den Gottlosen belastet zu sein, dann werden sie vergebens eine Kirche
suchen, die mit keinem Makel behaftet wäre!
IV,1,14 Trotzdem rufen sie aber aus, es sei doch etwas Unerträgliches, daß
die Pest der Laster so allenthalben um sich greift. Ja, aber da muß ich ihnen doch die Meinung des
Apostels entgegenhalten, und was wollen sie dazu sagen? Unter den Korinthern waren nicht etwa bloß
einige wenige in Irrtum verfallen, sondern die Verderbnis hatte nahezu den ganzen Leib erfaßt. Auch
herrschte da nicht bloß eine einzige Art von Sünde, sondern sehr viele. Auch waren ihre Vergehen
nicht etwa leicht, sondern es gab abscheuliche Laster bei ihnen! Die Verderbnis hatte auch nicht
etwa bloß ihren Lebenswandel erfaßt, sondern auch die Lehre. Was tat nun da der Apostel – das
heißt: was tat das Werkzeug des himmlischen Geistes, mit dessen Zeugnis die Kirche steht und
fällt? Sucht er sich von ihnen abzusondern? Stößt er sie aus dem Reiche Christi aus? Schleudert
er den furchtbarsten Wetterstrahl der Verfluchung gegen sie? Nein, er tut nicht nur nichts von
alledem, sondern er erkennt an und predigt, daß sie eine Kirche Christi und eine Gemeinschaft der
Heiligen sind! (1. Kor. 1,2). Wenn aber unter den Korinthern Kirche bleibt, unter denen Zwietracht,
Sektenbildung und Eifersucht wüten (1. Kor. 1,11; 3,3), unter denen Zank und Hader samt der
Habsucht im Schwange gehen, bei denen eine Schandtat öffentlich gebilligt wird, die selbst bei den
Heiden als abscheulich gelten würde (1. Kor. 5,1), bei denen der Name des Paulus, den sie doch wie
einen Vater hätten verehren sollen, unverschämt heruntergerissen wird (1. Kor. 9,1ff.), unter
denen gar einige die Auferstehung der Toten verspotten, mit deren Zusammenbruch das ganze Evangelium
ineinanderfällt (1. Kor. 15,12), bei denen Gottes Gnadengaben der Ehrsucht und nicht der Liebe
dienstbar gemacht werden, bei denen gar vieles unziemlich und ungeordnet vor sich geht – ich sage,
wenn da Kirche bleibt, und zwar darum, weil bei ihnen der Dienst am Wort und an den Sakramenten
nicht verworfen wird, wer wird es dann wagen dürfen, den Namen "Kirche" solchen abzusprechen,
denen man nicht einmal den zehnten Teil solcher Missetaten vorwerfen kann? Ich möchte nur wissen,
was diese Leute, die gegen die heutigen Kirchen mit solchem Eigensinn wüten, wohl mit den Galatern
gemacht hätten, die beinahe das Evangelium im Stich gelassen hätten und bei denen der gleiche
Apostel doch immer noch Kirchen fand (Gal. 1,2)!
IV,1,15 Sie machen auch den Einwurf, daß Paulus die Korinther scharf tadelt,
weil sie einen Menschen von schändlichem Lebenswandel in ihrer Gemeinschaft duldeten (1. Kor. 5,2).
Auch verweisen sie darauf, daß er einen allgemeinen Satz aufstellt, in dem er es für unstatthaft
erklärt, mit einem Menschen von anstößiger Lebensführung auch nur zusammen Brot zu essen (1.
Kor. 5,11). Da rufen sie nun aus: Wenn man mit solchem Menschen nicht einmal gewöhnliches Brot
essen darf, wie soll es denn erlaubt sein, das Brot des Herrn mit ihm zu genießen? Ich gebe gewiß
zu, daß es eine große Schande ist, wenn unter den Kindern Gottes auch Schweine und Hunde ihren
Platz haben, und noch viel mehr, wenn man ihnen den hochheiligen Leib Christi entweihend hingibt.
Aber wenn die Kirchen recht geartet sind, dann werden sie solche Übeltäter nicht in ihrem Schoße
dulden und auch zu dem heiligen Mahle nicht unterschiedslos Würdige und Unwürdige zugleich
zulassen. Aber die Hirten stehen nicht allezeit so fleißig auf der Wacht, sie sind auch zuweilen
nachsichtiger, als sie es sein sollten, sie werden auch manchmal behindert, so daß sie jene
Strenge, die sie üben möchten, nicht durchzusetzen vermögen, und so kommt es, daß auch die
offenkundig Bösen nicht immer aus der Gemeinschaft der Heiligen entfernt werden. Daß dies ein
Mangel ist, gebe ich zu, und ich will ihn auch nicht abschwächen, da ihn ja Paulus bei den
Korinthern so scharf tadelt. Aber selbst wenn die Kirche hierin ihre Amtspflicht unterläßt, so hat
doch deshalb nicht sogleich jeder einzelne Mensch für sich allein das Recht zu dem Urteil, er
dürfe sich nun absondern. Ich leugne zwar nicht, daß ein frommer Mensch die Pflicht hat, sich
jedem privaten Umgang mit solch schandbaren Leuten zu entziehen und sich in keine freiwillige
Verbindung mit ihnen einzulassen. Aber es ist zweierlei, ob man den Umgang mit den Bösen flieht -
oder ob man aus Haß gegen sie die Gemeinschaft mit der Kirche verschmäht! Wenn sie aber meinen, es
sei ein Frevel, mit den Bösen am Brote des Herrn teilzunehmen, so sind sie darin viel schärfer als
Paulus selbst. Er ermahnte uns zu heiligem und reinem Teilhaben an diesem Mahle, aber dabei fordert
er doch nicht, daß der eine den anderen prüft oder jeder einzelne die ganze Kirche, sondern daß
jeder einzelne sich selber prüfe! (1. Kor. 11,28). Wenn es ein Frevel wäre, mit einem Unwürdigen
zusammen zum Tisch des Herrn zu gehen, so würde uns Paulus sicher die Weisung geben, wir sollten
umherschauen, ob nicht einer unter der Menge sei, an dessen Unreinigkeit wir uns beflecken könnten.
Aber tatsächlich verlangt er von jedem einzelnen ausschließlich die Prüfung seiner selbst, und
damit zeigt er, daß es uns keineswegs schadet, wenn sich einige Unwürdige bei uns eindrängen.
Auch was er nachher zufügt, geht in der gleichen Richtung: "Welcher unwürdig isset ..., der
isset und trinket sich selber zum Gericht" (1. Kor. 11,29). Er sagt: "sich selber", nicht
aber: "anderen"! Und das mit Recht; denn es darf nicht im Ermessen des einzelnen liegen, wer
(zum Abendmahle) zugelassen und wer zurückgewiesen werden soll. Das Urteil hierüber liegt vielmehr
bei der ganzen Kirche, und es kann nicht ohne rechtmäßige Ordnung gefällt werden, wie ich nachher
noch weitläufiger ausführen werde. Es würde also unbillig sein, wenn irgendein Einzelmensch durch
die Unwürdigkeit eines anderen befleckt würde, dem er doch den Zugang nicht verwehren kann noch
darf.
IV,1,16 Obwohl aber diese Anfechtung aus einem unbedachten Eifer um die
Gerechtigkeit heraus zuweilen auch bei frommen Leuten aufkommt, so werden wir doch finden, daß
solcher gar zu große Eigensinn mehr aus Hochmut, Aufgeblasenheit und falschem Heiligkeitswahn
entsteht, als aus wahrer Heiligkeit und echtem Streben nach ihr. Die Menschen also, die anderen zur
Herbeiführung eines Abfalls von der Kirche an Verwegenheit vorangehen und gleichsam die
Rädelsführer dabei sind, die haben zu ihrem Treiben zumeist nur einen einzigen Grund: sie wollen
durch die Verachtung aller prahlend zeigen, daß sie besser sind als die anderen. Es ist deshalb
sehr richtig und weise, wenn Augustin sagt: "Die fromme Ordnung und die Art der kirchlichen Zucht
soll doch vor allem auf ‘die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens’ schauen, das uns
der Apostel durch gegenseitiges Ertragen zu ‘halten’ gebietet; wo sie nicht gehalten wird, da
ist die ‘heilende’ Strafe nicht allein überflüssig, sondern auch verderblich, und dadurch wird
sie überführt, daß sie gar keine Arznei mehr ist. Demgegenüber gibt es böse Kinder, die sich
nicht etwa vom Haß gegen die Ungerechtigkeit der anderen, sondern vom Eifer um ihre eigenen
Streitereien leiten lassen und nun alles daransetzen, um schwache Leute, die sie mit dem eitlen Ruhm
ihres Namens betört haben, entweder ganz zu sich herüberzuziehen oder sie doch jedenfalls
abzuspalten. Dabei sind sie geschwollen von Hoffart, rasend vor Halsstarrigkeit, heimtückisch in
ihren Lästerungen, ruhelos in ihrem Aufruhr. Damit man ihnen nun aber nicht nachweisen kann, daß
ihnen das Licht der Wahrheit fehlt, so verstecken sie sich im Schatten einer rücksichtslosen
Strenge. Und was nach der Weisung der Heiligen Schriften in recht glimpflicher Behandlung, unter
Wahrung der Lauterkeit der Liebe und unter Aufrechterhaltung der Einheit des Friedens geschehen
soll, um die brüderlichen Gebrechen zu bessern, das reißen sie an sich, um den Frevel der
Kirchenspaltung zu begehen und um eine Gelegenheit zum Abschneiden zu haben!" (Gegen den Brief des
Parmenian III,1,1). Frommen und friedsamen Menschen aber gibt Augustin den Rat: was sie zu strafen
vermöchten, das sollten sie in Barmherzigkeit strafen, was sie aber nicht strafen könnten, das
sollten sie geduldig ertragen und in Liebe darüber seufzen und klagen, bis der Herr es entweder
bessert und zurechtbringt oder aber in der Ernte den Lolch ausreißt und die Spreu in alle Winde
verstreut (Gegen den Brief des Parmenian, III,2,15). Mit solchen Waffen sollen sich alle Frommen zu
rüsten trachten, damit sie sich nicht, während sie betriebsame und eifrige Verteidiger der
Gerechtigkeit zusein vermeinen, tatsächlich vom Himmelreich, das doch das einzige Reich der
Gerechtigkeit ist, absondern! Denn Gott hat gewollt, daß in dieser äußerlichen
Zusammengehörigkeit die Gemeinschaft seiner Kirche aufrechterhalten wird; wer also aus Haß gegen
die Gottlosen das Kennzeichen dieser Zusammengehörigkeit zerbricht, der betritt einen Weg, auf dem
er sehr leicht aus der Gemeinschaft der Heiligen herausfallen kann. Solche Leute sollen doch
bedenken, daß sich in der großen Menge gar manche befinden, die wahrhaft heilig und vor den Augen
des Herrn unschuldig sind und die doch ihrem Anblick entgehen. Sie sollen bedenken, daß auch unter
denen, die krank erscheinen, viele sind, die sich in ihren Gebrechen keineswegs gefallen oder
schmeicheln, sondern, von der ernstlichen Furcht des Herrn immer wieder ermuntert, nach größerer
Reinheit streben. Sie sollen bedenken, daß man über einen Menschen nicht auf Grund einer einzigen
Tat ein Urteil fällen darf, weil doch auch die Allerheiligsten zuweilen einen sehr schweren Fall
tun. Sie sollen bedenken, daß der Dienst am Wort und das gemeinschaftliche Teilhaben an den
heiligen Sakramenten mehr Kraft hat, um die Kirche zu sammeln, als daß durch die Schuld
irgendwelcher Gottlosen jene ganze Kraft zunichte werden könnte. Und schließlich sollen sie sich
darüber klar sein, daß bei der Beurteilung der Kirche Gottes Urteil von größerem Gewicht ist als
das menschliche!
IV,1,17 Sie machen dann, wie gesagt, weiter den Einwurf, die Kirche werde
doch nicht ohne Grund "heilig" genannt. Da muß man nun erwägen, was das für eine Heiligkeit
ist, in der sie sich auszeichnet. Das ist erforderlich, damit wir nicht, wenn wir keine Kirche
zulassen wollen, die nicht in jeder Hinsicht vollkommen ist, am Ende keine einzige mehr
übriglassen! Es ist gewiß wahr, was Paulus sagt: Christus hat sich selbst für die Kirche
dahingegeben, "auf daß er sie heiligte, und hat sie gereinigt durch das Wasserbad im Wort, auf
daß er sie sich selbst darstellte als eine Braut, die herrlich sei, die nicht habe einen Flecken
oder Runzel ..." (Eph. 5,25-27; nicht ganz Luthertext). Trotzdem ist das andere noch mehr wahr,
daß der Herr Tag für Tag daran arbeitet, ihre Runzeln zu glätten und ihre Flecken abzuwaschen.
Daraus ergibt sich, daß ihre Heiligkeit noch nicht vollkommen ist. Die Heiligkeit der Kirche ist
also, wie auch an anderer Stelle noch ausführlicher dargetan werden soll, von solcher Art, daß die
Kirche Tag für Tag weiterschreitet, aber noch nicht vollkommen ist, daß sie Tag für Tag
Fortschritte macht, aber noch nicht zum Ziel der Heiligkeit gelangt ist. Wenn also die Propheten
weissagen, Jerusalem werde "heilig sein und kein Fremder mehr durch sie wandeln" (Joel 4,17),
der Tempel werde heilig sein und die Unreinen sollten keinen Zutritt zu ihm haben (Jes. 35,8), so
dürfen wir das nicht so verstehen, als ob an den Gliedern der Kirche kein Flecken mehr haftete,
nein, weil sie mit ganzem Eifer nach Heiligkeit und vollkommener Reinheit streben, darum wird ihnen
aus Gottes Freundlichkeit jene Reinheit beigelegt, die sie noch nicht voll erreicht haben. Und
obwohl unter den Menschen oft bloß seltene Zeichen solcher Heiligkeit an den Tag treten, so müssen
wir doch daran festhalten, daß seit Erschaffung der Welt nie eine Zeit gewesen ist, zu der der Herr
nicht seine Kirche gehabt hätte, und daß auch bis zum Ende dieser Welt keine Zeit sein wird, in
der er sie nicht haben würde. Denn obwohl gleich von Anfang an das ganze Menschengeschlecht durch
die Sünde des Adam verdorben und geschändet worden ist, so heiligt sich der Herr dennoch aus
dieser befleckten Masse allezeit einige "Gefäße zur Ehre" (Röm. 9,21), damit es kein
Zeitalter gibt, das seine Barmherzigkeit nicht zu erfahren bekäme. Das hat er auch mit sicheren
Verheißungen bezeugt. So etwa: "Ich habe einen Bund gemacht mit meinem Auserwählten; ich habe
David, meinem Knechte, geschworen: Ich will deinen Samen bestätigen ewiglich und deinen Stuhl bauen
für und für" (Ps. 89,4f.). Oder ebenso:"Der Herr hat Zion erwählt und hat Lust, daselbst zu
wohnen. ‘Dies ist meine Ruhe ewiglich ...’" (Ps. 132,13f.). Oder endlich: "So spricht der
Herr, der die Sonne dem Tage zum Licht gibt und den Mond und die Sterne der Nacht zum Licht ...:
Wenn solche Ordnungen vergehen vor mir, ... so soll auch aufhören der Same Israels ..." (Jer.
31,35f.).
IV,1,18 Dafür haben uns Christus selber, die Apostel und fast alle Propheten
ein Beispiel gegeben. Furchtbar sind jene Beschreibungen, in denen Jesaja, Jeremia, Joel, Habakuk
und andere die Gebrechen der Kirche zu Jerusalem beklagen. Im Volke, in der Obrigkeit, unter den
Priestern ist alles dermaßen verdorben, daß Jesaja kein Bedenken trägt, Jerusalem mit Sodom und
Gomorrha gleichzusetzen (Jes. 1,10). Die Verehrung Gottes ist teils in Verachtung geraten, teils
beschmutzt, und was die Lebensführung angeht, so findet man immer wieder Diebstahl, Räuberei,
Treulosigkeit, Mord und dergleichen Untaten. Trotzdem haben sich die Propheten deswegen nicht etwa
neue Kirchen errichtet, sie haben sich auch keine neuen Altäre gebaut, an denen sie gesonderte
Opfer hätten abhalten mögen; nein, die Menschen mochten sein, wie sie wollten, so bedachten sie
doch, daß der Herr bei ihnen sein Wort in Bewahrung gegeben und daß er die Zeremonien eingerichtet
hatte, mit denen er dort verehrt wurde, und deshalb streckten sie mitten in der Versammlung der
Gottlosen reine Hände zu ihm empor! Hätten sie gemeint, sie könnten sich daraus selber eine
Befleckung zuziehen, so wären sie sicherlich lieber hundertmal gestorben, als daß sie sich dazu
hätten bringen lassen. Was sie also davon abhielt, sich abzusondern, das war nichts anderes als das
Trachten nach der Aufrechterhaltung der Einheit. Wenn nun also die heiligen Propheten eine innere
Scheu davor hatten, sich um so vieler und so großer Übeltaten nicht bloß eines oder zweier
Menschen, sondern nahezu des ganzen Volkes von der Kirche zu entfremden, so maßen wir uns zuviel
an, wenn wir es gleich wagen, von der Gemeinschaft einer Kirche abzufallen, in der nicht die
Lebensführung aller unserem Urteil oder auch dem christlichen Bekenntnis Genüge tut!
IV,1,19 Wie stand es nun zu Christi und der Apostel Zeiten? Heillos war die
Unfrömmigkeit der Pharisäer, und es herrschte weithin eine ungebundene Zügellosigkeit des
Lebenswandels. Aber das alles vermochte doch Christus und die Apostel nicht daran zu hindern, mit
dem Volke zusammen die gleichen heiligen Handlungen zu üben und mit den anderen zusammen in dem
gleichen Tempel zu öffentlicher Ausübung des Gottesdienstes zusammenzukommen. Woher konnte das
geschehen? Ausschließlich daher, daß sie wußten, daß die, welche mit reinem Gewissen an den
gleichen heiligen Handlungen teilnahmen, durch die Gesellschaft der Bösen in keiner Weise befleckt
wurden. Wenn sich aber einer durch die Propheten und Apostel nur wenig rühren läßt, so mag er
sich wenigstens bei Christi Autorität beruhigen. Es ist deshalb gut, was Cyprian sagt: "Obwohl in
der Kirche Unkraut und unsaubere Gefäße zu sehen sind, so besteht trotzdem kein Grund, weshalb wir
uns selbst von der Kirche absondern sollten; wir müssen uns nur darum mühen, ein rechtes
Weizenkorn sein zu können, wir müssen Arbeit daran wenden und uns nach Kräften anstrengen, daß
wir ein goldenes oder silbernes Gefäß seien! Die tönernen Gefäße aber zu zerschlagen, das ist
allein Sache des Herrn, dem auch ein ‘eiserner Stab’ gegeben ist (Ps. 2,9; Apk. 2,27). Auch soll
keiner auf das Anspruch erheben, was dem Sohne allein eigen ist, keiner soll meinen, er wäre
imstande, die Tenne auszuschwingen und die Spreu wegzufegen und all das Unkraut nach menschlichem
Urteil auszujäten. Das ist eine hoffärtige Verbohrtheit und eine frevlerische Vermessenheit, die
sich solch böses Wüten selber herausnimmt ..." (Brief 54). Es soll also dies beides
unerschütterlich stehen bleiben: (zunächst:) wer aus freiem Ermessen die äußere Gemeinschaft der
Kirche verläßt, in der Gottes Wortgepredigt wird und die Sakramente verwaltet werden, der hat
keine Entschuldigung; und dann weiter: die Gebrechen weniger oder vieler bieten uns kein Hindernis,
in solcher Kirche durch die von Gott eingesetzten Zeremonien rechtmäßig unseren Glauben zu
bekennen; denn ein frommes Gewissen wird durch die Unwürdigkeit eines anderen, sei es ein Hirte der
Kirche oder ein amtloser Mensch, nicht verletzt, und die Sakramente sind für einen heiligen und
rechtschaffenen Menschen nicht weniger rein und heilbringend, wenn sie zugleich auch von Unreinen
berührt werden.
IV,1,20 Aber der Eigensinn und die Aufgeblasenheit solcher Leute geht noch
weiter. Denn sie erkennen keine Kirche an, sofern sie nicht auch von den geringsten Flecken rein
ist, ja, sie fahren gegen die rechtschaffenen Lehrer los, weil diese die Gläubigen zum
Weiterschreiten ermahnen und sie dabei lehren, ihr Leben lang unter der Last ihrer Gebrechen zu
seufzen und ihre Zuflucht zur Vergebung zu nehmen! Sie behaupten, auf diese Weise führte man die
Gläubigen von der Vollkommenheit ab. Ich gebe nun zwar zu, daß man nicht etwa lässig oder kalt
sein soll, wenn man sich bemüht, auf Vollkommenheit zu dringen, und noch viel weniger davon
ablassen darf; aber ich behaupte: es ist ein teuflisches Hirngespinst, wenn man, solange wir noch im
Laufe sind, die Herzen mit dem Vertrauen auf solche Vollkommenheit erfüllt. Deshalb wird im
Glaubensbekenntnis die Vergebung der Sünden durchaus sinnvoll an die Lehre von der Kirche
angeschlossen. Denn solche Vergebung erlangt niemand als allein die Bürger und Hausgenossen der
Kirche, wie es bei dem Propheten zu lesen steht (Jes. 33,14-24). Vorausgehen muß also die Erbauung
des himmlischen Jerusalem, in dem dann auch jene Nachsicht Gottes ihren Platz haben soll, so daß
die Ungerechtigkeit aller, die sich zu ihr begeben haben, ausgetilgt wird. Wenn ich sage, daß
zuerst die Kirche erbaut werden muß, so geschieht das nicht etwa, weil je eine Kirche ohne
Vergebung der Sünden sein könnte, sondern weil der Herr seine Barmherzigkeit allein der
Gemeinschaft der Heiligen verheißen hat. Der erste Zugang zur Kirche und zu Gottes Reich ist also
für uns die Vergebung der Sünden, ohne die es für uns keinerlei Bund oder Verbindung mit Gott
geben kann. Denn er spricht durch den Propheten: "Und ich will euch zur selben Zeit einen Bund
machen mit den Tieren auf dem Felde, mit den Vögeln unter dem Himmel und mit dem Gewürm auf Erden
und will Bogen, Schwert und Krieg vom Lande zerbrechen und die Menschen ohne Schrecken ruhen lassen.
Ich will mich mit euch verloben in Ewigkeit, ich will mich, sage ich, mit euch vertrauen in
Gerechtigkeit und Gericht, in Gnade und Barmherzigkeit" (Hos. 2,20f.; nicht ganz Luthertext). Da
sehen wir, wie der Herr uns durch seine Barmherzigkeit mit sich aussöhnen will. So spricht er es
auch an anderer Stelle aus; er sagt da voraus, daß er das Volk, das er in seinem Zorn zerstreut
hat, wieder sammeln will, und dann heißt es: "Ich will sie reinigen von aller Missetat, damit sie
wider mich gesündigt haben" (Jer. 33,8). Deshalb werden wir in die Gemeinschaft der Kirche durch
das Zeichen der Abwaschung aufgenommen; dadurch sollen wir gelehrt werden, daß uns zu Gottes
Hausgenossenschaft kein Zugang offen steht, wenn nicht zuerst durch seine Güte unsere Flecken
abgewischt werden.
IV,1,21 Aber es ist nicht so, als ob uns der Herr bloß einmal durch die
Vergebung unserer Sünden in die Kirche aufnähme und zu ihr hinzutäte, sondern er erhält und
bewahrt uns auch durch die Vergebung der Sünden in ihr. Was sollte es auch für einen Zweck haben,
wenn uns eine Vergebung widerführe, die uns keinen Nutzen brächte? Jeder einzelne unter den
Frommen ist sich aber selbst ein Zeuge dafür, daß die Barmherzigkeit des Herrn unwirksam und
trügerisch wäre, wenn sie dem Menschen bloß einmal widerführe. Denn es ist keiner, der sich
nicht sein ganzes Leben hindurch vieler Schwachheiten schuldig wüßte, die Gottes Barmherzigkeit
nötig haben. Und es ist sicherlich nicht umsonst, daß Gott solche Gnade insbesondere seinen
Hausgenossen verheißt, es ist auch nicht umsonst, daß er gebietet, es solle ihnen Tag für Tag die
gleiche Botschaft der Versöhnung zugetragen werden, wenn wir also angesichts der Tatsache, daß wir
unser ganzes Leben lang die Überbleibsel der Sünde mit uns herumtragen, nicht durch die
beständige Gnade des Herrn, die er zur Vergebung unserer Sünden wirksam sein läßt,
aufrechterhalten würden, so würden wir kaum einen Augenblick lang in der Kirche bleiben können.
Der Herr hat aber die Seinen zu ewigem Heil berufen, und deshalb sollen sie bedenken, daß für ihre
Sünden allezeit Vergebung bereit ist. Daher soll es unverbrüchlich feststehen, daß für uns, die
wir in den Leib der Kirche aufgenommen und eingefügt sind, durch Gottes Freundlichkeit, durch das
Eintreten des Verdienstes Christi für uns und durch die Heiligung des Geistes Vergebung der Sünden
geschehen ist und Tag für Tag geschieht.
IV,1,22 Um uns dieses Gut zukommen zu lassen, sind der Kirche die Schlüssel
gegeben. Denn als Christus den Aposteln den Auftrag gab und die Vollmacht übertrug, Sünden zu
vergeben (Matth. 16,19; 18,18; Joh. 20,23), da wollte er damit nicht bloß, daß sie solche Menschen
von ihren Sünden "lösten", die sich von der Gottlosigkeit zum Glauben an Christus bekehrten,
sondern viel mehr noch, daß sie diese Amtspflicht fort und fort unter den Gläubigen übten. Das
lehrt Paulus, wenn er schreibt, daß die Botschaft der Versöhnung den Dienern der Kirche in
Bewahrung gegeben ist, damit sie so das Volk immer wieder in Christi Namen ermahnen, sich mit Gott
zu versöhnen (2. Kor. 5,18.20). So werden uns also in der Gemeinschaft der Heiligen durch den
Dienst der Kirche selber immerfort unsere Sünden vergeben, wenn die Ältesten oder Bischöfe, denen
dies Amt anvertraut ist, die frommen Gewissen durch die Verheißungen des Evangeliums in der
Hoffnung auf Verzeihung und Vergebung stärken, und zwar öffentlich oder insonderheit, je nachdem
die Notdurft es erfordert. Denn es gibt sehr viele, die um ihrer Schwachheit willen einer besonderen
Tröstung bedürfen. Und Paulus berichtet, daß er nicht nur in der öffentlichen Predigt, sondern
auch hin und her in den Häusern den Glauben an Christus bezeugt und jeden einzelnen für sich in
der Lehre des Heils unterwiesen hat (Apg. 20,20f.). Wir müssen also hier auf dreierlei achten.
Erstens: die Kinder Gottes mögen sich noch so großer Heiligkeit erfreuen, so sind sie dennoch,
solange sie in dem sterblichen Leibe wohnen, in einem solchen Zustande, daß sie ohne Vergebung der
Sünden nicht vor Gott bestehen können. Zweitens: diese Wohltat (der Vergebung) ist der Kirche
derart eigen, daß wir sie nicht anders genießen können als dadurch, daß wir in ihrer
Gemeinschaft bleiben. Drittens: diese Wohltat wird durch die Diener und Hirten der Kirche an uns
ausgeteilt, und zwar durch die Predigt des Evangeliums oder durch die Verwaltung der Sakramente, und
in diesem Stück tritt die Schlüsselgewalt, die der Herr der Gemeinschaft der Gläubigen
übertragen hat, am stärksten zutage. Jeder einzelne von uns soll also bedenken, daß es seine
Pflicht ist, die Vergebung der Sünden nicht anderswo zu suchen als da, wo der Herr sie niedergelegt
hat. Von der öffentlichen Versöhnung, die zur Zucht gehört, wird an der entsprechenden Stelle
noch die Rede sein.
IV,1,23 Da nun aber jene Schwarmgeister, von denen ich sprach, der Kirche
diesen einigen Anker des Heils zu entreißen bemüht sind, so müssen die Gewissen gegen einen so
verderbenbringenden Wahn noch kräftiger gestärkt werden. Mit solcher Lehrmeinung haben vorzeiten
die Novatianer die Kirchen unruhig gemacht, aber auch unsere Zeit hat Leute, die den Novatianern
nicht sehr unähnlich sind, nämlich einige von den Wiedertäufern, die auf die gleichen
Wahnvorstellungen verfallen sind. Sie bilden sich nämlich ein, das Volk Gottes werde in der Taufe
zu einem reinen und engelgleichen Leben wiedergeboren, das durch keinerlei Schmutz des Fleisches
befleckt würde. Wenn sich nun also jemand nach der Taufe noch vergeht, so lassen sie ihm nichts als
Gottes unerbittliches Gericht mehr übrig. Kurz, sie machen einem Sünder, der nach Empfang der
Gnade wieder gefallen ist, keinerlei Hoffnung auf Vergebung, weil sie ja keine andere Vergebung der
Sünden kennen als die, kraft deren wir im Anfang (unseres Lebens als Christen) wiedergeboren
werden. Nun gibt es freilich keine Lüge, die durch die Schrift klarer widerlegt würde; aber solche
Leute finden doch immer noch Menschen, die sich von ihnen täuschen lassen, wie ja auch Novatus
vorzeiten sehr viele Anhänger hatte; und deshalb wollen wir doch in Kürze darlegen, wie sehr ihr
Wahnwitz zu ihrem eigenen und anderer Leute Verderben führt. Zunächst: wenn die Heiligen auf
Geheiß des Herrn alle Tage die Bitte wiederholen: "Vergib uns unsere Schulden", dann bekennen
sie sich doch damit natürlich als Sünder. Sie bitten auch nicht vergebens; denn der Herr hat
nirgendwo etwas anderes zu bitten geheißen, als was er selbst auch gewähren wollte. Ja, er bezeugt
zwar, daß das ganze Gebet von dem Vater erhört werden wird, aber er hat doch diese Vergebung noch
mit einer besonderen Verheißung versiegelt. Was wollen wir mehr? Der Herr verlangt von den
Gläubigen ihr ganzes Leben lang das Bekenntnis ihrer Sünden, und zwar immerfort, und er verheißt
ihnen auch Vergebung! Was ist es da für eine Vermessenheit, wenn man erklärt, sie seien von der
Sünde frei, oder wenn man sie, sofern sie sich verfehlt haben, nun ganz und gar von der Gnade
ausschließt! Wer ist das denn, dem wir nach seinem Willen "siebzigmal siebenmal" vergeben
sollen? Sind das nicht unsere Brüder? (Matth. 18,21f.). Wozu hat er uns aber diese Weisung gegeben?
Doch nur, damit wir seine Güte nachahmten! Er vergibt also nicht einmal oder zweimal, sondern sooft
sie, von der Erkenntnis ihrer Missetaten zu Boden geworfen, zu ihm seufzen.
IV,1,24 Und dann – wir wollen beinahe bei den frühesten Ursprüngen der
Kirche anfangen -: die Erzväter waren beschnitten, sie waren in die Gemeinschaft des Bundes
aufgenommen, sie waren ohne Zweifel durch den Fleiß ihres Vaters in der Gerechtigkeit und
Aufrichtigkeit unterwiesen – und da machten sie eine Verschwörung, um ihren Bruder ums Leben zu
bringen (Gen. 37,18)! Das war ein Frevel, der selbst den heillosesten Räubern abscheulich vorkommen
mußte. Schließlich ließen sie sich von den Ermahnungen des Judas besänftigen und verkauften
ihren Bruder (Gen. 37,28); aber auch das war noch eine unerträgliche Roheit. Simeon und Levi
wüteten in schnöder Rache, die auch durch das Urteil ihres Vaters verdammt wurde, gegen die Leute
von Sichem (Gen. 34,25.30). Ruben befleckte das väterliche Bett in verruchtester Begierde (Gen.
35,22). Juda ergibt sich dem Ehebruch und treibt gegen das Gesetz der Natur Hurerei mit seiner
eigenen Schwiegertochter (Gen. 38,16). Trotzdem werden diese Männer nicht aus dem auserwählten
Volke getilgt, nein, im Gegenteil, sie werden zu seinen Häuptern erhoben! Wie hat sich weiter David
aufgeführt? Er war doch zum Schirmherrn der Gerechtigkeit eingesetzt, und trotzdem: mit was für
einer entsetzlichen Schandtat bahnte er unter Vergießen von unschuldigem Blut seiner blinden Gier
den Weg (2. Sam. 11,4.15)! Er war doch bereits wiedergeboren, und er war unter den Wiedergeborenen
durch herrliche Lobsprüche des Herrn ausgezeichnet worden – und doch verübte er eine Schandtat,
die auch unter den Heiden als furchtbar gilt. Trotzdem hat er Verzeihung erlangt (2. Sam. 12,13).
Und – wir wollen uns nicht bei den einzelnen Beispielen aufhalten – all die vielen Verheißungen an
die Israeliten, die uns im Gesetz und bei den Propheten entgegentreten, sind ja ebensoviele Beweise
dafür, daß sich der Herr den Missetaten seines Volkes gegenüber versöhnlich erweist. Denn was
soll nach der Verheißung des Mose geschehen, wenn das Volk, das in Abtrünnigkeit verfallen ist, zu
dem Herrn zurückkehren wird? "Gott wird dein Gefängnis wenden und sich deiner erbarmen und wird
dich wieder versammeln aus allen Völkern, dahin du zerstreut warst. Wenn du bis an der Himmel Ende
verstoßen wärest, so will ich dich doch von dort sammeln ..." (Deut. 30,3f.; nicht ganz
Luthertext).
IV,1,25 Aber ich will keine Aufzählung anfangen, die doch nie zu Ende zu
bringen wäre. Denn die (Bücher der) Propheten sind voll von derartigen Verheißungen, die dem mit
unendlichen Übeltaten über und über bedeckten Volke dennoch Barmherzigkeit anbieten sollen.
Welche Schandtat sollte wohl schwerer sein als der Aufruhr? Denn er wird doch als Ehescheidung
zwischen Gott und der Kirche bezeichnet. Aber auch er wird von Gottes Güte überwunden! Er spricht
durch den Mund des Jeremia: "Welcher Mann wird es wohl, wenn sein Weib ihren Leib den Ehebrechern
hingegeben hat, auf sich nehmen, daß er sich wieder mit ihr aussöhne? Von deinem ehebrecherischen
Treiben aber sind alle Wege besudelt, Juda, das Land ist voll von deinen schmutzigen Liebeshändeln!
... Dennoch darfst du wieder zu mir zurückkehren, und ich will dich aufnehmen. Kehre wieder, du
Abtrünnige; ich will mein Angesicht nicht von dir abwenden; denn ich bin heilig und zürne nicht
immerdar" (Jer. 3,1f.12; nicht Luthertext). Und wahrlich, der, der da bezeugt, daß er "nicht
Gefallen hat am Tode des Gottlosen", sondern vielmehr, "daß er sich bekehre ... und lebe"
(Ez. 18,23.32), der kann ja nicht anders gesinnt sein! Als deshalb Salomo den Tempel einweihte, da
bestimmte er ihn auch zu dem Gebrauch, daß von ihm aus die Gebete, die man zur Erlangung der
Sündenvergebung vorbrachte, erhört werden sollten. "Wenn deine Kinder an dir sündigen werden",
sagt er, "(denn es ist kein Mensch, der nicht sündigt) und du erzürnst und gibst sie dahin vor
ihren Feinden..., und sie in ihr Herz schlagen und bekehren sich und flehen zu dir im Lande ihres
Gefängnisses und sprechen: Wir haben gesündigt und übelgetan ..., und beten zu dir nach ihrem
Lande hin, das du ihren Vätern gegeben hast, und nach diesem heiligen Tempel hin ..., so wollest du
ihr Gebet und Flehen hören im Himmel ... und deinem Volk gnädig sein, das an dir gesündigt hat,
und allen Übertretungen, damit sie wider dich übertreten haben ..." (1. Kön. 8,46-50; nicht
ganz Luthertext). Nicht umsonst hat der Herr im Gesetz tägliche Opfer für die Sünden geboten
(Num. 28,3ff.); denn wenn der Herr nicht vorhergesehen hätte, daß sein Volk mit immerwährenden
Sündengebrechen zu kämpfen haben würde, dann hätte er ihm auch solche Heilmittel niemals
verordnet.
IV,1,26 Ist nun etwa durch das Kommen Christi, in dem die Fülle der Gnade
offenbart worden ist, den Gläubigen diese Wohltat entzogen, daß sie es jetzt nicht mehr wagen
dürften, um Vergebung ihrer Missetaten zu flehen, daß sie, wenn sie den Herrn gekränkt haben,
keinerlei Barmherzigkeit mehr erlangen könnten? Wenn einer behauptete, die Nachsicht Gottes, die
sich in der Vergebung der Sünden auswirkt, und die im Alten Bunde immerfort für die Heiligen
bereit stand, sei jetzt weggenommen, so hieße das nichts anderes, als wenn er sagte, Christus sei
zum Verderben der Seinigen und nicht zu ihrem Heil gekommen. Nein, die Schrift erklärt
ausdrücklich und laut, daß erst in Christus die "Freundlichkeit und Leutseligkeit" des Herrn
voll in die Erscheinung getreten, daß erst in ihm der Reichtum seiner Barmherzigkeit ausgegossen
und die Versöhnung zwischen Gott und den Menschen in Erfüllung gegangen ist (Tit. 3,4; 2. Tim.
1,9; 2. Kor. 5,18-21), und wenn wir ihr Glauben schenken, so wollen wir nicht daran zweifeln, daß
uns jetzt die Freundlichkeit unseres himmlischen Vaters nur desto reichlicher zufließt, statt daß
sie abgeschnitten und verkürzt wäre. Es fehlt uns aber auch nicht an Beispielen dafür, Petrus
hatte zwar vernommen: wer Christi Namen vor den Menschen nicht bekannt hätte, der solle vor den
Engeln Gottes verleugnet werden (Matth. 10,33; Mark. 8,38), aber er hatte den Herrn doch in einer
einzigen Nacht dreimal verleugnet und sich dabei gar verflucht (Matth. 26,74). Trotzdem wurde er von
der Vergebung nicht ausgeschlossen (Luk. 22,32; Joh. 21,15ff). Die Leute, die unter den
Thessalonichern unordentlich lebten, die wurden so gestraft, daß sie tatsächlich zur Buße
eingeladen wurden (2. Thess. 3,6.14f.). Ja, selbst Simon, dem Zauberer, hat man nicht die
Verzweiflung eingejagt, sondern es wurde ihm vielmehr geboten, guter Hoffnung zu sein, indem ihm
Petrus den Rat gab, seine Zuflucht zum Gebet zu nehmen (Apg. 8,22).
IV,1,27 Was will man ferner dazu sagen, daß zuweilen ganze Kirchen von
schwersten Sünden mit Beschlag belegt waren, aus denen sie doch Paulus freundlich herauswand, statt
sie zu verfluchen? Der Abfall der Galater war keine geringfügige Missetat (Gal. 1,6; 3,1; 4,9), und
die Korinther waren im Vergleich mit ihnen desto weniger zu entschuldigen, weil unter ihnen mehr und
keine leichteren Schandtaten überhandgenommen hatten; trotzdem wurden beide nicht von der
Barmherzigkeit des Herrn ausgeschlossen! Nein, gerade die, die sich durch Unreinheit, Hurerei und
Unkeuschheit mehr als andere versündigt hatten, werden ausdrücklich zur Buße aufgefordert (2.
Kor. 12,21). Denn es bleibt und es wird ewig unverletzlich bleiben der Bund des Herrn, den er
feierlich mit Christus, dem wahren Salomo, und mit seinen Gliedern geschlossen hat, indem er sprach:
"Wo aber seine Kinder mein Gesetz verlassen und in meinen Rechten nicht wandeln, so sie meine
Ordnungen entheiligen und meine Gebote nicht halten, so will ich ihre Sünde mit der Rute heimsuchen
und ihre Missetat mit Plagen, aber meine Gnade will ich nicht von ihm wenden ..." (Ps. 89,31-34).
Schließlich werden wir gerade durch die Einteilung des Glaubensbekenntnisses daran gemahnt, daß in
der Kirche Christi eine immerwährende Vergebung der Missetaten ihren Platz haben soll; denn nachdem
die Kirche gleichsam fest umschrieben ist, wird noch die Vergebung der Sünden angeschlossen!
IV,1,28 Es gibt dann andere Leute, die ein wenig vernünftiger sind (als die
bisher Genannten): sie sehen, daß die Lehrmeinung des Novatus (Novatian) mit solcher Klarheit der
Schrift widerlegt wird, und jetzt erklären sie nicht etwa jedwede Missetat für unvergebbar,
sondern (bloß) die willentliche Übertretung, die jemand wissentlich und vorsätzlich begangen hat.
Wenn sie so reden, so achten sie also keine Sünde der Vergebung für würdig, sofern man nicht
irgendwo durch Unwissenheit abgeirrt ist. Nun hat aber der Herr im Gesetz die Weisung gegeben, man
sollte bestimmte Opfer zur Sühne für die willentlichen Sünden der Gläubigen darbringen und
andere zur Erlangung der Vergebung für die in Unwissenheit begangenen (Lev. 4). Was ist es da nun
für eine Unverschämtheit, wenn man der willentlich begangenen Sünde keinerlei Sühne mehr
zugesteht! Ich behaupte: es ist nichts offenkundiger, als daß das einige Opfer Christi Kraft hat
zur Vergebung der von den Heiligen willentlich begangenen Sünden; denn der Herr hat es durch die
fleischlichen Opfer wie durch Siegel bezeugt! Weiter: wer will denn den David, der doch ganz sicher
im Gesetz so gründlich erzogen war, mit Unwissenheit entschuldigen? Wußte etwa David nicht, was
Ehebruch und Mord für ein großer Frevel war, wo er ihn Tag für Tag an anderen bestrafte? Erschien
etwa der Brudermord den Patriarchen als etwas Rechtmäßiges? Waren die Korinther etwa so schlecht
fortgeschritten, daß sie meinten, Zuchtlosigkeit, Unreinheit, Ehebruch, Haß und Zwietracht seien
Gott wohlgefällig? Und wußte Petrus, der so fleißig unterwiesen war, etwa nicht, was es
bedeutete, seinen Meister eidlich zu verleugnen? Deshalb wollen wir der Barmherzigkeit Gottes, die
sich so freundlich offenbart, nicht mit unserer Böswilligkeit den Weg versperren!
IV,1,29 Es ist mir allerdings nicht unbekannt, daß die alten Schriftsteller
(der Kirche) unter den Sünden, die den Gläubigen täglich vergeben werden, die leichteren Vergehen
verstanden haben, die sich aus der Schwachheit des Fleisches heraus an die Gläubigen
heranschleichen. Es ist mir auch nicht verborgen, daß sie der Meinung waren, die feierliche Buße,
die man damals für schwerere Übeltaten forderte, könne ebensowenig wiederholt werden wie die
Taufe. Diese ihre Meinung ist nun nicht so zu verstehen, als ob sie solche Menschen, die nach ihrer
ersten Buße wiederum in Sünde gefallen waren, hätten in Verzweiflung stürzen wollen, oder als ob
sie (andererseits) jene (leichteren) Vergehen hätten verkleinern wollen, als ob diese nun vor Gott
von geringer Bedeutung wären. Sie wußten nämlich, daß die Heiligen öfters aus Unglauben
straucheln, daß ihnen zuweilen überflüssige Eidschwüre entfallen, daß sie manchmal in Zorn
entbrennen, ja, daß sie sich gar zu offenbaren Scheltworten hinreißen lassen und daß sie auch
sonst mit vielem Bösen zu schaffen haben, das der Herr heftig verabscheut; aber sie wandten doch
diese Bezeichnung an (nämlich: leichtere Vergehen), um solche Vergehen von den öffentlich bekannt
gewordenen Freveltaten zu unterscheiden, die unter großem Anstoß zur Kenntnis der Kirche kamen.
Daß sie aber denen, die etwas verübt hatten, das der kirchlichen Bestrafung wert war, so schwer
verziehen, das geschah nicht etwa darum, weil sie meinten, solche Leute würden bei dem Herrn nur
schwerlich Vergebung finden; nein, sie wollten mit dieser Strenge andere abschrecken, damit sie sich
nicht mutwillig zu solchen Lastern hinreißen ließen, um deretwillen sie von der Gemeinschaft der
Kirche ausgeschlossen werden würden. Freilich schreibt uns das Wort des Herrn, das uns hier als
einzige Richtschnur dienen muß, ein größeres Maßhalten vor. Denn es lehrt ja, wie wir oben
ausführlicher auseinandergesetzt haben, daß die Schärfe der Zucht (nur) soweit gespannt werden
darf, daß der, dem ja vornehmlich geholfen werden soll, "nicht in allzu große Traurigkeit
versinke" (2. Kor. 2,7).
Vergleich der falschen Kirche mit der wahren
IV,2,1 Ich habe nun auseinandergesetzt, welchen hohen Wert der Dienst am Wort
und an den Sakramenten bei uns haben und wie weit die Ehrerbietung vor ihm gehen soll: er soll ja
für uns das ständige Kennzeichen zur Unterscheidung der (wahren von der falschen) Kirche sein,
überall nämlich, wo dieser Dienst unversehrt und unverkürzt zutage tritt, da wird solche Kirche
durch keinerlei Gebrechen oder Krankheiten des Lebenswandels daran gehindert, den Namen "Kirche"
zu tragen. Ferner wird dieser Dienst selber durch geringe Irrtümer nicht dermaßen verderbt, daß
er etwa nicht für rechtmäßig zu achten wäre. Ich habe dann weiter gezeigt, daß die Irrtümer,
denen solche Verzeihung zukommt, von der Art sind, daß durch sie die wesentlichste Lehre der
Religion nicht verletzt wird und die Hauptstücke der Gottesverehrung, über die unter allen
Gläubigen Einstimmigkeit herrschen muß, nicht unterdrückt werden; was die Sakramente angeht, so
sind – das zeigte ich – jene verzeihlichen Irrtümer derart, daß sie doch die rechtmäßige
Einrichtung des Urhebers dieser Sakramente nicht abschaffen oder ins Wanken bringen. Sobald dagegen
in das Bollwerk der Religion die Lüge eingebrochen, die Hauptsumme der notwendigen Lehre verkehrt
worden und die Übung der Sakramente zusammengestürzt ist, da ergibt sich ganz gewiß der Untergang
der Kirche, genau wie es um das Leben eines Menschen geschehen ist, wenn man ihm die Kehle
durchbohrt oder das Herz tödlich verwundet hat. Das läßt sich klar aus den Worten des Paulus
beweisen, indem er lehrt, daß die Kirche auf die Lehre der Apostel und Propheten gegründet ist,
"da Jesus Christus der Eckstein ist" (Eph. 2,20). Wenn also das Fundament der Kirche die Lehre
der Propheten und Apostel ist, in der den Gläubigen befohlen wird, ihr Heil auf Christus allein zu
gründen, – wie soll dann das Bauwerk noch weiter Bestand haben, wenn man dies Fundament wegnimmt?
Die Kirche muß also notwendig zusammenbrechen, wo diese Hauptsumme der Gottesverehrung, die sie
allein aufrechterhalten kann, dahinfällt. Und dann: wenn die wahre Kirche "ein Pfeiler und eine
Grundfeste der Wahrheit ist" (1. Tim. 3,15), so ist sicherlich da keine Kirche, wo Lüge und
Falschheit die Herrschaft gewonnen haben.
IV,2,2 Eben so verhalten sich nun die Dinge unter dem Papsttum, und daraus
läßt sich erkennen, was dort noch an Kirche übrig ist. Statt des Dienstes am Wort herrscht da ein
verkehrtes und aus Lügen zusammengeschmiedetes Regiment, das das reine Licht teils auslöscht,
teils erstickt. An die Stelle des Heiligen Abendmahles hat sich die abscheulichste
Heiligtumsschändung eingeschlichen. Die Verehrung Gottes ist durch eine vielartige und
unerträgliche Menge von Aberglauben entstellt. Die Lehre, ohne die das Christentum nicht bestehen
kann, ist ganz begraben und beiseite getan. Die öffentlichen Versammlungen (Gottesdienste) sind
Schulen des Götzendienstes und der Unfrömmigkeit. Deshalb besteht keine Gefahr, daß wir etwa von
der Kirche Christi losgerissen werden, wenn wir uns von der verderbenbringenden Teilnahme an soviel
Schandtaten absondern. Die Gemeinschaft der Kirche ist nicht dergestalt eingerichtet, daß sie ein
Band sein soll, mit dem wir in Götzendienst, Unfrömmigkeit, Unkenntnis Gottes und anderlei Böses
verstrickt werden, sondern sie soll vielmehr ein Band sein, das uns in der Furcht Gottes und im
Gehorsam gegen die Wahrheit erhält. Die Papisten mögen uns nun zwar ihre Kirche großartig
preisen, damit der Eindruck entsteht, als ob es in der Welt keine andere gäbe, sie mögen alsdann
auch, als ob sie ihre Sache bereits bewiesen hätten, alle für "Schismatiker" erklären, die es
wagen, sich dem Gehorsam gegenüber der Kirche, die sie da malen, zu entziehen, und alle für "Haeretiker",
die gegen die Lehre dieser Kirche zu mucksen wagen. Das mögen sie tun – aber mit was für Gründen
beweisen sie, daß sie die wahre Kirche haben? Sie führen aus alten Geschichtsbüchern an, was
einst in Italien, in Frankreich, in Spanien gewesen ist, sie berufen sich darauf, daß sie ihren
Ursprung von jenen heiligen Männern herleiten, die einst mit gesunder Lehre die Kirchen gründeten
und aufrichteten und diese Lehre selbst und die Erbauung der Kirche mit ihrem Blute bekräftigten.
Sie behaupten weiter, daß die Kirche, die durch solche geistlichen Gaben und durch das Blut der
Märtyrer geweiht war, durch die fortwährende Aufeinanderfolge der Bischöfe erhalten worden sei,
damit sie nicht unterginge. Sie erinnern daran, welchen hohen Wert Irenäus, Tertullian, Origenes,
Augustin und andere auf diese Aufeinanderfolge der Bischöfe gelegt haben. Was das nun für ein
leichtfertiges Gerede, ja, was das ganz und gar für ein Gespött ist, das will ich denen, die es
ein wenig mit mir erwägen wollen, ohne Mühe begreiflich machen. Ich würde die Papisten zwar auch
selber auffordern, hierauf ernstlich ihre Aufmerksamkeit zu lenken, wenn ich die Zuversicht hätte,
bei ihnen mit Lehren irgend etwas ausrichten zu können. Aber da sie jedes Achthaben auf die
Wahrheit von sich geworfen haben und es ihnen jetzt nur noch daran liegt, auf jedem für sie
gangbaren Wege ihre eigene Sache zu betreiben, so will ich nur weniges sagen, mit dessen Hilfe sich
dann wohlgesinnte Männer, denen es ernstlich um die Wahrheit zu tun ist, aus ihren Betrügereien
frei machen können. Zunächst möchte ich von den Papisten gerne erfahren, warum sie denn Afrika
und Ägypten und ganz Asien nicht anführen. Der Grund liegt natürlich darin, daß in allen diesen
Gebieten jene "heilige" Aufeinanderfolge der Bischöfe aufgehört hat, die sie doch als die
Wohltat preisen, vermöge deren sie ihre Kirchen aufrechterhalten hätten! Sie ziehen sich also
darauf zurück, sie hätten deshalb die wahre Kirche, weil es dieser Kirche seit ihrer Entstehung
niemals an Bischöfen gefehlt habe, da sie ja in ununterbrochener Reihenfolge aufeinander gefolgt
seien. Aber was soll geschehen, wenn ich sie nun demgegenüber auf Griechenland verweise? Ich
möchte also wiederum von ihnen wissen, warum sie denn behaupten, bei den Griechen sei die Kirche
untergegangen, obwohl doch bei ihnen jene Aufeinanderfolge der Bischöfe, die nach ihrer Meinung die
einzige Wächterin und Wahrerin der Kirche ist, niemals eine Unterbrechung erfahren hat. Sie machen
die Griechen zu Schismatikern. Mit welchem Recht? "Sie haben sich eben von dem apostolischen Stuhl
abgespalten und dadurch ihr Vorrecht verloren!" Wieso verdienen nicht vielmehr die ihr Vorrecht
einzubüßen, die von Christus selbst abfallen? Es ergibt sich also: der Vorwand der
Aufeinanderfolge (der Bischöfe) ist eitel, wenn nicht die Späteren die Wahrheit Christi, die sie
von ihren Vätern in die Hand gelegt bekommen haben, unversehrt und unverderbt erhalten und in ihr
verharren.
IV,2,3 Darum haben die Römischen heutzutage keinen anderen Vorwand, als ihn
vorzeiten augenscheinlich die Juden gebraucht haben, als sie von den Propheten des Herrn der
Blindheit, der Unfrömmigkeit und des Götzendienstes beschuldigt wurden. Da beriefen sie sich
großmächtig auf den Tempel, die Zeremonien und das Priestertum; denn das waren nach ihrer Meinung
die Dinge, nach denen sie die Kirche mit kräftig wirksamem Beweis zu messen vermochten. Genau so
machen es die Römischen heute: statt der Kirche stellen sie uns bloß gewisse äußerliche Larven
vor Augen, die oftmals weit von der Kirche entfernt sind und ohne die die Kirche sehr wohl bestehen
kann. Wollen wir sie widerlegen, so kann das daher auch allein mit dem Beweis geschehen, mit dem
Jeremia gegen jene törichte Zuversicht der Juden kämpfte: sie sollten sich nicht mit verlogenen
Worten rühmen und sagen: "Hier ist des Herrn Tempel, hier ist des Herrn Tempel, hier ist des
Herrn Tempel!" (Jer. 7,4). Denn der Herr erkennt je und je nur das für das Seine an, wo sein Wort
gehört und ehrfürchtig beachtet wird. Obwohl also die Herrlichkeit Gottes zwischen den Cherubim im
Allerheiligsten ihren Sitz hatte (Ez. 10,4), und obwohl Gott dem Volke verheißen hatte, er wolle
dort seinen festen Platz haben, so zog er doch, sobald die Priester seinen Gottesdienst mit üblem
Aberglauben verdarben, anderswohin und ließ diesen Ort ohne jede Heiligkeit zurück. Wenn jener
Tempel, der zur immerwährenden Wohnstatt Gottes geweiht zu sein schien, von Gott verlassen und
unheilig werden konnte, so besteht kein Anlaß, daß uns diese Leute vormachen, Gott sei dermaßen
an Personen und Orte gebunden und an äußerliche Gebräuche gefesselt, daß er bei solchen Menschen
bleiben müßte, die doch nur den Titel und den äußeren Anschein der Kirche haben. Das ist auch
der Streit, den Paulus im Brief an die Römer vom neunten bis zum zwölften Kapitel führt. Denn es
stürzte die schwachen Gewissen in heftige Verwirrung, daß die Juden, obwohl sie doch Gottes Volk
zu sein schienen, die Lehre des Evangeliums nicht nur verachteten, sondern sogar verfolgten. Nachdem
er also die Lehre (im ganzen) entfaltet hat, beseitigt er diese Schwierigkeit und bestreitet, daß
jene Juden, die die Feinde der Wahrheit sind, die Kirche seien, und das, selbst wenn ihnen nichts
abging, was man sonst zur äußeren Gestalt der Kirche verlangen könnte. Er bestreitet das aber,
weil sie Christus nicht angenommen haben. Noch ein wenig deutlicher bringt er das im Brief an die
Galater zum Ausdruck: da vergleicht er den Ismael mit Isaak und erklärt daraufhin, daß in der
Kirche viele einen Platz haben, denen doch das Erbe nicht gehört, weil sie nicht von der freien
Mutter geboren sind (Gal. 4,22ff.). Von da aus kommt er dann auch zu dem Vergleich zwischen einem
zwiefachen Jerusalem; denn wie auf dem Berge Sinai das Gesetz gegeben wurde, das Evangelium dagegen
von Jerusalem ausging, so gibt es auch viele, die als Knechte geboren und erzogen sind und sich doch
unbekümmert rühmen, sie seien Kinder Gottes und der Kirche, ja, die hoffärtig auf die echten
Kinder Gottes herabsehen, obwohl sie doch selber Entartete sind. Nun wollen auf der anderen Seite
auch wir, wenn wir doch hören, daß einmal vom Himmel kundgemacht worden ist: "Treibe diese Magd
aus mit ihrem Sohn" (Gen. 21,10), uns auf diese unverletzliche Verordnung stützen und von da aus
die törichten Ansprüche der Papisten wacker verachten. Denn wenn sie hochmütig auf das äußere
Bekenntnis pochen – auch Ismael war beschnitten! Wenn sie das hohe Alter (ihrer Kirche) ins Feld
führen – Ismael war der Erstgeborene, und doch wurde er verworfen, wie wir sehen! Fragt man nach
der Ursache dafür, so zeigt sie uns Paulus: nur die werden zu den Kindern gezählt, die aus dem
reinen und rechtmäßigen Samen der Lehre geboren sind (Röm. 9,6-9). Dementsprechend erklärt Gott,
daß er nicht etwa deshalb an die gottlosen Priester gebunden ist, weil er doch mit ihrem Stammvater
Levi einen Bund gemacht hat, nach welchem dieser sein Bote und Dolmetsch sein solle; ja, er wendet
ihr falsches Rühmen, mit dem sie sich gegen die Propheten zu empören pflegten, gegen sie selber,
nämlich dieses Rühmen, es müßte die Würde des Priestertums stets in besonderer Wertschätzung
stehen (Mal. 2,1-9). Das gesteht er ihnen selbst gerne zu, und das ist ja gerade der Punkt, auf
Grund dessen er mit ihnen streitet. Denn er ist ja – das sagt er selbst – bereit, seinen Bund zu
halten. Da sie aber diesem Bunde ihrerseits nicht entsprechen, so verdienen sie es, verworfen zu
werden. Da sieht man, was die Aufeinanderfolge (im Priesteramt) für eine Bedeutung hat, wenn sich
mit ihr nicht auch die Nachfolge und die gleiche Art verbindet: nämlich nur die, daß die
Nachfolger, sobald sie davon überführt sind, daß sie ihren Ursprung verlassen haben, jeglicher
Ehre beraubt werden! Im anderen Falle wäre sonst auch jene verbrecherische Rotte (zu Christi
Zeiten) des Namens"Kirche" würdig gewesen, weil Kaiphas der Nachfolger vieler frommer Priester
war, ja, weil von Aaron bis zu ihm hin eine ununterbrochene Reihenfolge bestand! Aber selbst in
irdischen Reichen würde man es nicht dulden können, wenn jemand die Tyrannei eines Caligula, Nero,
Heliogabal oder ähnlicher Männer als den rechten Zustand der öffentlichen Gewalt bezeichnen
wollte, weil diese Männer doch auf Leute wie Brutus, Scipio und Camillus gefolgt wären. Besonders
aber im Kirchenregiment ist nichts leichtfertiger, als wenn man die Lehre beiseite läßt und die
Aufeinanderfolge allein auf die Personen bezieht. Auch hatten aber jene heiligen Lehrer, die man uns
gegenüber fälschlich ins Treffen führt, nichts weniger im Sinn, als schlechthin, gleichsam auf
Grund eines erblichen Rechtes, zu beweisen, daß überall da Kirchen seien, wo stets ein Bischof auf
den anderen gefolgt sei. Es war doch vielmehr so: es konnte kein Streit darüber bestehen, daß seit
Anbeginn (der Kirche) bis auf jene Zeit in der Lehre keine Veränderung eingetreten war, und deshalb
stellten sie eine Behauptung auf, die genügen sollte, alle neu aufkommenden Irrtümer zunichte zu
machen, nämlich: jene Irrtümer stritten gegen die Lehre, die eben seit der Apostel Zeiten
beständig und in einträchtiger Übereinstimmung beibehalten worden war. Es besteht daher kein
Anlaß, weshalb unsere Widersacher noch weiter fortfahren könnten, aus dem Namen "Kirche" einen
trügerischen Schein zu machen. Gewiß, wir verehren diesen Namen mit der schuldigen Ehrerbietung.
Aber wenn man zur Bestimmung (dieses Begriffs) kommt, dann "bleibt ihnen nicht nur das Wasser aus",
wie man sagt (Cicero), sondern sie bleiben in ihrem Schlamm stecken, weil sie nämlich an die Stelle
der heiligen Braut Christi eine ekelhafte Hure setzen. Damit wir uns durch diese Verwechslung nicht
betrügen lassen, soll uns neben anderen Mahnungen auch eine des Augustin zu Hilfe kommen; er
spricht von der Kirche und sagt: "Sie ist es, die je und dann von der Menge der Ärgernisse
verdunkelt und gleichsam in Nebel gehüllt wird, die je und dann in friedlichen Zeiten ruhig und
frei erscheint, je und dann aber auch von den Wogen der Trübsale und Anfechtungen bedeckt und
verstört wird." Er führt dann Beispiele dafür an, daß öfters die festesten Säulen der Kirche
für ihren Glauben tapfer in der Verbannung lebten oder auch in der ganzen Welt ein verborgenes
Dasein führten (Brief 93).
IV,2,4 In dieser Weise quälen uns heutzutage die Römischen, und sie
schrecken die Unerfahrenen mit dem Namen "Kirche", obgleich sie selbst die Todfeinde Christi
sind. Gewiß wenden sie daher Tempel und Priestertum und andere Larven dieser Art vor; aber dieser
eitle Glanz, der die Augen schlichter Leute blendet, soll uns doch in keiner Weise dazu bewegen,
daß wir uns zu der Annahme bereit erklären, da sei eine Kirche, wo das Wort Gottes nicht in
Erscheinung tritt. Denn das ist das bleibende Kennzeichen, mit dem unser Herr die Seinen bezeichnet:
"Wer aus der Wahrheit ist", spricht er, "der höret meine Stimme" (Joh. 18,37). Ebenso sagt
er: "Ich bin der gute Hirte und erkenne die Meinen und bin bekannt den Meinen" (Joh. 10,14), "meine
Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie; und sie folgen mir" (Joh. 10,27). Kurz zuvor hatte
er aber gesagt: die Schafe folgen ihrem Hirten nach, "denn sie kennen seine Stimme. Einem Fremden
aber folgen sie nicht nach, sondern fliehen vor ihm; denn sie kennen der Fremden Stimme nicht"
(Joh. 10,4f.). Weshalb verfallen wir denn also bei der Beurteilung der Kirche ohne Grund in
Torheiten, wo sie Christus doch mit einem völlig allem Zweifel entnommenen Merkzeichen versehen
hat? Wo auch immer dies Merkzeichen zu sehen ist, da kann es nicht täuschen, sondern es weist mit
Sicherheit darauf hin, daß da Kirche ist; wo es aber fehlt, da bleibt nichts übrig, was einen
wirklichen Hinweis auf die Kirche geben könnte. Denn die Kirche ist nicht auf die Urteile von
Menschen, nicht auf das Priestertum gegründet, sondern auf die Lehre der Apostel und Propheten, wie
es Paulus in Erinnerung bringt (Eph. 2,20). Ja, man muß vielmehr Jerusalem von Babel, Christi
Kirche von der Verschwörerrotte des Satans an dem Unterscheidungsmerkmal voneinander unterscheiden,
an dem sie Christus unterschieden hat: "Wer von Gott ist", spricht er, "der hört Gottes
Worte; darum höret ihr nicht; denn ihr seid nicht von Gott" (Joh. 8,47). Ich fasse zusammen: Die
Kirche ist das Reich Christi; Christus aber regiert allein durch sein Wort; sollte es nun da noch
irgendeinem Menschen dunkel sein, daß es Lügenworte sind, wenn man uns vormacht, Christi Reich
könne ohne sein Zepter bestehen, das heißt: ohne sein heiliges Wort?
IV,2,5 Sie beschuldigen uns nun der Kirchenspaltung und der Ketzerei, weil wir
eine (von der ihrigen) verschiedene Lehre predigten, weil wir ihren Gesetzen nicht Gehorsam
leisteten, und weil wir unter uns besondere Zusammenkünfte zum Gebet, zur Taufe, zur Feier des
Heiligen Abendmahles, dazu auch andere heilige Handlungen abhielten. Das ist gewiß eine sehr
schwere Anklage; aber sie bedarf doch keineswegs einer langen und mühseligen Verteidigung. Ketzer
und Schismatiker nennt man solche Leute, die eine Spaltung herbeiführen und dadurch die
Gemeinschaft der Kirche zerreißen. Diese Gemeinschaft der Kirche wird nun durch zwei Bande
zusammengehalten: durch die Einmütigkeit in der gesunden Lehre und durch die brüderliche Liebe.
Von daher stellt Augustin folgenden Unterschied zwischen Haeretikern und Schismatikern auf: die
Haeretiker verderben die Lauterkeit des Glaubens mit falschen Lehrmeinungen, die Schismatiker
dagegen zerreißen, manchmal auch bei (Aufrechterhaltung der) Gleichheit des Glaubens, das Band der
Gemeinschaft (Fragen zum Evangelium nach Matthäus,11,2). Dabei ist aber auch darauf zu achten, daß
diese Verbundenheit in der Liebe von der Einheit im Glauben dergestalt abhängig ist, daß diese ihr
Anfang, ihr Ziel, kurzum, ihre einzige Richtschnur sein muß. Sooft uns also die kirchliche Einheit
gepriesen wird, wollen wir daran denken: hiermit wird von uns verlangt, daß unsere Gemüter in
Christus einhellig und zugleich auch unsere Willensregungen in gegenseitigem Wohlwollen in Christus
untereinander verbunden sind. So macht es daher Paulus: er ermahnt uns zur kirchlichen Einheit und
setzt dabei als deren Fundament, daß ein Gott, ein Glaube und eine Taufe ist (Eph. 4,5). Ja,
überall, wo er uns lehrt, das gleiche Urteil und den gleichen Willen zu haben, da fügt er sogleich
hinzu: "In Christus" oder "nach der Art Christi" (Phil. 2,2.5; Röm. 15,5). Damit zeigt er,
daß das, was außerhalb des Wortes unseres Herrn (an kirchlicher Gemeinschaft) geschieht, eine
Rotte von Gottlosen und nicht eine einträchtige Gemeinschaft (conspiratio) der Gläubigen ist.
IV,2,6 Diesem Urteil des Paulus schließt sich auch Cyprian an: er findet den
Brunnquell aller kirchlichen Eintracht darin, daß Christus der einige Bischof ist. Danach fügt er
hinzu: "Die Kirche, die sich durch fruchtbares Wachstum weiterhin zu einer Vielheit dehnt, ist
doch eine Kirche, wie ja auch die Strahlen der Sonne viele sind, aber das Licht eins, oder wie an
einem Baum viele Äste sind, aber der Stamm nur einer ist, gegründet auf einer festen Wurzel. Und
wenn von einer einzigen Quelle her gar viele Bäche fließen, so mag wohl bei dem Reichtum der
überströmenden Wassermenge der Eindruck einer verstreuten Vielheit entstehen, aber es bleibt doch
in der Quelle die Einheit. Nimm einen Strahl der Sonne von ihrem Körper weg, so läßt sich die
Einheit der Sonne doch nicht teilen. Brich einen Ast vom Baum, so wird der abgeschlagene Ast nicht
zu grünen vermögen. Trenne einen Bach von seinem Quell, so muß er in seinem Abgeschnittensein
austrocknen. So breitet sich auch die Kirche, von dem Lichte des Herrn durchflossen, über die ganze
Welt aus, aber es ist doch ein Licht, das sich da allenthalben ergießt" (Von der Einheit der
katholischen Kirche 5). Treffenderes hätte gar nicht gesagt werden können, um jene unzertrennliche
Verbundenheit zum Ausdruck zu bringen, die alle Glieder Christi untereinander haben. Wir sehen, wie
er uns immerfort zu dem Haupte selber zurückruft. Deshalb erklärt er auch, daß alle Ketzereien
und Kirchenspaltungen daher rühren, daß man nicht auf den Ursprung der Wahrheit zurückgeht, daß
man das Haupt nicht sucht und die Lehre des himmlischen Meisters nicht wahrt. So, nun sollen sie
herkommen und schreien, wir, die wir uns von ihrer Kirche geschieden haben, wir seien Ketzer, wo
doch diese Absonderung nur eine einzige Ursache gehabt hat, nämlich die, daß sie das reine
Bekenntnis der Wahrheit auf keinerlei Weise zu ertragen vermögen. Dabei will ich aber noch mit
Schweigen übergehen, daß sie uns mit Verfluchungen und Verwünschungen hinausgetrieben haben!
Trotzdem genügt auch das schon mehr als genug zu unserer Freisprechung, sofern sie nicht auch die
Apostel wegen Kirchenspaltung verdammen wollen, mit denen wir die gleiche Sache haben. Hat doch
Christus, so sage ich, seinen Aposteln vorhergesagt, daß sie um seines Namens willen aus den
Synagogen hinausgeworfen werden würden (Joh. 16,2). Nun galten aber die Synagogen, von denen er
spricht, dazumal für rechtmäßige Kirchen. Da es also feststeht, daß wir hinausgeworfen worden
sind, und da wir bereit sind darzulegen, daß dies um des Namens Christi willen geschehen ist, so
muß man unzweifelhaft zuerst über die Streitsache eine Untersuchung anstellen, bevor man über uns
irgend etwas in der einen oder anderen Richtung bestimmt. Aber das will ich ihnen, wenn sie es so
wollen, gerne erlassen; mir genügt es voll und ganz, daß wir uns von ihnen haben wegwenden
müssen, um uns zu Christus hinzuwenden!
IV,2,7 Aber was wir von all den Kirchen zu halten haben, die jene Tyrannei des
römischen Abgotts mit Beschlag belegt hat, das wird noch deutlicher ans Licht treten, wenn wir sie
mit der alten Kirche in Israel vergleichen, wie sie uns bei den Propheten umrissen wird. Bei den
Judäern und Israeliten war zu der Zeit die wahre Kirche, als sie in den Gesetzen des Bundes
verharrten, indem sie nämlich durch Gottes Wohltat die Dinge in Besitz hatten, in denen die Kirche
besteht. Die Lehre der Wahrheit hatten sie im Gesetz, der Dienst an dieser Lehre lag bei den
Priestern und Propheten. Durch das Merkzeichen der Beschneidung empfingen sie den ersten Zugang zur
Gottesverehrung, durch andere Sakramente wurden sie zur Stärkung ihres Glaubens geübt. Es besteht
kein Zweifel, daß die Lobsprüche, mit denen der Herr die Kirche geehrt hat, auf ihre Gemeinschaft
Anwendung fanden. Nachdem sie aber das Gesetz des Herrn verlassen hatten und daraufhin zu
Abgötterei und Aberglauben entartet waren, geriet ihnen jenes Vorrecht teilweise in Verlust. Denn
wer würde es wagen, denen den Titel "Kirche" zu entreißen, denen Gott die Predigt seines
Wortes und die Beobachtung seiner Sakramente in Bewahrung gegeben hat? Auf der anderen Seite: wer
möchte es wagen, eine Versammlung ohne jede Ausnahme als Kirche anzusprechen, in der man Gottes
Wort öffentlich und ungestraft mit Füßen tritt, eine Versammlung, in der sein Dienstamt, das doch
der Hauptkraftträger und geradezu die Seele der Kirche ist, der Zerstörung anheimfällt?
IV,2,8 Wieso nun – möchte vielleicht jemand sagen -, war denn bei den
Judäern, seitdem sie zur Abgötterei abgefallen waren, kein Stücklein Kirche mehr übrig? Da ist
die Antwort leicht zu geben. Zunächst behaupte ich, daß es bei dem Abfall selber bestimmte Stufen
gegeben hat. Denn wir werden nicht sagen können, daß der Abfall Judas und Israels zu der Zeit, als
sie beide zum ersten Male von der reinen Verehrung Gottes abwichen, derselbe gewesen wäre. Als
Jerobeam gegen Gottes klares Verbot die Kälber machte und eine unerlaubte Stätte zu ihrer
Verehrung weihte, da hat er die Gottesverehrung voll und ganz verdorben. Die Judäer haben sich
zunächst mit gottlosen und abergläubischen Gebräuchen befleckt, bevor sie auch in der
äußerlichen Form der Gottesverehrung den gesetzten Zustand übel veränderten. Gewiß hatten sie
nämlich unter Rehabeam bereits allgemein vielerlei verkehrte Zeremonien eingeführt; aber trotzdem
blieben in Jerusalem die Lehre des Gesetzes und das Priestertum, dazu auch die gottesdienstlichen
Gebräuche, wie sie Gott eingerichtet hatte, bestehen, und deshalb fanden die Frommen dort (immer
noch) einen erträglichen Zustand der Kirche vor. Bei den Israeliten wurden bis zur Regierung des
Ahab die Verhältnisse keineswegs wieder in ihren besseren Stand zurückversetzt, ja, zu Ahabs
Zeiten sind sie gar noch in einen schlimmeren Zustand versunken. Die Könige, die hernach, bis zum
Untergang des Königtums, folgten, waren teils dem Ahab ähnlich, teils, wenn sie etwas besser sein
wollten, folgten sie dem Beispiel des Jerobeam; alle ohne Ausnahme aber waren Gottlose und
Götzendiener. In Judäa trugen sich je und dann vielfältige Veränderungen zu, da einige von den
Königen die Verehrung Gottes mit falschen und ersonnenen abergläubischen Gebräuchen verkehrten,
die anderen aber die zerrüttete Religion wieder aufrichteten – bis dann auch die Priester selber
den Tempel Gottes mit unheiligen und abscheulichen Gebräuchen besudelten.
IV,2,9 Wohlan nun, jetzt sollen die Papisten, wenn sie es fertig bringen,
bestreiten, daß der Zustand der Gottesverehrung – so sehr sie auch ihre Laster abschwächen mögen
- bei ihnen ebenso verkommen und verdorben ist, wie er es im Reiche Israel unter Jerobeam war. Dabei
aber ist die Abgötterei, die bei ihnen besteht, gröber, und auch in der Lehre sind sie um kein
einziges Tröpflein reiner, wenn sie nicht gar auch hierin noch unsauberer sind als die Israeliten
einst. Gott, ja, überhaupt jeder, der mit einigem Urteilsvermögen begabt ist, wird mir dafür
Zeuge sein, und der Tatbestand selbst macht auch deutlich, wie rein gar nichts ich hier übertreibe.
Wenn sie uns nun zur Gemeinschaft mit ihrer Kirche nötigen wollen, so fordern sie zweierlei von
uns: erstens sollen wir an all ihren Gebeten, heiligen Handlungen und Zeremonien teilnehmen,
zweitens sollen wir alles, was Christus seiner Kirche an Ehre, Macht und Gerichtsgewalt zuerteilt
hat, auf ihre Kirche übertragen. (1) Was das erste betrifft, so gebe ich zu, daß alle Propheten,
die in Jerusalem waren, weder für sich allein geopfert noch von den anderen abgesonderte
Versammlungen zum Beten gehalten haben, obwohl damals die Zustände dort ganz und gar verkommen
waren. Denn sie hatten Gottes Gebot, kraft dessen ihnen befohlen war, beim Tempel des Salomo
zusammenzukommen, und sie hatten auch die levitischen Priester; diese waren von dem Herrn als
Vorsteher bei den heiligen Handlungen verordnet (Ex. 29,9) und, so unwürdig sie dieser Ehre auch
sein mochten, noch nicht abgesetzt worden, und deshalb wußten die Propheten von ihnen, daß sie
jenen Platz noch nicht mit Recht innehatten. Und dann, was die Hauptsache bei der ganzen Frage ist:
sie wurden zu keiner abergläubischen Gottesverehrung gezwungen, ja, sie nahmen nichts an, was nicht
von Gott eingerichtet gewesen wäre. Aber was findet sich bei diesen Leuten, ich meine: bei den
Papisten, Ähnliches? Denn wir können mit ihnen kaum irgendeine Versammlung gemeinsam haben, in der
wir uns nicht mit offener Abgötterei befleckten. Unzweifelhaft besteht doch das wichtigste Band
ihrer Gemeinschaft in der Messe, die wir als die furchtbarste Heiligtumsschändung verabscheuen. Ob
wir das nun mit Recht oder ohne Grund tun, das werden wir an anderer Stelle sehen. Für jetzt ist es
genug, wenn ich zeige, daß unsere Sache in diesem Stück eine andere ist, als es die der Propheten
war, die, wenn sie auch an den heiligen Handlungen der Gottlosen teilnahmen, trotzdem nicht
gezwungen wurden, andere Zeremonien anzusehen oder zu üben, als die von Gott verordneten. Wollen
wir nun ein in allen Stücken ähnliches Beispiel haben, so wollen wir es aus dem Reich Israel
nehmen. Auf Grund der Einrichtung des Jerobeam blieb dort die Beschneidung bestehen, auch geschahen
Opfer, das Gesetz wurde heilig gehalten, und es wurde der Gott angerufen, den man von den Vätern
empfangen hatte;aber wegen der selbsterdachten und verbotenen Kultgebräuche wurde alles, was in
Israel geschah, von Gott mißbilligt und verdammt (1. Kön. 12,31). Nun soll man mir aber einen
einzigen Propheten oder auch nur irgendeinen frommen Mann nennen, der einmal in Bethel angebetet
oder ein Opfer dargebracht hätte! Denn sie wußten eben, daß sie das nicht tun könnten, ohne sich
dadurch mit irgendwelcher Heiligtumsschändung zu beflecken. Es ergibt sich also für uns: die
Gemeinschaft der Kirche gilt bei den Frommen nicht soviel, daß man sich ihr, sofern sie zu
unheiligen und befleckten Gebräuchen entartet, gleich anschließen müßte.
IV,2,10 (2) Was nun aber die zweite Forderung der Papisten betrifft, so
widersetzen wir uns da noch heftiger. Denn wenn man die Kirche dergestalt betrachtet, kann man ihr
Urteil ehrerbietig annehmen, ihre Autorität anerkennen, ihren Ermahnungen gehorchen, daß man sich
von ihren Züchtigungen bewegen lassen und die Gemeinschaft mit ihr in allen Dingen ehrfürchtig
aufrechterhalten soll, so können wir den Papisten nicht zugeben, daß sie Kirche sind, ohne uns
notwendig zugleich der Verpflichtung zu Unterwerfung und Gehorsam zu unterziehen. Wir wollen ihnen
gern zugestehen, was die Propheten den Judäern und Israeliten ihrer Zeit gewährt haben, als die
Dinge dort in gleichem oder gar in besserem Zustande waren. Wir gewahren aber, wie sie immer wieder
laut erklären, daß (in ihrem Volk) die Versammlungen etwas Unheiliges waren (Jes. 1,14) und daß
man mit ihnen ebensowenig übereinstimmen dürfe, wie man Gott verleugnen darf. Und wahrhaftig, wenn
das Kirchen waren, so ergibt sich, daß diese Männer von der Kirche Gottes abgesondert waren, also
in Israel Elia, Micha und andere, in Juda aber Jesaja, Jeremia, Hosea und andere dieser Art, diese
Männer, die von den Propheten, den Priestern und dem Volke ihrer Zeit schlimmer gehaßt und
verflucht wurden als irgendwelche Unbeschnittene. Wenn das Kirchen waren, so ist die Kirche also
nicht "ein Pfeiler der Wahrheit" (1. Tim. 3,15), sondern eine Feste der Lüge, nicht ein Zelt
des lebendigen Gottes, sondern eine Behausung der Götzen! Die Propheten hielten es also für
erforderlich, sich von der Übereinstimmung mit den Versammlungen solcher Leute abzusondern; denn
diese war ja nichts anderes als eine ruchlose Verschwörung gegen Gott. Aus dem gleichen Grunde wird
der in einem schweren Irrtum sein, der die gegenwärtigen Versammlungen, die mit Abgötterei,
Aberglauben und gottloser Lehre besudelt sind, als Kirchen anerkennt, in deren voller Gemeinschaft
ein Christenmensch verharren müßte, und zwar gar soweit, daß er mit ihrer Lehre in Eintracht
lebte. Denn wenn es Kirchen sind, so haben sie auch die Schlüsselgewalt inne; die Schlüssel aber
haben einen unlöslichen Zusammenhang mit dem Worte, das doch in diesen Versammlungen
niedergeschlagen ist. Ferner: wenn es Kirchen sind, so hat bei ihnen Christi Verheißung
Gültigkeit: "Was ihr binden werdet ..." (Matth. 16,19; 18,18; Joh. 20,23). Tatsächlich aber
stoßen sie aus ihrer Gemeinschaft alle aus, die sich ohne Heuchelei als Knechte Christi bekennen.
Folglich ist also entweder die Verheißung Christi ohne Inhalt, oder aber sie sind, wenigstens in
dieser Hinsicht, keine Kirchen! Schließlich haben sie an Stelle des Dienstes am Wort Schulen der
Gottlosigkeit und einen Pfuhl von Irrtümern aller Art. Daraus ergibt sich: entweder sind sie im
Sinne unserer Beweisführung keine Kirchen – oder aber es wird kein Merkzeichen übrigbleiben, an
dem man die rechtmäßigen Versammlungen der Gläubigen von den Zusammenkünften der Türken
unterscheiden kann.
IV,2,11 Trotzdem – wie einst unter den Juden einzelne besondere Vorrechte der
Kirche übrig waren, so sprechen wir auch heute den Papisten nicht ab, was der Herr unter ihnen als
Spuren der Kirche aus der Zerrüttung hat übrigbleiben lassen wollen. Mit den Juden hatte Gott
einmal seinen Bund geschlossen, und dieserbehielt seinen Bestand mehr dadurch, daß er, auf seine
eigene Festigkeit gestützt, gegen ihre Gottlosigkeit die Oberhand gewann, als daß er etwa von
ihnen bewahrt worden wäre. Der Bund des Herrn ist also bei ihnen um der Sicherheit und
Beständigkeit der göttlichen Güte willen verblieben; ihre Treulosigkeit konnte seine Treue nicht
auslöschen, und auch die Beschneidung konnte durch ihre unreinen Hände nicht dermaßen
verunheiligt werden, daß sie nicht zugleich auch ein wahrhaftiges Zeichen und Sakrament jenes
Bundes Gottes gewesen wäre. Deshalb nannte der Herr auch die Kinder, die ihnen geboren wurden,
seine Kinder (Ez. 16,20f.), und dabei konnten sie doch nur durch seine besondere Segnung etwas mit
ihm zu tun haben! So hat er seinen Bund auch (den Menschen) in Frankreich, Italien, Deutschland,
Spanien und England in Bewahrung gegeben; damit nun dieser sein Bund, nachdem diese Gebiete unter
die Bedrückung durch die Tyrannei des Antichrists geraten waren, trotzdem unverletzlich seinen
Bestand behielt, so hat Gott daselbst erstens die Taufe erhalten, die das Zeugnis seines Bundes ist
und die, mit seinem eigenen Munde geheiligt, trotz aller menschlichen Gottlosigkeit ihre Kraft
behält, zweitens hat er es durch seine Vorsehung bewirkt, daß auch andere Überreste bestehen
blieben, damit die Kirche nicht ganz und gar unterginge. Oft werden ja Bauwerke so niedergerissen,
daß doch Fundamente und Ruinen übrigbleiben. Ebenso hat es Gott nicht geduldet, daß seine Kirche
durch den Antichrist vom Fundament her umgestürzt oder dem Erdboden gleichgemacht wurde. Freilich
hat er es zur Strafe für die Undankbarkeit der Menschen, die sein Wort verachtet hatten,
zugelassen, daß eine furchtbare Zerstörung und Zerrüttung geschehen ist. Aber er hat doch
gewollt, daß auch aus der Verwüstung noch ein halbeingestürztes Bauwerk übrigblieb.
IV,2,12 Obgleich wir also den Papisten den Namen "Kirche" nicht rundweg
zugestehen wollen, so leugnen wir deshalb doch nicht, daß es bei ihnen Kirchen gibt, sondern wir
streiten mit ihnen allein über die wahre und rechtmäßige Gestaltung der Kirche, die sich
einerseits in der Gemeinschaft an den Sakramenten findet, die die Zeichen des Bekenntnisses sind,
andererseits aber vor allem in der Gemeinschaft der Lehre. Daniel (Dan. 9,27) und Paulus (2. Thess.
2,4) haben vorausgesagt, daß der Antichrist in Gottes Tempel sitzen werde; als Anführer und
Vorkämpfer dieses frevlerischen und abscheulichen Reiches bei uns betrachten wir den Papst zu Rom.
Damit, daß der Sitz des Antichrists in Gottes Tempel seinen Platz angewiesen erhält, wird
angedeutet, daß sein Reich von der Art sein wird, daß es weder Christi noch der Kirche Namen
abschafft. Daraus ergibt sich also deutlich, daß wir in keiner Weise leugnen, daß auch unter
seiner Tyrannei Kirchen bleiben. Aber das sind eben Kirchen, die er mit seiner frevlerischen
Gottlosigkeit entheiligt, mit seiner grausamen Herrschaft bedrückt, die er mit bösen,
verderblichen Lehren wie mit giftigen Tränklein verdorben und beinahe ertötet hat, das sind
Kirchen, in denen Christus halb begraben verborgen liegt, das Evangelium erdrückt, die Frömmigkeit
vertrieben und die Verehrung Gottes nahezu abgeschafft ist, kurz, das sind Kirchen, in denen alles
dermaßen verwirrt ist, daß darin eher das Aussehen Babels als das der heiligen Stadt Gottes zutage
tritt. Kurzum, ich sage, daß hier Kirchen sind, sofern der Herr darin die Überbleibsel seines
Volkes, wie jämmerlich zerstreut und auseinandergetrieben sie auch sein mögen, auf wundersame
Weise bewahrt; Kirchen sind hier, sofern noch einige Merkzeichen der Kirche bestehen bleiben, und
zwar vor allem die, deren Wirkkraft weder die Verschlagenheit des Teufels noch die Bosheit der
Menschen zu zerstören vermag. Aber weil in diesen Versammlungen auf der anderen Seite die
Kennzeichen ausgetilgt sind, auf die man bei dieser Erörterung vor allem schauen muß, so behaupte
ich, daß sowohl die einzelnen Versammlungen, als auch der ganze Leib der rechtmäßigen Gestalt der
Kirche ermangeln.
Von den Lehrern und Dienern der Kirche, ihrer Erwählung und ihrer Amtspflicht
IV,3,1 Jetzt müssen wir über die Ordnung sprechen, in der die Kirche nach
dem Willen des Herrn regiert werden soll. Allerdings soll in der Kirche er allein regieren und
herrschen, er allein soll in ihr auch die Führung und den höchsten Platz innehaben und diese
Herrschgewalt allein durch sein Wort ausüben und walten lassen. Aber er wohnt ja nicht in
sichtbarer Gegenwärtigkeit unter uns (Matth. 26,11), um uns seinen Willen in eigener Person
mündlich zu eröffnen, und deshalb gebraucht er dabei, wie ich bereits ausführte, den Dienst und
gleichsam die vertretungsweise Tätigkeit von Menschen. Das tut er freilich nicht, um sein Recht und
seine Ehre auf sie zu übertragen, sondern nur, um durch ihren Mund selbst sein Werk zu tun, wie
auch ein Handwerker zur Verrichtung seiner Arbeit ein Werkzeug verwendet. Ich bin nun genötigt,
abermals zu wiederholen, was ich bereits oben auseinandergesetzt habe. Gott könnte dies sein Werk
zwar auch rein aus sich selber, ohne jedes andere Hilfsmittel oder Werkzeug tun, könnte es ebenso
auch durch die Engel verrichten; aber es gibt eine ganze Anzahl von Ursachen, weshalb er es lieber
durch Menschen tut. (1) Denn zunächst legt er damit dar, wie lieb und wert wir ihm sein sollen, und
zwar auf die Weise, daß er aus den Menschen solche herausnimmt, die für ihn in der Welt den
Botendienst tun, seines verborgenen Willens Künder sein, ja, die kurzum seine Person darstellen
sollen. So beweist er auch durch die Erfahrung, daß es nicht ohne Belang ist, wenn er uns je und
dann seine "Tempel" nennt (1. Kor. 3,16f.; 6,19; 2. Kor. 6,16), da er ja aus dem Mund von
Menschen heraus, wie aus seinem Heiligtum, mit den Menschen redet (vergleiche Augustin, Von der
christlichen Unterweisung IV,27,59). (2) Und ferner: es ist eine sehr gute und höchst nutzbringende
Übung zur Demut, wenn er uns daran gewöhnt, seinem Worte zu gehorchen, ob es auch durch Menschen
gepredigt wird, die uns gleich sind, ja, die uns zuweilen auch an Würde nachstehen. Wenn er selber
vom Himmel herab redete, dann wäre es kein Wunder, wenn seine heiligen Kundgebungen ohne Verzug von
aller Ohr und Herz in Ehrfurcht angenommen würden. Denn wer wollte sich vor seiner gegenwärtigen
Macht nicht fürchten? Wer sollte nicht beim ersten Anblick so gewaltiger Majestät zu Boden
geworfen werden? Wer würde von solch unermeßlichem Glanz nicht aus der Fassung gebracht werden? Wo
aber irgendein Menschlein, das aus dem Staube hervorgegangen ist, in Gottes Namen redet, da beweisen
wir unsere Frömmigkeit und Ehrerbietung gegen Gott selber mit einem besonderen Zeugnis, wenn wir
uns seinem Diener gelehrig erweisen, obwohl er doch in keiner Hinsicht höher steht als wir. Aus
diesem Grunde verbirgt er daher auch den Schatz seiner himmlischen Weisheit in zerbrechlichen,
irdenen Gefäßen (2. Kor. 4,7): er will eben einen um so gewisseren Beweis dafür empfangen, wie
hoch wir ihn achten. (3) Und dann: zur Aufrechterhaltung der gegenseitigen Liebe war nichts
geeigneter, als die Menschen durch das Band miteinander zusammenzufassen, daß einer zum Hirten
eingesetzt wird, um die anderen zusammen zu unterweisen, die anderen aber, denen befohlen wird,
Jünger zu sein, aus einem Munde die gemeinsame Unterweisung empfangen. Denn wenn sich jeder selbst
genügte und keiner den Dienst eines anderen nötig hätte, dann würde bei der Hoffart unseres
menschlichen Wesens jeder die anderen verachten und wiederum von den anderen verachtet werden. Der
Herr hat also seine Kirche mit dem Band zusammengefaßt, von dem er zuvor gesehen hat, daß es die
größte Festigkeit haben würde, um die Einheit aufrechtzuerhalten, indem er nämlich die Lehre des
Heils und des ewigen Lebens Menschen zur Bewahrung übergeben hat, um sie durch ihre Hand den
anderen mitzuteilen. Darauf hatte Paulus sein Augenmerk gerichtet, als er an die Epheser schrieb:
"Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid auf einerlei Hoffnung eurer Berufung; ein Herr,
ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der da ist über allem und durch alles und in uns
allen. Einem jeglichen aber unter uns ist gegeben die Gnade nach dem Maß der Gabe Christi" (Eph.
4,4-7; nicht ganz Luthertext). "Darum heißt es: ‘Er ist aufgefahren in die Höhe und hat das
Gefängnis gefangen geführt und hat den Menschen Gaben gegeben’ ... Der hinuntergefahren ist, das
ist derselbe, der aufgefahren ist über alle Himmel, auf daß er alles erfüllte. Und er hat etliche
zu Aposteln gesetzt, etliche aber zu Propheten, etliche zu Evangelisten, etliche zu Hirten und
Lehrern, daß die Heiligen zugerichtet werden zum Werk des Dienstes, dadurch der Leib Christi erbaut
werde, bis daß wir alle hinankommen zu einerlei Glauben und Erkenntnis des Sohnes Gottes und ein
vollkommener Mann werden, der da sei im Maße des vollkommenen Alters ..., auf daß wir nicht mehr
Kinder seien und uns bewegen und wiegen lassen von allerlei Wind der Lehre ... Lasset uns aber
rechtschaffen sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken an dem, der das Haupt ist, Christus,
von welchem aus der ganze Leib zusammengefügt ist und ein Glied am andern hanget durch alle
Gelenke, dadurch eins dem andern Handreichung tut nach dem Werk eines jeglichen Gliedes in seinem
Maße und macht, daß der ganze Leib wächst zu seiner selbst Auferbauung, und das alles in der
Liebe" (Eph. 4,8.10-16; fast ganz Luthertext).
IV,3,2 Mit diesen Worten zeigt der Apostel zunächst, daß der Dienst von
Menschen, den Gott zur Regierung seiner Kirche benutzt, das wichtigste Band ist, durch das die
Gläubigen in einem Leibe zusammengehalten werden. Dann legt er ferner auch dar, daß die Kirche
nicht anders unversehrt bewahrt bleiben kann, als wenn sie durch diese Mittel gestützt wird, welche
der Herr nach seinem Wohlgefallen zu ihrer Erhaltung eingerichtet hat. Er sagt: "Christus ist
aufgefahren in die Höhe, auf daß er alles erfüllte" (Eph. 4,10; nicht Luthertext). Dieses "Erfüllen"
geschieht aber auf die Weise, daß er durch die Diener, denen er diese Amtspflicht aufgetragen und
die Gnade zur Verrichtung dieses Dienstes gewährt hat, seine Gaben an die Kirche ausspendet und
verteilt und sich so selber gewissermaßen als gegenwärtig erweist, indem er die Kraft seines
Heiligen Geistes in dieser seiner Einsetzung zur Wirkung bringt, damit sie nicht eitel oder
fruchtlos sei. So werden "die Heiligen zugerichtet", so wird "der Leib Christi erbaut" (Eph.
4,12), so "wachsen wir in allen Stücken an dem, der das Haupt ist" (Vers 15), so fügen wir uns
auch untereinander zusammen (Vers 16) und werden wir alle zur Einheit Christi gebracht, wenn
nämlich unter uns das Prophetenamt in Kraft steht, wenn wir die "Apostel" annehmen und die
Lehre, die uns durch solchen Dienst zukommt, nicht verachten. Jeder also, der diese Ordnung, um die
es in unserer Erörterung geht, und diese Art des Regiments abzuschaffen begehrt oder sie
verkleinert, als sei sie weniger notwendig, der bemüht sich tatsächlich um die Zerstreuung oder
lieber um den Zerfall oder den Untergang der Kirche. Denn weder das Licht und die Wärme der Sonne
noch auch Speis und Trank sind zur Ernährung und Erhaltung des gegenwärtigen Lebens so notwendig
wie das Amt der Apostel und Hirten zur Bewahrung der Kirche auf Erden.
IV,3,3 Deshalb habe ich oben daran erinnert, daß uns Gott die würde dieses
Amtes oft mit allen nur möglichen Lobsprüchen gepriesen hat, damit es bei uns in höchster Ehre
und Wertschätzung stehe, gleichsam als das kostbarste von allen Dingen. Er gibt dem Propheten die
Weisung zu dem Ausruf, "lieblich" seien die "Füße" und glückselig sei das Kommen "der
Boten, die da Frieden verkündigen" (Jes. 52,7), er nennt die Apostel "das Licht der Welt" und
"das Salz der Erde" (Matth. 5,13f.), und damit bezeugt er, daß er den Menschen eine
einzigartige Wohltat zukommen läßt, indem er ihnen Lehrer erweckt. Auch hätte er dies Amt gar
nicht leuchtender zieren können, als indem er sprach: "Wer euch hört, der hört mich; und wer
euch verachtet, der verachtet mich" (Luk. 10,16). Aber die herrlichste Stelle von allen findet
sich bei Paulus im zweiten Korintherbrief, wo er diese Frage gleichsam als Thema behandelt. Da
behauptet er also, daß es in der Kirche nichts Vortrefflicheres und Herrlicheres gibt, als das Amt
des Evangeliums, weil es ja das Amt des Geistes (2. Kor. 3,8), der "Gerechtigkeit" (2. Kor. 3,9)
und des ewigen Lebens ist (zum Ganzen noch 2. Kor. 4,6). Diese Worte und ähnliche haben den Zweck,
daß jene Art und Weise, die Kirche durch die Diener zu regieren und zu erhalten, die der Herr für
alle Zeit gestiftet hat, bei uns nicht in Verachtung gerate und schließlich durch Geringschätzung
in Abgang komme. Wie notwendig dies Amt nun ist, das hat uns der Herr nicht allein mit Worten,
sondern auch an Beispielen gezeigt. Als er den Cornelius mit dem Lichte seiner Wahrheit reichlicher
anstrahlen wollte, da sandte er einen Engel vom Himmel, der ihn zu Petrus weisen sollte (Apg.
10,3-6). Als er den Paulus zu seiner Erkenntnis berufen und in die Kirche einfügen wollte, da
redete er ihn zwar mit eigener Stimme an, aber er schickte ihn doch zu einem Menschen, damit er von
ihm die Lehre des Heils und die Heiligung der Taufe empfing (Apg. 9,6)! Es geschieht doch sicher
nicht ohne Grund, daß der Engel, der Gottes Bote ist, selbst davon Abstand nimmt, Gottes Willen
kundzumachen, sondern (dem Cornelius) die Weisung gibt, einen Menschen herbeizurufen, damit dieser
ihn bekanntgebe; es geschieht nicht ohne Grund, daß Christus, der einige Lehrmeister der
Gläubigen, den Paulus dem Lehramt eines Menschen anvertraut – den Paulus, den er doch in den
dritten Himmel zu "entzücken" und der Offenbarung unaussprechlicher Dinge zu würdigen
beschlossen hatte (2. Kor. 12,2-4)! Wenn es so steht – wer will es dann jetzt wagen, jenes Dienstamt
zu verachten oder als überflüssig zu übergehen, das Gott mit solchen Beweisen hat bezeugen
wollen?
IV,3,4 Als solche, die nach der Einsetzung Christi dem Kirchenregiment
vorstehen, verzeichnet Paulus zunächst die "Apostel", dann die "Propheten", drittens die
"Evangelisten", viertens die "Hirten" und schließlich die "Lehrer" (Eph. 4,11). Unter
diesen haben bloß die beiden letzten ein regelmäßiges Amt in der Kirche; die anderen drei hat der
Herr im Beginn seines Reiches erweckt, und er erweckt sie auch sonst zuweilen, je nachdem es die
Notdurft der Zeiten erfordert. Was die Amtsaufgabe der Apostel ist, ergibt sich deutlich aus der
Anweisung: "Gehet hin ... und prediget das Evangelium aller Kreatur" (Mark. 16,15). Ihnen werden
keine bestimmten Gebiete zugeordnet, sondern sie bekommen den ganzen Erdkreis zugewiesen, um ihn zum
Gehorsam gegen Christus zu bringen: sie sollen das Evangelium bei allen Völkern ausstreuen, bei
denen sie es zu tun vermögen, und allenthalben Christi Reich aufrichten. So bezeugt es daher auch
Paulus; er will sein Apostelamt bekräftigen, und dazu erinnert er daran, daß er Christus nicht
irgendeine einzelne Stadt erworben, sondern das Evangelium weit und breit bekanntgemacht hat, auch
daß er "nicht auf einen fremden Grund gebaut", sondern vielmehr dort Kirchen gepflanzt hat, "wo
des Herrn Name nicht bekannt war" (Röm. 15,19. 20). Die Apostel wurden also ausgesandt, um den
Erdkreis aus seinem Abfall zum wahren Gehorsam gegen Gott zurückzuführen und um Gottes Reich
allenthalben durch die Predigt des Evangeliums aufzurichten oder auch, wenn man lieber will, um
gleichsam als die ersten Baumeister der Kirche in der ganzen Welt ihre Fundamente zu legen (1. Kor.
3,10). "Propheten" nennt der Apostel (Eph. 4,11) nicht jegliche Künder des Willens Gottes,
sondern solche, die sich durch eine besondere Offenbarung auszeichneten. Derartige Menschen gibt es
heutzutage entweder keine, oder aber sie sind weniger sichtbar. Unter "Evangelisten" verstehe
ich solche, die den Aposteln zwar an Würde nachstanden, aber nach ihrer Amtsverpflichtung sehr nahe
an sie herankamen und gar an ihrer Statt wirkten. Von dieser Art waren Lukas, Timotheus, Titus und
andere dergleichen, dazu vielleicht auch die siebzig Jünger, die Christus an zweiter Stelle nach
den Aposteln bestimmte (Luk. 10,1). Zufolge dieser Deutung, die mir sowohl den Worten als auch der
Meinung des Paulus zu entsprechen scheint, waren diese drei Amtsaufgaben in der Kirche nicht
dergestalt eingerichtet, daß sie bleibend sein sollten, sondern sie sollten nur für die Zeit
dasein, in der es galt, Kirchen aufzurichten, wo zuvor keine gewesen waren, oder aber Kirchen von
Mose zu Christus herüberzuführen. Allerdings bestreite ich nicht, daß Gott auch nachher noch
zuweilen Apostel oder wenigstens an ihrer Stelle Evangelisten erweckt hat, wie das ja zu unserer
Zeit geschehen ist. Denn es bedurfte solcher Männer, um die Kirche von dem Abfall des Antichrists
zurückzubringen. Das Amt selber bezeichne ich trotzdem als "außerordentlich", weil es in
regelrecht eingerichteten Kirchen keinen Platz hat. Dann folgen die "Hirten" und "Lehrer",
ohne die die Kirche zu keiner Zeit sein kann. Der Unterschied zwischen ihnen besteht meines
Erachtens darin, daß die "Lehrer" weder bei der Übung der Zucht noch bei der Verwaltung der
Sakramente, noch bei den Vermahnungen und Ermunterungen die Leitung haben, sondern allein bei der
Auslegung der Schrift, damit die lautere und gesunde Lehre unter den Gläubigen erhalten bleibt. Das
Amt der "Hirten" dagegen begreift dies alles in sich.
IV,3,5 Jetzt sind wir uns darüber klar, welche Ämter im Kirchenregiment mit
zeitlich begrenzter Gültigkeit bestanden haben und welche dazu eingerichtet sind, immerfort
bestehen zu bleiben, wenn wir nun die Evangelisten mit den Aposteln verbinden, so bleiben uns je
zwei gleichartige Ämter übrig, die sich untereinander gewissermaßen entsprechen. Denn die gleiche
Ähnlichkeit, die unsere (heutigen) Lehrer mit den früheren Propheten haben, besteht auch zwischen
den Hirten (Pastoren) und den Aposteln. Das Amt der Propheten war hervorragender (als das unserer
Lehrer), und zwar wegen der besonderen Gabe der Offenbarung, die den Propheten zuteil geworden war.
Aber das Amt der Lehrer hat doch fast die gleiche Art und durchaus den gleichen Zweck. Ebenso hatten
auch jene Zwölf, die der Herr auserwählte, um die neue Predigt des Evangeliums der Welt
bekanntzumachen, an Rang und würde einen höheren Platz als die übrigen (Luk. 6,13; Gal. 1,1).
Allerdings können auf Grund der Bedeutung und der sprachlichen Wurzel des Wortes alle Diener der
Kirche regelrecht als "Apostel" bezeichnet werden; denn sie werden ja alle von dem Herrn
ausgesandt und sind seine Boten. Aber weil eben doch viel darauf ankam, daß man von der Sendung
derer, die eine solch neue, unerhörte Sache vorbringen sollten, eine sichere Kenntnis hatte, so war
es nötig, daß jene Zwölf, zu deren Zahl später noch Paulus hinzukam, vor allen anderen mit einem
besonderen Titel ausgezeichnet wurden. Freilich gibt Paulus selbst diesen Namen an einer Stelle
(Röm. 16,7) dem Andronikus und dem Junias, von denen er sagt, sie seien unter den Aposteln "berühmt"
gewesen, wenn er aber im eigentlichen Sinne sprechen will, dann bezieht er diesen Namen ("Apostel")
allein auf den ursprünglichen Rang. Das ist auch der allgemeine Gebrauch der Schrift (Matth.
10,1).Trotzdem (d.h. trotz der unübertragbaren Besonderheit der Apostel) haben die Hirten
(Pastoren) die gleiche Amtsaufgabe wie die Apostel – nur daß jeder einzelne von ihnen eine
bestimmte, ihm zugewiesene Kirche leitet, wie die Amtsaufgabe der Pastoren nun beschaffen ist, das
wollen wir noch deutlicher hören.
IV,3,6 Als der Herr die Apostel aussandte, da gab er ihnen, wie ich bereits
vor kurzem ausführte, die Weisung, das Evangelium zu predigen und diejenigen, die da glaubten, zur
Vergebung der Sünden zu taufen (Matth. 28,19). Zuvor aber hatte er ihnen aufgetragen, die heiligen
Merkzeichen seines Leibes und Blutes nach seinem Beispiel auszuteilen (Luk. 22,19). Siehe, da haben
wir nun ein heiliges, unverletzliches und bleibendes Gesetz vor uns, das denen auferlegt ist, die
den Aposteln auf ihrem Platz nachfolgen, ein Gesetz, kraft dessen sie den Auftrag erhalten, das
Evangelium zu predigen und die Sakramente zu verwalten. Daraus ergibt sich für uns, daß
diejenigen, die diese beiden Aufgaben vernachlässigen, sich zu Unrecht als Träger des Amtes der
Apostel ausgeben. Wie steht es nun aber um die Hirten (Pastoren)? Paulus spricht nicht nur von sich
selber, sondern von ihnen allen, wenn er sagt: "Dafür halte uns jedermann: für Christi Diener
und Haushalter über Gottes Geheimnisse" (1. Kor. 4,1). Ebenso an anderer Stelle: "Ein Bischof
soll sich an das zuverlässige Wort halten, das der Lehre gemäß ist, auf daß er mächtig sei, zu
ermahnen durch die heilsame Lehre und zu strafen die Widersprecher" (Tit. 1,9; erste Hälfte nicht
Luthertext). Aus diesen und ähnlichen Stellen, die uns immer wieder begegnen, läßt sich
entnehmen, daß auch die Amtsaufgabe der Pastoren vornehmlich in diesen beiden Stücken besteht: das
Evangelium zu verkündigen und die Sakramente zu verwalten. Die Unterweisung geschieht nun aber
nicht allein in öffentlichen Predigten, sondern sie erstreckt sich auch auf persönliche
Ermahnungen. So zieht Paulus die Epheser als Zeugen dafür heran, daß er ihnen nichts vorenthalten
habe, das ihnen nützlich war, sondern daß er es ihnen verkündigt, sie öffentlich und hin und her
in den einzelnen Häusern gelehrt und "beiden, den Juden und Griechen", bezeugt hat "die Buße
... und den Glauben an ... Christus" (Apg. 20,20f.). Ebenso fordert er sie kurz danach zu Zeugen
dafür auf, daß er nicht "abgelassen" hat, "einen jeglichen" von ihnen "mit Tränen zu
vermahnen" (Apg. 20,31). Es gehört aber nicht zu der uns jetzt beschäftigenden Aufgabe, die
einzelnen Gaben eines guten "Hirten" durchzugehen, sondern nur, zu zeigen, zu was für einer
Tätigkeit sich eigentlich die, die sich "Hirten" nennen, bereit erklären, nämlich dazu, ihr
Vorsteheramt in der Kirche so zu üben, daß sie nicht etwa eine müßige Würde innehaben, sondern
mit der Lehre von Christus das Volk zu wahrer Frömmigkeit unterweisen, die heiligen Sakramente
verwalten und die rechte Zucht bewahren und üben. Denn allen, die in der Kirche zu Wächtern
gesetzt sind, kündigt der Herr an, er werde, wenn einer durch ihre Nachlässigkeit in seiner
Unwissenheit zugrunde gehe, sein Blut von ihren eigenen Händen fordern (Ez. 3,17f.). Auf sie alle
bezieht sich auch, was Paulus von sich sagt: "Wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht predigte, wo
mir seine Austeilung doch anbefohlen ist!" (1. Kor. 9,16f.; Vers 17 nicht Luthertext). Kurzum, was
die Apostel an dem ganzen Erdkreis geleistet haben, das soll jeder einzelne Hirt (Pastor) an seiner
Herde tun, der er zugeordnet ist!
IV,3,7 Wenn wir den einzelnen Hirten (Pastoren) ihre besonderen Kirchen
zuweisen, so leugnen wir freilich unterdessen nicht, daß der, der an eine Kirche gebunden ist, auch
anderen Kirchen Beistand leisten kann, sei es, daß irgendwelche Wirrnisse vorkommen, die seine
Anwesenheit erfordern, oder sei es auch, daß man in irgendeiner dunklen Frage seinen Rat erbittet.
Aber zur Erhaltung des Friedens der Kirche ist jene Ordnung vonnöten, daß jeder klar umschrieben
bekommt, was er zu tun hat: es sollen doch nicht alle miteinander unruhig daherstürmen, ohne
Berufung unsicher hin und her laufen, auch nicht alle auf gut Glück an einem Ort zusammenströmen,
auch sollen die, die mehr um ihr Wohlsein als um die Erbauung der Kirche besorgt sind, die Kirchen
nicht nach ihrem Vergnügen im Stich lassen! Deshalb muß nach Möglichkeit allgemein an der
Einteilung festgehalten werden, daß sich jeder mit seinen Grenzen begnügen und nicht in ein
fremdes Gebiet einbrechen soll. Das ist auch kein Menschensündlein, sondern Gott hat es selber so
eingerichtet. Denn wir lesen doch, daß Paulus und Barnabas in den einzelnen Kirchen zu Lystra,
Antiochia und Ikonium Älteste eingesetzt haben (Apg. 14,22f.), und Paulus selber weist den Titus
an, er solle "die Städte hin und her mit Ältesten besetzen" (Tit. 1,5). So erwähnt er auch an
anderer Stelle die Bischöfe der Philipper (Phil. 1,1) und wieder an anderer Stelle den Archippus,
den Bischof der Kolosser (Kol. 4,17). Auch finden wir bei Lukas eine herrliche Rede von ihm, die er
an die Ältesten der Gemeinde zu Ephesus richtete (Apg. 20,18ff.). Wer also die Leitung einer
einzelnen Kirche und die Fürsorge für sie in die Hand genommen hat, der soll wissen, daß er an
dieses Gesetz der göttlichen Berufung gebunden ist. Das bedeutet nicht, daß er gleichsam "an die
Scholle gebunden" wäre – wie die Rechtsgelehrten sagen -, also ein Leibeigener sein müßte, oder
daß er geradezu festgekettet wäre und keinen Fuß von der Stelle rühren könnte, wenn der
öffentliche Nutzen es (auch) erfordern sollte – sofern das (letztere) nur nach Regel und Ordnung
geschieht. Nein, der, der an einen bestimmten Ort berufen ist, darf nicht selbst über seinen Wegzug
nachdenken, soll auch seine Befreiung vom Dienst nicht etwa so suchen, wie er es für sich für
bequem hält. Und dann: wenn es einem von Nutzen ist, an einen anderen Ort versetzt zu werden, so
darf er das doch nicht aus persönlicher Entschließung unternehmen, sondern er muß die (Regelung
durch die) öffentliche Autorität abwarten.
IV,3,8 Daß ich übrigens die Männer, die die Kirchen zu leiten haben, ohne
Unterschied als "Bischöfe", "Älteste", "Pastoren" und "Diener" bezeichnet habe,
das habe ich zufolge des Sprachgebrauchs der Schrift getan, die diese Ausdrücke miteinander
vermischt; denn sie erteilt allen, die den Dienst am Wort ausüben, den Titel "Bischof" zu. So
geschieht es z.B. bei Paulus: eben hat er dem Titus die Weisung erteilt, hin und her in den Städten
Älteste einzusetzen (Tit. 1,5), da fährt er gleich anschließend fort: "Denn ein Bischof soll
untadelig sein ..." (Tit. 1,7). So grüßt er auch an anderer Stelle (Phil. 1,1) mehrere Bischöfe
in einer Kirche. Und in der Apostelgeschichte wird berichtet, daß er die "Ältesten" von
Ephesus zusammenberufen habe (Apg. 20,17), die er doch selber in seiner Rede (Apg. 20,28) als "Bischöfe"
bezeichnet! Hier ist aber nun zu bemerken, daß wir bisher ausschließlich diejenigen
Amtsverpflichtungen aufgeführt haben, die im Dienst am Wort bestehen; andere hat auch Paulus im
vierten Kapitel des Epheserbriefs, das wir anführten, nicht erwähnt. Im Brief an die Römer (Röm.
12,7f.) und im ersten Brief an die Korinther (1. Kor. 12,28) dagegen zählt er auch andere auf, so
z.B. Machterweisungen (in Wundern), die Gabe, gesund zu machen, die Auslegung, die Leitung und die
Fürsorge für die Armen. Unter diesen übergehe ich die, die bloß von zeitlicher Bedeutung gewesen
sind; denn es ist nicht vonnöten, daß wir uns bei ihnen aufhalten. Es gibt aber zwei, die
fortwährend bleiben, nämlich die Leitung und die Fürsorge für die Armen. Die "Regierer" (1.
Kor. 12,28) sind nach meiner Ansicht Älteste gewesen, die aus dem Volke ausgewählt waren, um
zusammen mit den Bischöfen die Aufsicht über den Lebenswandel zu führen und die Zucht zu üben.
Denn wenn Paulussagt: "Regiert jemand, so sei er sorgfältig" (Röm. 12,8), so kann man das
nicht anders auslegen (als im obigen Sinne). Seit Anbeginn hatte also jede einzelne Kirche ihren
Ältestenrat (senatus), der mit frommen, ernsten und heiligen Männern besetzt war; bei diesem lag
auch die Gerichtsgewalt zur Besserung von Lastern (also: die "Sittenzucht"), von der wir hernach
noch sprechen werden. Daß nun aber die Ordnung dieser Art nicht nur einem einzigen Jahrhundert
zugehörte, das zeigt die Erfahrung selbst. Folglich ist also auch dies Amt der Leitung für alle
Zeiten vonnöten.
IV,3,9 Die Fürsorge für die Armen war den "Diakonen" aufgetragen.
Allerdings treten im Römerbrief zwei Arten von Diakonen auf; Paulus sagt da: "Gibt jemand, so
gebe er einfältig ... Übt jemand Barmherzigkeit, so tue er’s mit Lust" (Röm. 12,8). Da Paulus
hier zweifellos von den öffentlichen Ämtern der Kirche redet, so muß es also zwei voneinander
unterschiedene Rangstufen gegeben haben. Wenn mich mein Urteil nicht täuscht, so bezeichnet er im
ersten Gliede solche Diakonen, die die Almosen verwalteten. Im zweiten Gliede meint er dann solche
Diakonen, die sich der Fürsorge an den Armen und Kranken geweiht hatten; von dieser Art waren die
Witwen, die er im (1.) Brief an Timotheus erwähnt (1. Tim. 5,10). Denn die Frauen konnten kein
anderes öffentliches Amt übernehmen, als wenn sie sich dem Dienst an den Armen widmeten. Wenn wir
uns dies nun zu eigen machen – und das sollen wir durchaus tun! -, so wird es also (auch bei uns)
zweierlei Diakonen geben: die einen dienen der Kirche, indem sie die Angelegenheiten der Armen
verwalten, die anderen, indem sie für die Armen selber sorgen. Obwohl nun der Ausdruck "Diakonie"
eine sehr weitgehende Bedeutung hat, bezeichnet die Schrift doch in besonderer Weise solche Leute
als "Diakonen", die die Kirche als Vorsteher bei der Verteilung der Almosen und der Fürsorge
für die Armen einsetzt und gleichsam zu Verwaltern des öffentlichen Armenvermögens bestellt.
Ursprung, Einweisung und Amtsaufgabe dieser Diakonen werden von Lukas in der Apostelgeschichte
beschrieben (Apg. 6,3). Als sich nämlich "ein Murmeln unter den Griechen erhoben hatte", weil
ihre Witwen bei dem Dienst an den Armen "übersehen" würden, da entschuldigten sich die
Apostel, daß sie dem doppelten Amt, der Predigt des Wortes und dem "Dienst zu Tische", nicht
Genüge zu tun vermöchten, und sie baten die Menge, man solle sieben rechtschaffene Männer
erwählen, denen sie diesen Dienst auftragen konnten (Apg. 6,1ff.). Da sehen wir, was für Diakonen
die apostolische Kirche gehabt hat und was für welche wir nach ihrem Vorbild auch haben sollten.
IV,3,10 Obwohl nun in der heiligen Versammlung alles "ehrbar und ordentlich
zugehen" soll (1. Kor. 14,40), so muß dies doch bei nichts sorgsamer festgehalten werden als bei
der Einsetzung der (Kirchen-)Leitung; denn nirgends besteht größere Gefahr, wenn etwas
unordentlich zustande kommt. Damit sich nun also unruhige und aufrührerische Menschen nicht ohne
Grund eindrängen, um zu lehren oder zu regieren – was sonst geschehen würde -, so ist
ausdrücklich verboten, daß sich jemand ohne Berufung ein öffentliches Amt in der Kirche aneignet.
Will also jemand als wahrer Diener der Kirche angesehen werden, so muß er zuerst rechtmäßig
berufen (rite vocatus) sein, ferner muß er aber auch seiner Berufung entsprechen, das heißt: er
muß die ihm übertragenen Aufgaben anfassen und ausführen. Das läßt sich bei Paulus öfters
beobachten: wenn er sein Apostelamt beweisen will, so führt er neben seiner Treue in der
Amtsausübung fast stets auch seine Berufung an. Wenn sich ein so hervorragender Diener Christi nur
deshalb die Autorität anzumaßen wagt, in der Kirche gehört zu werden, weil er durch den Auftrag
des Herrn dazu bestellt ist, und wenn er nun treulich ausführt, was ihm aufgetragen ist, was ist es
dann für eine Schamlosigkeit, wenn irgendein Sterblicher, dem dies beides oder eines von beiden
abgeht, eine solche Ehre für sich verlangt! Aber weil wie über die Notwendigkeit, das
(aufgetragene) Amt auf sich zu nehmen, schon oben kurz gesprochen haben, so wollen wir jetzt nur
über die Berufung eine Erörterung anstellen.
IV,3,11 Die Behandlung der Berufung hat sich nun mit vier Fragen zu
beschäftigen; wir müssen wissen, (1.) was für Leute zu Dienern (der Kirche) bestellt werden
sollen, (2.) auf welche Weise das geschehen muß, (3.) wer die Einsetzung zu vollziehen hat und (4.)
nach welchem Brauch und mit welcher Zeremonie die Einführung geschehen soll. Ich spreche dabei von
der äußeren und feierlichen Berufung, die es mit der öffentlichen Ordnung der Kirche zu tun hat;
jene verborgene Berufung dagegen, deren sich jeder Diener vor Gott bewußt ist, zu deren Zeugen er
aber die Kirche nicht hat, übergehe ich. Diese verborgene Berufung ist das gute Zeugnis unseres
Herzens, daß wir weder aus Ehrgeiz noch aus Habsucht, noch aus irgendwelcher anderen Begierde,
sondern aus aufrichtiger Gottesfurcht und aus dem Eifer um die Auferbauung der Kirche heraus das uns
angebotene Amt annehmen. Das ist, wie ich sagte, für jeden einzelnen von uns notwendig, wenn wir
wollen, daß unser Dienst Gott wohlgefällig sei. Vor dem Angesicht der Kirche ist aber trotzdem
auch der rechtmäßig berufen, der mit schlechtem Gewissen an sein Amt herangegangen ist, sofern nur
seine Schlechtigkeit nicht offen zutage getreten ist. Man pflegt auch von amtlosen Leuten zu sagen,
sie seien zum Dienst berufen, wenn man nämlich sieht, daß sie geeignet und fähig sind, dies Amt
zu bekleiden, und zwar, weil die Bildung, wenn sie mit der Frömmigkeit und den anderen Gaben eines
guten Hirten (Pastors) verbunden ist, eine gewisse Vorbereitung auf das Amt darstellt. Denn die
Menschen, die der Herr zu einer so großen Aufgabe bestimmt hat, die rüstet er zunächst mit den
Waffen aus, die erforderlich sind, um sie zu erfüllen, damit sie nicht leer und unvorbereitet
kommen. Daher hat auch Paulus im (ersten) Brief an die Korinther, als er von den Amtspflichten
selber sprechen wollte, zunächst die Gaben aufgezählt, mit denen die, die solche Amtspflichten
ausüben, ausgerüstet sein müssen (1. Kor. 12,7-11). Aber weil dies bereits das erste von den vier
Hauptstücken ist, die ich oben aufgestellt habe, so wollen wir jetzt weiter davon reden.
IV,3,12 Was für Leute man zu Bischöfen erwählen soll, das setzt Paulus an
zwei Stellen gründlich auseinander (Tit. 1,7f.; 1. Tim. 3,1-7). Die Hauptsache ist dabei folgendes:
es sollen nur solche erwählt werden, die von gesunder Lehre und heiligem Lebenswandel sind, und an
denen keinerlei Gebrechen erkennbar ist, das ihnen die Autorität rauben und dem Amte Schande
bringen könnte. Mit den Diakonen und Ältesten ist es ganz ähnlich bestellt (1. Tim. 3,8-13). Man
muß immer darauf sehen, daß sie nicht unfähig oder ungeeignet sind, die Last zu tragen, die ihnen
auferlegt wird, das heißt, daß sie mit den Fähigkeiten ausgestattet sind, die dazu notwendig sein
werden, ihr Amt auszufüllen. So hat auch Christus die Apostel, als er sie aussenden wollte, mit den
Waffen und Werkzeugen ausgerüstet, die sie nicht entbehren konnten (Luk. 21,15; 24,49; Mark.
16,15-18; Apg. 1,8). Und nachdem Paulus das Bild eines guten und wahren Bischofs gezeichnet hat,
ermahnt er den Timotheus, er solle keinen zum Bischof erwählen, der diesem Bilde nicht entspräche,
und sich damit nicht selber beflecken (1. Tim. 5,22). Die zweite Frage war, auf welche Weise man die
Diener der Kirche einsetzen solle. Das beziehe ich nun aber nicht auf das Verfahren bei der
Erwählung, sondern auf den gottesfürchtigen Ernst, der dabei zu wahren ist. Daher kommt das Fasten
und Beten, das nach dem Bericht des Lukas die Gläubigen geübt haben, wenn sie Älteste einsetzten
(Apg. 14,23). Denn sie sahen ein, daßsie ein Werk von höchstem Ernst verrichteten, und deshalb
wagten sie nur mit tiefster Ehrfurcht und Sorgfalt, etwas zu unternehmen, vor allem aber übten sie
eifriges Gebet, um den Geist des Rates und der Unterscheidung von Gott zu erflehen.
IV,3,13 Die dritte Frage in der oben aufgestellten Einteilung war die, von
wem die Diener der Kirche erwählt werden sollten. Hierfür läßt sich nun aus der Einsetzung der
Apostel keine sichere Regel entnehmen; denn diese hatte einen von der gewöhnlichen Berufung der
übrigen wesentlich verschiedenen Charakter. Denn es war ja ein außerordentliches Amt, und deshalb
mußten seine Träger durch den Mund des Herrn selber berufen und eingesetzt werden, damit dieses
Amt durch ein besonders herrliches Kennzeichen sichtbar gemacht wurde. Die Apostel waren also mit
keinerlei menschlicher Erwählung, sondern allein mit dem Auftrag Gottes und Christi ausgerüstet,
als sie sich an ihr Werk machten. Daher kommt es auch, daß die Apostel, als sie einen anderen
Apostel an die Stelle des Judas setzen wollen, nicht etwa wagen, einen einzelnen bestimmt zu
ernennen, sondern zwei in ihre Mitte stellen, damit der Herr durch das Los bekanntgebe, welcher von
ihnen nach seinem Willen jenen Platz einnehmen solle (Apg. 1,23-26). In diesem Sinne muß man es
auch verstehen, daß Paulus erklärt, er sei "nicht von Menschen, auch nicht durch Menschen" zum
Apostel bestellt worden, sondern von Christus und von Gott, dem Vater (Gal. 1,1.12). Das erste
nämlich: "nicht von Menschen" – das hatte Paulus mit allen frommen Dienern am Wort gemeinsam.
Denn es hat nie jemand diesen Dienst recht ausüben können, ohne von Gott dazu berufen zu sein. Das
zweite dagegen kam einzig und als etwas Besonderes dem Apostel zu. Wenn er sich dessen also rühmt,
so erhebt er nicht nur den Anspruch, das zu besitzen, was ein wahrer und rechtmäßiger Hirte (der
Kirche) haben muß, sondern er weist auch die Kennzeichen seines Apostelamtes vor. Denn es gab ja
bei den Galatern Leute, die sich bemühten, seine Autorität zu verkleinern und ihn deshalb für
einen gewöhnlichen Jünger erklärten, den die ursprünglichen Apostel hinzugewählt hätten. Um
nun seiner Predigt die ihr zustehende Würde, gegen die sich nach seiner Kenntnis jene
Nachstellungen richteten, unverkürzt zu erhalten, hielt er es für erforderlich, zu zeigen, daß er
den übrigen Aposteln in keiner Hinsicht irgendwie nachstand. Deshalb versichert er, daß er nicht,
wie ein gewöhnlicher Bischof, durch das Urteil von Menschen erwählt worden ist, sondern durch den
Mund und das deutliche Offenbarungswort des Herrn selber.
IV,3,14 Daß es aber durchaus nach der Ordnung einer rechtmäßigen Berufung
zugeht, wenn die Bischöfe durch Menschen ernannt werden, das wird kein vernünftiger Mensch
leugnen; denn es sind in dieser Sache gar viele Zeugnisse der Schrift vorhanden. Dem widerspricht
auch, wie gesagt, nicht das Zeugnis des Paulus, nach welchem er "nicht von Menschen, auch nicht
durch Menschen" gesandt worden ist (Gal. 1,1); denn er spricht an dieser Stelle nicht von der
ordentlichen Erwählung der Diener (der Kirche), sondern schreibt sich das zu, was den Aposteln
besonders zukam. Freilich: obwohl der Herr den Paulus von sich aus kraft eines besonderen Vorrechts
bestimmte, so hat er es doch auch bei ihm so gehalten, daß er sich zugleich der Ordnung kirchlicher
Berufung bediente. Denn Lukas berichtet: "Da aber die Apostel fasteten und beteten, sprach der
Heilige Geist: Sondert mir aus Paulus und Barnabas zu dem Werk, dazu ich sie berufen habe" (Apg.
13,2; ungenau). Wozu diente nun diese Aussonderung und Handauflegung, nachdem doch der Heilige Geist
die von ihm ausgehende Erwählung bereits bezeugt hatte? Doch nur zur Wahrung der kirchlichen
Ordnung, kraft deren die Diener (der Kirche) durch Menschen bestimmt werden! Gott hätte also eine
solche Ordnung durch keinen klareren Beweis bekräftigen können, als indem er den Paulus, von dem
er doch schon zuvor gesagt hatte, er habe ihn den Heiden zum Apostel bestimmt, trotzdem auch von der
Kirche erwählt sein lassen wollte. Das gleiche kann man auch aus der Erwählung des Matthias sehen
(Apg. 1,23). Denn weil das Amt eines Apostels von solch hoher Bedeutung war, daß sie es nicht
wagten, nach ihrem Urteil einen einzelnen in diese Rangstufe mit aufzunehmen, so stellten sie zwei
in die Mitte, auf deren einen das Los fallen sollte. Das geschah, damit auf diese Weise die
Erwählung ein merkliches Zeugnis vom Himmel her empfing, zugleich aber doch die Ordnung der Kirche
durchaus nicht übergangen wurde.
IV,3,15 Es ist nun die Frage, ob der Diener von der ganzen Kirche gewählt
werden soll oder bloß von seinen Amtsgenossen und von den Ältesten, die die Zucht zu üben haben,
oder aber, ob er auch kraft der Autorität eines einzelnen eingesetzt werden kann. Manche
übertragen tatsächlich dieses Recht auf einen einzelnen Menschen und ziehen dazu das Wort des
Paulus an Titus heran: "Derhalben ließ ich dich in Kreta, daß du solltest ... besetzen die
Städte hin und her mit Ältesten ..." (Tit. 1,5). Oder ebenso das Wort an Timotheus: "Die
Hände lege niemand zu bald auf" (1. Tim. 5,22). Jene Leute täuschen sich aber, wenn sie meinen,
Timotheus habe in Ephesus oder Titus auf Kreta eine Regierungsgewalt ausgeübt, so daß sie also
beide nach ihrem Gutdünken alles bestimmt hätten. Denn ihre Vorsteherschaft hatte nur den Zweck,
daß sie dem Volke mit guten und heilsamen Ratschlägen vorangingen, nicht aber, daß sie allein,
unter Ausschluß aller anderen, durchführten, was ihnen gefiel. Damit nun nicht der Eindruck
entsteht, als ob ich mir hier selber etwas ausdächte, so will ich meine Darlegung mit einem
ähnlichen Beispiel deutlich machen. Lukas berichtet von Paulus und Barnabas: "Und sie ordneten
ihnen hin und her Älteste in den Gemeinden" (Apg. 14,23); aber er bezeichnet zugleich auch die
Art und Weise oder das Verfahren, indem er nämlich sagt, das sei durch eine Stimmabgabe geschehen
(vgl. Urtext, Apg. 14,23). Er sagt nämlich: "Mit Aufrecken der Hände wählten sie... für jede
Kirche Älteste" (wörtlich; ausgelassen ist: "ihnen"). Es war also so: Paulus und Barnabas
selbst wählten zwei Männer, die ganze Menge aber bezeugte, wie das die Griechen bei Wahlen gewohnt
waren, mit aufgehobener Hand, welchen (von den beiden) sie haben wollte. Die römischen
Geschichtsschreiber drücken sich nämlich nicht selten so aus, der Konsul, der eine
Volksversammlung gehalten habe, habe neue Amtspersonen "gewählt", und diesen Ausdruck verwenden
sie nur aus dem einen Grunde, daß er eben die abgegebenen Stimmen in Empfang genommen und das Volk
bei der Wahlhandlung geleitet hat. Nun ist es aber sicherlich nicht glaubhaft, daß Paulus dem
Timotheus und dem Titus mehr zugestanden hätte, als er sich selber an Rechten genommen hat. Wir
sehen aber, daß er die Gewohnheit hatte, die Bischöfe auf Grund der Stimmabgabe des Volkes zu
wählen. Die oben genannten Stellen sind also dergestalt aufzufassen, daß sie dem allgemeinen Recht
und der Freiheit der Kirche keinen Abbruch tun. Sehr treffend ist es daher, wenn Cyprian behauptet,
es sei aus Gottes Autorität herzuleiten, daß der Priester in Gegenwart des Volkes vor aller Augen
erwählt und durch öffentliches Urteil und Zeugnis als würdig und geeignet bestätigt werde (Brief
67). Wir sehen ja auch, daß man es bei den levitischen Priestern auf Weisung des Herrn so gehalten
hat, daß sie vor ihrer Weihe dem Volke vor Augen gestellt wurden (Lev. S,4-6; Num. 20,2s. 27). Auch
die Einreihung des Matthias in die Amtsgenossenschaft der Apostel und ebenso die Wahl der sieben
Diakonen geschah nicht anders als im Beisein und unter Billigung des Volkes (Apg. ),15 ff.; b,2-7).
"Diese Beispiele", sagt Cyprian, "zeigen, daß die Ordination eines Priesters nur unter
Mitwiffen des anwesenden Volkes geschehen soll, damit die Ordination recht und rechtmäßig erfolgt,
weil sie vor dem Zeugnis aller eine Prüfung durchgemacht hat" (Brief 67).Es ergibt sich also:
nach Gottes Wort rechtmäßig ist die Berufung eines Dieners da, wo auf Grund der einhelligen
Meinung und der Billigung des Volkes diejenigen gewählt werden, die als geeignet erschienen sind.
Die Leitung aber bei der Wahl sollen andere Pastoren innehaben, damit die Menge sich nicht etwa
durch Leichtfertigkeit, üble Treibereien oder auch durch Aufruhr versündigt.
IV,3,16 Jetzt ist noch das Verfahren bei der Ordination übrig, dem wir bei
der (Besprechung der) Berufung den letzten Platz gegeben haben. Es steht nun fest, daß die Apostel,
wenn sie jemanden in ein Amt einsetzten, keine andere Zeremonie angewandt haben als die
Handauflegung. Dieser (gottesdienstliche) Brauch ist nach meiner Meinung von der Sitte der Hebräer
hergekommen: wenn diese etwas gesegnet oder geweiht haben wollten, so stellten sie es durch
Auflegung der Hände gleichsam Gott dar. So legte Jakob dem Ephraim und dem Manasse, als er sie
segnen wollte, die Hände aufs Haupt (Gen. 48,14). Diesem Brauch hat sich auch unser Herr
angeschlossen, als er über den Kindlein betete (Matth. 19,15). Nach meiner Ansicht hatte es die
gleiche Bedeutung, wenn die Juden auf Grund der Vorschrift des Gesetzes ihren Opfern die Hand
auflegten. Die Apostel deuteten also durch die Handauflegung an, daß sie den, den sie in sein Amt
einwiesen, Gott zum Opfer darbrachten. Freilich haben sie die Handauflegung auch an denen geübt,
denen sie sichtbare Gnadengaben des Heiligen Geistes zuteil werden ließen (Apg. 19,6). Wie dem nun
auch sei – dies war jedenfalls der allgemein übliche Brauch, wenn sie jemanden in ein kirchliches
Amt beriefen. In dieser Weise haben sie die Hirten und Lehrer, aber auch die Diakonen (zu ihrem Amt)
geheiligt. Allerdings besteht nun kein klares Gebot hinsichtlich der Handauflegung, aber wir sehen
doch, daß sie bei den Aposteln in fortwährendem Gebrauch war, und die Tatsache, daß sie diesen
Brauch so gründlich innehielten, soll für uns doch soviel gelten wie ein Gebot. Es ist auch
sicherlich von Nutzen, daß durch ein derartiges Merkzeichen einerseits dem Volke die Würde des
Amtes ans Herz gelegt, andererseits aber auch der, der ordiniert werden soll, daran gemahnt wird,
daß er jetzt nicht mehr sein eigener Herr ist, sondern Gott und der Kirche zu Dienste gegeben.
Außerdem wird es auch kein leeres Zeichen sein, wenn es nur zu seinem reinen, ursprünglichen Sinn
zurückgeführt wird. Denn weil der Geist Gottes in der Kirche nichts umsonst eingerichtet hat, so
werden wir auch von dieser Zeremonie, die doch von ihm ausgegangen ist, die Erfahrung machen, daß
sie nicht ohne Nutzen bleibt, wofern sie nur nicht in einen abergläubischen Mißbrauch verkehrt
wird. Schließlich müssen wir noch wissen, daß nicht etwa die ganze Menge ihren Dienern die Hände
aufgelegt hat, sondern allein die Hirten (der Kirche). Allerdings ist es ungewiß, ob die
Handauflegung immer durch mehrere geschah oder nicht. Sicher ist aber, daß es bei den Diakonen, bei
Paulus und Barnabas und bei einigen wenigen anderen so gemacht worden ist (Apg. 6,6; 13,3).
Andererseits erwähnt Paulus an anderer Stelle, daß er dem Timotheus die Hände aufgelegt habe,
nicht aber mehrere andere. Er sagt: "Um solcher Ursache willen erinnere ich dich, daß du
erweckest die Gabe Gottes, die in dir ist durch die Auflegung meiner Hände" (2. Tim. 1,6). Denn
was wir in dem anderen Brief von der Handauflegung des "Presbyteriums" lesen (1. Tim. 4,14), das
verstehe ich nicht so, als ob Paulus von der Amtsgenossenschaft der Ältesten (also von unserem "Presbyterium")
spräche, sondern ich fasse es so auf, daß dieser Ausdruck die Ordination selber (als Vorgang)
meint (Übersetzung der Stelle also etwa: "durch die Handauflegung, die zum Ältestenamt gehört");
es ist also, als ob Paulus sagte: Sorge dafür, daß die Gnade, die du durch die Auflegung der
Hände empfangen hast, als ich dich zum Ältesten einsetzte, nicht wirkungslos sei.
Vom Zustand der Alten Kirche und von der Regierungsweise, die vor dem Papsttum in
Übung stand
IV,4,1 Bisher ging unsere Erörterung um die Ordnung des Kirchenregiments, wie
sie uns aus Gottes reinem Wort überliefert ist, und um die Dienstämter, wie sie von Christus
eingesetzt sind. Damit uns nun das alles klarer und vertrauter sichtbar wird und sich auch besser in
unserem Herzen festsetzt, wird es von Nutzen sein, in diesen Dingen die Gestalt der Alten Kirche
näher zu betrachten, die uns gewissermaßen ein Bild der göttlichen Einsetzung vor Augen stellen
wird. Freilich haben die Bischöfe jener Zeiten viele Kirchensatzungen ausgehen lassen, in denen sie
mehr zum Ausdruck zu bringen scheinen, als es in der Heiligen Schrift geschehen ist. Aber sie haben
ihre ganze Regierungsweise doch mit solcher Vorsicht nach jener einzigen Richtschnur des Wortes
Gottes eingerichtet, daß man leicht sehen kann, wie sie in dieser Hinsicht fast nichts gehabt
haben, was Gottes Wort fremd wäre. Aber selbst wenn in ihren Einrichtungen noch einiges zu
wünschen übrig sein könnte, so haben sie sich doch in aufrichtigem Bemühen angestrengt, Gottes
Einsetzung zu wahren, und sie sind auch nicht viel von ihr abgeirrt; deshalb wird es also sehr
förderlich sein, hier kurz durchzugehen, was das denn für eine Ordnung war, die sie so
gewissenhaft eingehalten haben. Wie wir nun oben dargelegt haben, daß uns in der Schrift drei Arten
von Dienern (der Kirche) anbefohlen werden, so hat auch die Alte Kirche alles, was sie an Dienern
besaß, in drei Ordnungen eingeteilt. Aus der Ordnung der Presbyter ("Priester") wurden nämlich
teils (1.) die Hirten und Lehrer erwählt; der übrige Teil hatte (2.) die Leitung bei der Aufsicht
über den Lebenswandel und bei der Zuchtübung; (3.) den Diakonen war die Fürsorge für die Armen
und die Verteilung der Almosen anvertraut. Die Bezeichnungen "Lektor" und "Akoluth" aber
bezogen sich nicht auf bestimmte Amtsaufgaben. Es war vielmehr so: die Leute, die man "Kleriker"
nannte, gewöhnte man von Jugend auf durch bestimmte Übungen an den Dienst der Kirche, damit sie
besser erkannten, wozu sie bestimmt waren, und damit sie zu gegebener Zeit desto gründlicher
vorbereitet an ihre Amtspflichten herantreten konnten. Das werde ich bald noch eingehender darlegen.
Demzufolge zählt Hieronymus, nachdem er das Bestehen von fünf Ordnungen in der Kirche behauptet
hat, folgende auf: Bischöfe, Presbyter ("Priester"), Diakonen, Gläubige und Katechumenen; dem
übrigen "Klerus" und den Mönchen weist er keinen eigenen Platz an (Zu Jesaja 19,13).
IV,4,2 Man bezeichnete also alle, denen das Lehramt aufgetragen war, als
Presbyter ("Priester"). Diese wählten nun aus ihrer Zahl in jeder Stadt einen aus, dem sie
besonders den Titel "Bischof" gaben. Das geschah, damit nicht, wie das gewöhnlich eintritt, aus
der Gleichheit (im Rang) ein Zwiespalt erwüchse. Aber der Bischof hatte nicht einen solchen Vorrang
an Ehre und Würde, daß er etwa über seine Amtsgenossen die Herrschaft ausgeübt hätte. Er
führte vielmehr in der Versammlung der Presbyter ein Amt, das den Aufgaben des Vorstehers (consul)
im Rat (senatus) entsprach: der soll bekanntlich über die Geschäfte berichten, die Meinung der
anderen erfragen, ihnen mit Rat, Ermahnung und Ermunterung vorangehen, mit seiner Autorität die
ganze Verhandlung leiten und schließlich ausführen, was im gemeinen Rat beschlossen ist. Auch
geben die Alten selber zu, daß diese Regelung nach den Erfordernissen der Zeit durch menschliches
Übereinkommen eingeführt worden ist. So sagt Hieronymus in seiner Auslegung des Titusbriefs: "Zwischen
Presbyter und Bischof besteht kein Unterschied; und bevor auf Eingeben des Teufels in der Religion
Zwiespältigkeiten entstanden, so daß man im Volke sagte: ‘Ich bin paulisch’ oder: ‘Ich bin
kephisch’ (1. Kor. 1,12), wurden die Kirchen durch gemeinsame Beratung der Presbyter regiert"
(Zu Kap. 1). "Später hat man dann, um alle Keime der Uneinigkeit auszureißen, alle Sorge auf
einen übertragen. Wie also die Presbyter wissen, daß sie der Gewohnheit der Kirche zufolge dem
unterworfen sind, der die Leitung hat, so müssen auch die Bischöfe wissen, daß ihr Vorrang über
die Presbyter und ihre Verpflichtung, mit ihnen zusammen die Kirche zu leiten, mehr aus der
Gewohnheit als aus der Wahrheit der Anordnung des Herrn erwachsen ist." (Ebenda). An anderer
Stelle aber legt er doch dar, daß diese Regelung schon althergebracht sei; er sagt nämlich, in
Alexandria hätten die Presbyter von dem Evangelisten Markus an bis auf Herakles und Dionysius stets
einen aus ihrer Mitte erwählt und ihm eine höhere Rangstufe gegeben, und diesen hätten sie "Bischof"
genannt (Brief 146, an Euangelus bzw. Euagrius). Jede einzelne Stadt besaß also ein Kollegium von
Presbytern, die "Hirten" und "Lehrer" waren. Denn sie übten alle an dem Volke das Amt der
Lehre, der Ermahnung und der Zucht, das Paulus den Bischöfen auferlegt (Tit. 1,9), und, damit sie
Samen hinterließen, gaben sie sich auch Mühe, die Jüngeren, die sich dem heiligen Kriegsdienst
verschrieben hatten, zu erziehen. Jeder einzelnen Stadt war nun ein bestimmtes Gebiet zugewiesen,
das aus ihr seine Presbyter entnahm und gleichsam zu dem Leibe jener Kirche zugerechnet wurde. Die
einzelnen Kollegien waren, wie gesagt, zur Wahrung der Ordnung und des Friedens einem einzigen
Bischof unterstellt; dieser hatte zwar nach der Würde den Vorrang vor den anderen, aber doch so,
daß er der Versammlung der Brüder unterworfen war. Wenn nun das Gebiet, das unter seinem Bistum
stand, zu groß war, als daß er allenthalben allen Berufspflichten eines Bischofs genügen konnte,
so wurden über dies Gebiet hin an bestimmten Orten Presbyter bestellt, die bei weniger wichtigen
Geschäften die Vertretung des Bischofs wahrnehmen sollten. Diese nannte man "Landbischöfe"
(Chorepiscopi), weil sie für jenen Landstrich den Bischof darstellten.
IV,4,3 Was nun die Amtspflicht betrifft, von der wir jetzt sprechen, so
mußten der Bischof wie auch die Presbyter der Austeilung des Wortes und der Sakramente obliegen.
Denn nur in Alexandria bestand, wie uns Sokrates im neunten Buche der "Historia tripartita"
berichtet, die Regelung, daß der Presbyter keine Predigt an das Volk halten durfte; dort hatte ja
Arius die Kirche in Verwirrung gebracht. Trotzdem verhehlt Hieronymus nicht, daß ihm diese
Maßnahme mißfällt (Brief 52). Jedenfalls hätte man es für etwas Ungeheuerliches gehalten, wenn
sich jemand als Bischof ausgegeben hätte, ohne sich auch mit der Tat als wahrer Bischof zu
erweisen. Es bestand also zu jenen Zeiten eine solche Strenge, daß man alle Diener der Kirche
nötigte, ihre Amtsaufgaben so zu erfüllen, wie es der Herr von ihnen fordert. Auch berichte ich
hier nicht allein von der Gewohnheit eines einzigen Zeitalters; denn nicht einmal zur Zeit (Papst)
Gregors (I.), als die Kirche schon beinahe verfallen oder jedenfalls von ihrer vorigen Reinheit
wesentlich entartet war, wäre es erträglich gewesen, daß sich ein Bischof der Predigt enthielt.
Er sagt selber an einer Stelle: "Ein Priester stirbt, wenn man von ihm keinen Klang vernimmt; denn
er fordert den Zorn des verborgenen Richters gegen sich heraus, wenn er ohne den Klang der Predigt
einhergeht" (Brief 24). Und an anderer Stelle heißt es bei ihm: "Wenn Paulus bezeugt, er sei
‘rein von aller Blut’ (Apg. 20,26), so werden in diesem Worte wir überführt, wir gebunden und
für schuldig erklärt, die wir Priester heißen, die wir zu den Übeltaten, die wir für uns selber
haben, auch noch den Tod anderer zufügen; denn wir morden soviel Menschen, wie wir Tag für Tag lau
und schweigend zum Tode wandern sehen" (Predigten über Ezechiel, XI,10). "Schweigend" nennt
er sich und andere, weil sie weniger eifrig am Werk wären, als es sein sollte. Wenn er nicht einmal
die schont, die ihre Amtspflicht nur halb erfüllten, was würde er dann wohl getan haben, wenn sie
jemand ganz unterließe? Lange Zeit hatte es also in der Kirche Geltung, daß die erste Aufgabe des
Bischofs darin bestünde, das Volk mit dem Worte Gottes zu nähren und die Kirche öffentlich und in
Sonderheit mit gesunder Lehre zu erbauen.
IV,4,4 Daß aber jede Provinz unter ihren Bischöfen einen Erzbischof hatte,
daß ebenso auf der Synode von Nicäa Patriarchen eingesetzt wurden, die den Erzbischöfen an Rang
und Würde überlegen sein sollten, das diente zur Aufrechterhaltung der Zucht. Allerdings kann man
bei dieser Erörterung nicht übergehen, daß man diese Regelung sehr selten angewandt hat. Jene
Rangstufen sind vor allem aus folgendem Grunde eingerichtet worden: wenn in irgendeiner Kirche etwas
vorkam, was nicht gut von wenigen in Ordnung gebracht werden konnte, so sollte es vor die
Provinzialsynode gebracht werden können; erforderte der Umfang oder die Schwierigkeit der
Angelegenheit auch noch eine weitergehende Verhandlung, so wurden die Patriarchen in Gemeinschaft
mit den Synoden zugezogen, von welchen dann nur noch eine Berufung an ein allgemeines Konzil
möglich war. Die so geregelte Regierungsweise haben einige als "Hierarchie" bezeichnet: das ist
nach meiner Ansicht ein unpassender, jedenfalls der Schrift ungewohnter Name. Denn der Heilige Geist
hat verhüten wollen, daß sich jemand, wenn es um die Regierung der Kirche geht, eine Obergewalt
oder eine Herrschaft erträumt. Wenn wir aber die Bezeichnung weglassen und allein die Sache
anschauen, so werden wir finden, daß sich die Bischöfe der Alten Kirche keine Gestalt der
Kirchenleitung haben erdenken wollen, die anders gewesen wäre als die, welche Gott in seinem Worte
vorgeschrieben hat.
IV,4,5 Auch mit den Diakonen war es damals nicht anders bestellt als unter den
Aposteln. Sie nahmen nämlich die täglichen Gaben der Gläubigen und die jährlichen Einkünfte der
Kirche ein, um sie dem rechten Gebrauch zuzuführen, das heißt: um sie teils zur Unterhaltung der
Diener, teils zum Unterhalt der Armen zu verteilen. Das geschah aber nach dem Ermessen des Bischofs,
dem sie auch alle Jahre über ihre Verwaltung Rechenschaft ablegten. Die kirchlichen Rechtssatzungen
erklären zwar den Bischof allenthalben für den Verteiler aller Güter der Kirche. Aber das ist nun
nicht so aufzufassen, als ob er selber von sich aus dafür Sorge getragen hätte. Es ist vielmehr so
ausgedrückt, weil es seine Aufgabe war, dem Diakon vorzuschreiben, wer in die öffentliche
Unterhaltung durch die Kirche aufgenommen werden sollte, ferner: an wen das vergeben werden sollte,
was übrig war, und wieviel jeder davon erhalten sollte, – und weil er die Aufsicht darüber hatte,
ob der Diakon getreulich ausführte, was seine Amtspflicht erforderte. Denn in den Rechtssatzungen
(Canones), die man den Aposteln zuschreibt, steht zu lesen: "Wir gebieten, daß der Bischof den
Besitz der Kirche in seiner Gewalt habe. Denn wenn ihm die Seelen der Menschen anvertraut sind, die
doch kostbarer sind (als der Besitz), so gehört es sich noch viel mehr, daß er für die Gelder
Sorge trage. Es soll also mit seiner Vollmacht alles durch die Presbyter und Diakonen an die Armen
ausgeteilt werden, damit es mit Furcht und aller Sorgfalt verwaltet werde" (Canones Apostolici
40). Und auf dem Konzil von Antiochia (341) wurde beschlossen, die Bischöfe, dieohne Mitwissen der
Presbyter und Diakonen den Besitz der Kirche verwalteten, sollten in ihre Grenzen zurückgewiesen
werden (Kap. 25). Aber eine längere Erörterung über diesen Punkt erübrigt sich, da aus sehr
vielen Briefen des Gregor mit Sicherheit hervorgeht, daß auch noch zu jener Zeit, als sonst die
kirchlichen Ordnungen bereits reichlich verdorben waren, die gründlich beobachtete Sitte
fortdauerte, daß die Diakonen unter Leitung des Bischofs die Verwalter für die Armen waren. Die
Subdiakonen sind ursprünglich wahrscheinlich den Diakonen beigegeben worden, damit diese ihre Hilfe
im Dienst an den Armen in Anspruch nehmen sollten. Aber diese Unterscheidung ist allmählich
verwischt worden. Archidiakonen aber begann man zu bestellen, als der Umfang des Vermögens eine
neue und gründlichere Art der Verwaltung erforderte. Allerdings erwähnt Hieronymus, daß dies
schon zu seiner Zeit geschehen sei (Brief 146 an Euangelus bzw. Euagrius). Bei den Archidiakonen lag
nun die oberste Verwaltung der Einkünfte, des Besitzes, der Hauseinrichtung und der täglichen
Gaben. Daher kündigt Gregor dem Archidiakon von Salona an, daß man ihn selber dafür
verantwortlich machen werde, wenn etwas von den Gütern der Kirche durch Nachlässigkeit oder durch
jemandes Betrug in Verlust geriete (Brief I,10). Daß man ihnen aber die Lesung des Evangeliums vor
dem Volke und die Ermahnung zum Gebet übertrug und daß sie ebenso bei der Feier des Heiligen
Abendmahles zur Darreichung des Kelches herangezogen wurden, das geschah, um ihr Amt zu zieren,
damit sie es mit um so größerer Ehrfurcht wahrnähmen: sie wurden eben durch solche Merkzeichen
daran gemahnt, daß ihre Tätigkeit nicht irgendeine weltliche Verwaltung darstellte, sondern eine
geistliche, Gott geheiligte Amtsaufgabe.
IV,4,6 Hieraus läßt sich auch ein Urteil darüber gewinnen, welchen Gebrauch
man von den kirchlichen Gütern machte und wie man sie austeilte. Immer wieder wird man in den
Beschlüssen der Synoden wie auch bei den alten Schriftstellern (den Grundsatz vertreten) finden,
alles, was die Kirche an Grund und Boden oder an Geld in Besitz habe, sei das Vermögen der Armen.
Deshalb wird in jenen Dokumenten je und dann den Bischöfen und Diakonen das Liedlein gesungen, sie
sollten bedenken, daß sie nicht ihren eigenen Besitz verwalteten, sondern den, der für die
Notdurft der Armen bestimmt sei, und wenn sie diesen nun in Untreue verschwinden ließen oder
verschleuderten, so würden sie eine Blutschuld auf sich laden, von da aus werden sie dann ermahnt,
diesen Besitz mit großem Zittern und höchster Ehrfurcht, gleichsam vor dem Angesicht Gottes, ohne
Ansehen der Person an die zu verteilen, denen er zukomme. Daher rühren auch jene ernsten
Beteuerungen bei Chrysostomus, Ambrosius, Augustin und anderen Bischöfen ihrer Art, mit denen sie
ihre Lauterkeit vor dem Volke versichern. Da es nun aber recht und billig und auch vom Gesetz des
Herrn so verordnet ist, daß die, die der Kirche ihren Dienst weihen, auch aus öffentlichen Mitteln
der Kirche unterhalten werden, und da es zu jener Zeit zudem auch einige Presbyter gab, die Gott ihr
Vermögen geweiht hatten und darüber freiwillig zu Armen geworden waren, so geschah die Verteilung
dergestalt, daß es den Dienern nicht an Unterhalt fehlte, zugleich aber die Armen nicht
vernachlässigt wurden. Trotzdem hütete man sich unterdessen, daß nicht die Diener selber, die
doch den anderen ein Vorbild der Genügsamkeit bieten sollen, soviel hatten, daß sie ihre
Einkünfte zu Üppigkeit und Vergnügen mißbrauchen konnten; sie sollten vielmehr nur soviel
bekommen, daß sie damit ihrer Notdurft Genüge leisten konnten. "Denn die Kleriker, die von ihrem
elterlichen Vermögen bestehen können", sagt Hieronymus, "die begehen, wenn sie etwas annehmen,
was den Armen zukommt, eine Heiligtumsschändung und essen und trinken sich durch solchen Mißbrauch
selbst das Gericht zu" (Aus dem Decretum Gratiani II,1,2,6).
IV,4,7 Ursprünglich war die Verwaltung (des Kirchenvermögens) frei und
freiwillig, da die Bischöfe und Diakonen von selbst treu waren und da für sie die Lauterkeit ihres
Gewissens und die Unschuld ihres Lebens an der Stelle der Gesetze stand. Als aber dann hernach aus
der Begehrlichkeit und dem üblen Treiben gewisser Leute ein böses Vorbild erwuchs, da hat man, um
solche Laster abzustellen, Rechtssatzungen aufgestellt. Diese teilten die Einkünfte der Kirche in
vier Teile, ein Teil wurde den Klerikern zugewiesen, der zweite den Armen, der dritte diente dazu,
die heiligen Gebäude und andere Baulichkeiten in gutem Zustande zu erhalten, der vierte wurde für
die ortsfremden wie auch für die einheimischen Armen bestimmt. Freilich weisen andere
Rechtssatzungen diesen letzten Teil dem Bischof zu; aber das bringt keine Veränderung gegenüber
der dargelegten Einteilung. Denn die Absicht ist dabei nicht, daß dies Gut dem Bischof selbst
gehören soll, so daß er es selber verschlingen oder nach Gutdünken verschwenden könnte, sondern
es soll dazu dienen, daß er der (Pflicht zur) Gastfreundschaft, die Paulus von einem Bischof
fordert, genügen kann (1. Tim. 3,2). So legen es auch Gelasius und Gregor aus; denn auf die Frage,
weshalb ein Bischof für sich etwas beanspruchen dürfe, gibt Gelasius keinen anderen Grund an als
den: er müsse in den Stand versetzt werden, den Gefangenen und Fremdlingen etwas zuteil werden zu
lassen (Decretum Gratiani II,16,3,2). Noch klarer redet Gregor; er sagt: "Der apostolische Stuhl
hat die Gepflogenheit, dem eingesetzten Bischof die Weisung zu geben, man solle alle eingehenden
Mittel in vier Teile einteilen; und zwar soll der erste Teil dem Bischof und seinen Hausgenossen
zukommen, damit er gastfrei sein und Herberge bieten kann, der zweite Teil soll für den Klerus, der
dritte für die Armen und der vierte für die Instandsetzung der Kirchen bestimmt sein" (Decretum
Gratiani II,12,2,30). Der Bischof durfte also nichts zu seinem eigenen Gebrauch entnehmen außer
dem, was zu mäßiger und einfacher Kost und Kleidung hinreichte. Wenn jemand anfing, Verschwendung
zu treiben, sei es durch Üppigkeit oder durch Prunk und Prachtentfaltung, so wurde er alsbald von
seinen Amtsgenossen zurechtgewiesen, und wenn er nicht gehorchte, so wurde er seiner Ehrenstellung
für verlustig erklärt.
IV,4,8 Was sie aber weiter auf die Ausschmückung der Heiligtümer
verwendeten, war im Anfang sehr wenig. Als dann die Kirche ein wenig reicher geworden war, da
hielten sie doch in dieser Hinsicht die maßvolle Schlichtheit bei. Jedoch verblieb alles Geld, das
sie daran verwandten, unverkürzt den Armen, wenn eine größere Not eintrat. So machte es z.B.
Kyrill: als das Gebiet von Jerusalem von einer Hungersnot heimgesucht wurde und dem Mangel nicht
anders abgeholfen werden konnte, da verkaufte er die (gottesdienstlichen) Gefäße und Gewänder und
verbrauchte den Ertrag zur Ernährung der Armen (Historia tripartita V,37). Ähnlich machte es der
Bischof Akatius von Amida, als eine große Menge von Persern beinahe Hungers gestorben wäre: er
rief die Kleriker zusammen, hielt eine treffliche Ansprache an sie: "Unser Gott hat weder
Schüsseln noch Kelche nötig; denn er ißt nicht und trinkt nicht" – und dann ließ er die
Gefäße einschmelzen, um den Armen Nahrung und Lösegeld zu verschaffen (Historia tripartita
XI,16). Auch erwähnt Hieronymus bei einer Strafrede gegen die allzu große Pracht der
Kirchengebäude mit Ehren den Bischof Exuperius von Tolosa, der den Leib des Herrn in einem
geflochtenen Körbchen und das Blut des Herrn in einem Glase trug, aber keinen einzigen Armen Hunger
leiden ließ (Brief 125). Was ich eben von Akatius sagte, das berichtet Ambrosius von sich selber;
als ihn nämlich die Arianer beschuldigten, er habe zur Loskaufung von Gefangenen die heiligen
Gefäße zerbrochen, da entschuldigte er sich mit folgenden trefflichen Worten: "Der, der die
Apostel ohne Gold ausgesandt hat, der hat auch die Kirche ohne Gold versammelt. Die Kirche hat zwar
Gold – aber nicht, um es aufzubewahren, sondern um es auszuteilen und den Menschen in ihren Nöten
zu Hilfe zu kommen. Wozu soll man auch bewahren, was niemandem etwas nützt? Wissen wir etwa nicht,
wieviel Gold und Silber, die Assyrer aus dem Tempel des Herrn weggenommen haben? Ist es, wenn andere
Hilfe mangelt, nicht besser, daß der Priester sie zum Unterhalt der Armen einschmelzen läßt, als
daß sie ein heiligtumsschändender Feind davonträgt? Wird (sonst) der Herr nicht sagen: ‘Weshalb
hast du es zugelassen, daß soviel Arme Hungers gestorben sind, wo du doch Gold hattest, von dem du
Nahrung hättest schaffen können? Weshalb sind so viele Gefangene davongeführt und nicht
losgekauft worden? Weshalb sind so viele vom Feind getötet worden? Es wäre besser gewesen, du
hättest die Gefäße lebendiger Menschen erhalten als die aus Metall!’ Auf diese Fragen wirst du
keine Antwort geben können; denn was wolltest du sagen? Willst du etwa antworten: ‘Ich hatte
Angst, es könnte dem Tempel Gottes an Zierat mangeln’? Er würde dir entgegnen: ‘Die Sakramente
verlangen nicht nach Gold, und was nicht mit Gold erkauft wird, das wird auch nicht durch Gold
wohlgefällig. Der Zierat der Sakramente ist die Loskaufung der Gefangenen!’" (Von den
Amtspflichten der Diener II,28,137f.) Kurzum, wir sehen, daß es sehr richtig war, wenn der gleiche
Ambrosius an anderer Stelle sagt, alles, was die Kirche damals besaß, sei zum Unterhalt der Armen
bestimmt gewesen, oder wenn er ebenso erklärt, ein Bischof besäße nichts, was nicht den Armen
gehörte (Brief 18,16; 20).
IV,4,9 Das, was wir aufgezählt haben, das waren die Ämter der Alten Kirche.
Denn die anderen, die die kirchlichen Schriftsteller erwähnen, waren eher Übungen und
Vorbereitungen als bestimmte Ämter. Denn jene heiligen Männer wollten gern ein Pflanzgärtlein der
Kirche hinterlassen, und sie nahmen dazu junge Menschen, die sich im Einvernehmen und mit Billigung
ihrer Eltern dem geistlichen Kriegsdienst verschrieben, in ihre Treue und Obhut und auch in ihre
Zucht auf, und diese bildeten sie nun von zartem Alter an so aus, daß sie einst nicht ungeschult
und als Neulinge an ihre Amtstätigkeit herantraten. Alle nun, die solchen Anfangsunterricht
genossen, wurden mit einer allgemeinen Bezeichnung "Kleriker" genannt. Ich möchte freilich, man
hätte ihnen einen anderen, besser zutreffenden Namen beigelegt. Denn diese Benennung ist aus Irrtum
oder jedenfalls aus verkehrter Gesinnung erwachsen; Petrus nämlich nennt die ganze Kirche den "Klerus",
das heißt das "Erbe" des Herrn (1. Petr. 5,3; Grundtext). Die Einrichtung selbst dagegen war
heilig und äußerst heilsam, bestand sie doch darin, daß die, welche sich und ihren Dienst der
Kirche weihen wollten, unter der Hut des Bischofs so erzogen wurden, daß nur der in den Dienst der
Kirche trat, der gut vorgebildet war, seit früher Jugend die heilige Lehre in sich aufgenommen, auf
Grund einer recht strengen Zucht eine gewisse Haltung des Ernstes und einer heiligen Lebensführung
sich angeeignet hatte, keine weltlichen Sorgen kannte und an geistliche Sorgen und Bemühungen
gewöhnt war. Wie man nun angehende Kriegsleute durch Übungsgefechte zum wahren, ernsthaften Kampfe
heranbildet, so gab es bestimmte Anfangsgründe, in denen jene Jünglinge zur Zeit ihres
Klerikertums geübt wurden, bevor man sie in die eigentlichen Ämter beförderte. Man trug diesen
Männern also zunächst die Fürsorge für das Öffnen und Schließen der Kirchengebäude auf und
nannte sie "Türhüter" (ostialii). Nachher nannte man sie "Akoluthen": diese sollten dem
Bischof mit häuslichen Dienstleistungen beistehen und ihn fortwährend begleiten, und zwar erstens
der Ehre wegen, zweitens aber auch zur Verhütung jeglichen Argwohns. Außerdem aber gab man ihnen
auch Gelegenheit, auf der Kanzel die Lesung zu halten (als "Lektoren"). Das geschah, damit sie
dem Volke allmählich bekannt würden und sich einen guten Ruf erwürben, auch damit sie es lernten,
den Anblick aller Leute zu ertragen und im Beisein aller zu reden: sie sollten eben nicht, wenn sie
Presbyter geworden waren und hervortraten, um ihr Lehramt auszuüben, vor Scham aus der Fassung
geraten. Auf diese Weise wurden sie von Stufe zu Stufe befördert, um ihren Fleiß bei jeder
einzelnen Übung zu beweisen, bis daß sie (schließlich) "Subdiakonen" wurden. Ich will nur
zeigen, daß es sich hier mehr um Anfängerübungen von Neulingen handelt als um die Ausübung von
Diensten, die zu den wahren Ämtern der Kirche zu rechnen wären.
IV,4,10 Ich habe oben dargelegt, daß bei der Berufung der Diener die erste
und zweite Frage darum geht, welche Leute man zu Dienern wählen und welchen ehrfürchtigen Ernst
man dabei walten lassen soll. In dieser Hinsicht ist nun die Alte Kirche der Vorschrift des Paulus
und dem Beispiel der Apostel gefolgt. Denn man pflegte zur Erwählung der Hirten (Pastoren) mit
höchster Ehrerbietung und unter eifriger Anrufung des Namens Gottes zusammenzukommen. Außerdem
hatte man eine feste Form der Prüfung, nach der man den Lebenswandel und die Lehre derer, die
erwählt werden sollten, gemäß jenem Richtmaß des Paulus erfragte. Nur versündigten sie sich
hier recht sehr durch unmäßige Strenge, indem sie nämlich mehr von einem Bischof verlangen
wollten, als es Paulus tut (1. Tim. 3,2-7); vor allem forderten sie mit fortschreitender Zeit die
Ehelosigkeit. Aber in den übrigen Punkten haben sie es der Beschreibung des Paulus entsprechend
gehalten. Was nun die Frage betrifft, die wir an dritter Stelle nannten, nämlich: wer die Diener
einsetzen soll, so haben die Alten da nicht immer die gleiche Ordnung innegehalten. In alter Zeit
wurde nicht einmal in die Schar der "Kleriker" jemand aufgenommen ohne Zustimmung des ganzen
Volkes. So entschuldigt sich Cyprian nachdrücklich, weil er einen gewissen Aurelius ohne Befragung
der Kirche als Lektor eingesetzt hatte; denn dies war gegen die Sitte, wenn auch nicht ohne Grund
geschehen. Seine Vorrede aber lautet dabei: "Bei der Einsetzung von Klerikern, teure Brüder,
pflegen wir euch zuvor zu Rate zu ziehen und in gemeinsamer Beratung den Lebenswandel und die
Verdienste des einzelnen zu erwägen" (Brief 38). Aber weil bei jenen geringeren Übungen keine
große Gefahr bestand – denn man nahm diese Leute ja zu einer lang andauernden Erprobung und nicht
zu einer wichtigen Amtsaufgabe an -, so hat man aufgehört, dazu die Einwilligung des Volkes zu
erbitten.
IV,4,11 Späterhin hat das Volk auch bei den übrigen Rangstufen mit Ausnahme
des Bischofsamtes durchgängig dem Bischof und den Presbytern das Urteil und die Auswahl
überlassen: diese sollten also darüber befinden, welche Leute dazu geschickt und würdig wären.
Anders war es, wenn der Fall vorlag, daß für die Parochien neue Presbyter bestimmt wurden; dann
mußte nämlich die Menge an dem betreffenden Ort ausdrücklich zustimmen. Es ist auch kein Wunder,
daß das Volk in dieser Beziehung weniger Gewicht darauf legte, sein Recht zu wahren. Denn es wurde
ja kein Mensch zum Subdiakon gemacht, der sich nicht als Kleriker, und zwar unter der damals
bestehenden Strenge der Zucht, durch eine lang andauernde Probe bewährt hatte. Wenn er auf dieser
Rangstufe erprobt war, so wurde er als Diakon eingesetzt, und von da aus gelangte er zu der Ehre des
Presbyteramtes, wenn er sich als treu erwiesen hatte. Es wurde also niemand befördert, der nicht
tatsächlich viele Jahre hindurch unter den Augen des Volkes seine Prüfung durchgemacht hatte. Auch
bestanden viele Rechtssatzungen zur Bestrafung ihrer Vergehen, so daß die Kirche nicht mit
schlechten Presbytern oder Diakonen belastet zu werden brauchte, wenn sie die vorhandenen
Hilfsmittel nicht vernachlässigte. Allerdings wurde auch bei den Presbytern stets die Einwilligung
der Bürger verlangt; das wird auch (im Decretum Gratiani) Distinktion 67, und zwar im Canon 1
bezeugt, der dem Anaklet zugeschrieben wird. Schließlich geschahen alle Amtseinweisungen zu
festgesetzten Zeiten des Jahres, damit sich niemand heimlich ohne Einwilligung der Gläubigen
einschlich oder mit gar zu großer Leichtigkeit ohne Zeugen befördert werden konnte. Bei der
Erwählung der Bischöfe wurde dem Volke seine Freiheit lange Zeit hindurch erhalten: es sollte also
niemand aufgedrängt werden, der nicht allen genehm war. Auf dem Konzil zu Antiochia (341) wurde
daher verboten, daß man jemand gegen den Willen des Volkes aufnötigte. Das bestätigt auch Leo I.
mit Nachdruck. Daher kommen die folgenden Aussagen: "Erwählt werden soll der, den der Klerus und
das Volk oder (wenigstens) die Mehrheit begehrt" (Brief 14,5). Ebenso: "Der, der einst allen
vorstehen soll, soll auch von allen erwählt werden. Denn wenn jemand zum Vorsteher ernannt wird,
der noch unbekannt und nicht geprüft ist, so bedeutet das ja notwendig, daß man ihn den Leuten
aufzwingt" (Brief 10,6). Oder ebenso: "Erwählt werden soll der, der von den Klerikern gewählt
und vom Volke begehrt worden ist, und der soll dann von den Bischöfen der Provinz mit Wissen und
Willen des Metropoliten eingesegnet werden" (Brief 167). Die heiligen Väter haben sich dermaßen
in acht genommen, daß diese Freiheit des Volkes nur ja auf keine Weise verkürzt würde, daß die
zu Konstantinopel versammelte allgemeine Synode ihre Absicht, den Nectarius (zum Patriarchen von
Konstantinopel) einzusetzen, nicht ohne die Zustimmung des ganzen Klerus und des Volkes
verwirklichen wollte, wie sie es in ihrem Brief an die römische Synode bezeugt hat. Wenn daher ein
Bischof einen Nachfolger für sich bestimmte, so hatte das nur dann Gültigkeit, wenn das ganze Volk
es beschloß. Dafür begegnet uns bei Augustin nicht nur ein Beispiel, sondern geradezu auch eine
feste Verfahrensform, und zwar bei der Benennung des Eraclius (Brief 110). Theodoret berichtet,
Athanasius habe den Petrus zu seinem Nachfolger bestimmt, aber er fügt gleich hinzu, die
Priesterschaft habe dies gelten lassen und die Obrigkeit samt den vornehmsten und dem ganzen Volke
hätten es durch ihre Zustimmungserklärung gebilligt (Kirchengeschichte IV,20).
IV,4,12 Allerdings, das gebe ich zu, bestand auch eine sehr begründete
Ursache für den Beschluß des Konzils von Laodicäa, der verbot, die Erwählung den Volksmassen zu
überlassen (Kap. 13). Es kommt nämlich kaum jemals vor, daß so viele Köpfe eine Sache in
einhelliger Meinung recht ordnen, und durchgängig bleibt wahr, was man gesagt hat: "Die Menge ist
unbestimmt und spaltet sich in einander widersprechende Bestrebungen auf" (Vergil). Aber gegen
diese Gefahr hat man ein sehr wirksames Mittel angewandt. Zuerst nämlich wählten die Kleriker
allein. Dann stellten sie den Erwählten der Obrigkeit oder dem Rat und den Vornehmsten vor. Diese
beratschlagten über die Sache, und wenn ihnen die Erwählung recht erschien, so bestätigten sie
sie; dünkte sie ihnen nicht richtig, so erwählten sie einen anderen Mann, der ihnen besser
zusagte. Dann (erst) wurde die Sache der Menge vorgelegt, die nun zwar an jene zuvor abgegebenen
Entscheidungen nicht gebunden war, aber doch weniger Aufruhr machen konnte. Oder man machte auch bei
der Menge den Anfang, aber das geschah nur, damit man erführe, wen sie am meisten begehrte; nachdem
man dann die Wünsche des Volkes vernommen hatte, vollzogen schließlich die Kleriker die
Erwählung. So durften weder die Kleriker bestellen, wen sie wollten, noch hielten sie sich auf der
anderen Seite daran gebunden, törichten Wünschen des Volkes zu willfahren. Diese Ordnung setzt Leo
(I.) an einer Stelle fest. Er sagt: "Man muß die Wünsche der Bürger, die Zeugnisse der Leute
aus dem Volk, die Entscheidung der Amtspersonen und die Wahl der Kleriker abwarten" (Brief 10,4).
Ähnlich sagt er: "Man soll sich an das Zeugnis der Amtspersonen, an die Einwilligung der Kleriker
und an die Zustimmung des Rats und des Volkes halten", "anders zu verfahren, besteht keine
Ursache" (Brief 10,6; 167). Auch jener Beschluß der Synode zu Laodicäa hat nur den Zweck, daß
sich die Kleriker und die Vornehmen nicht von der unbesonnenen Menge mitreißenlassen, sondern im
Gegenteil, wenn es erforderlich ist, die törichten Begehrungen der großen Masse mit ihrer Weisheit
und ihrem Ernst niederhalten.
IV,4,13 Diese Art der Erwählung war auch noch zu Gregors Zeiten in Kraft,
und sie hat wahrscheinlich auch noch lange danach fortgedauert. Es sind bei Gregor sehr viele Briefe
vorhanden, die hierfür ein klares Zeugnis abgeben. Jedesmal nämlich, wenn es sich irgendwo um die
Ernennung eines neuen Bischofs handelt, so pflegt Gregor an den Klerus, an den Rat und an das Volk
zu schreiben, zuweilen auch an den Fürsten, je nachdem, wie die Regierung der betreffenden Stadt
eingerichtet ist. Und wenn er etwa infolge des ungeordneten Zustandes der Kirche einem benachbarten
Bischof die Aufsicht bei der Wahl aufträgt, so fordert er doch stets einen feierlichen Beschluß,
der durch die Unterschrift aller (Beteiligten) bekräftigt sein muß. Auch dies steht in mehreren
Briefen zu lesen. So war ein gewisser Constantinus zum Bischof von Mailand ernannt worden; nun
hatten sich aber wegen der Einfälle fremdländischer Heerhaufen viele Mailänder nach Genua
geflüchtet: da hielt nun selbst in diesem Falle Gregor die Erwählung nur dann für gesetzmäßig,
wenn auch diese Geflüchteten zusammenberufen würden und ihre Zustimmung erklärten (Brief III,30).
Ja, es sind noch nicht fünfhundert Jahre verflossen, seit Papst Nikolaus (II.) für die Erwählung
des römischen Bischofs (1059) das Verfahren festsetzte, es sollten zunächst die Kardinalbischöfe
vorangeben, dann sollten sie den übrigen Klerus zu sich hinzunehmen, und schließlich sollte die
Wahl durch die Einwilligung des Volkes in Kraft gesetzt werden. Am Schluß führt er dann auch den
oben erwähnten Erlaß Leos (I.) auf und gibt die Anweisung, dieser solle auch weiterhin in Geltung
stehen. Selbst wenn einmal die Bosheit der Gottlosen dermaßen um sich gegriffen hat, daß die
Kleriker zur Durchführung einer reinen Wahl aus der Stadt heraus zu gehen genötigt sind, so gibt
Nikolaus doch das Gebot, es sollten stets einige Leute aus dem Volke mit dabeisein (Decretum
Gratiani I,23,1). Die Einwilligung des Kaisers war, soweit sich erkennen läßt, nur in zwei Kirchen
erforderlich, nämlich in der zu Rom und zu Konstantinopel, weil dies die beiden Residenzen des
Reiches waren. Allerdings wurde Ambrosius mit einer Vollmacht des Kaisers Valentinian nach Mailand
gesandt, um die Wahl eines neuen Bischofs zu leiten; aber das war etwas Außerordentliches, und es
geschah wegen der schweren Parteiungen, in die die Bürger gegeneinander entbrannt waren. In Rom
aber war in alter Zeit die Autorität des Kaisers bei der Ernennung des Bischofs von solcher
Bedeutung, daß Gregor erklärt, er sei auf seinen Befehl in die Leitung dieser Kirche eingesetzt
worden, obwohl er doch in feierlichem Verfahren vom Volke erbeten worden war (Brief I,5). Die
Gepflogenheit war dabei nun folgende: wenn die Standespersonen, der Klerus und das Volk jemanden
bestimmt hatten, so erstatten die ersteren dem Kaiser alsbald Bericht, damit er entweder durch seine
Bestätigung die Wahl bekräftigte oder sie durch seine Ablehnung nichtig machte. Dieser Gewohnheit
widersprechen die von Gratian gesammelten Erlasse nicht; in ihnen wird nichts anderes ausgesprochen,
als daß es auf keine Weise ertragen werden dürfe, daß der König unter Aufhebung der kanonischen
Wahl einen Bischof nach seinem Belieben einsetzte; ferner wird verfügt, die Metropoliten dürften
einen Bischof, der unter gewalttätiger Machtausübung ernannt worden sei, nicht einsegnen. Denn es
ist etwas anderes, ob man die Kirche ihres Rechtes beraubt, so daß alles dem Gutdünken eines
einzigen Menschen überlassen wird – oder ob man dem König oder dem Kaiser die Ehre gibt, mit
seiner Autorität die rechtmäßige Wahl zu bestätigen.
IV,4,14 Jetzt müssen wir weiter die (vierte) Frage behandeln, nach welchem
Brauch die Diener der Alten Kirche nach ihrer Erwählung in ihr Amt eingewiesen wurden. Diesen
Vorgang haben die Lateiner "Ordination" oder "Einsegnung" (Weihe), die Griechen "Cheirotonia"
oder zuweilen auch "Cheirothesia" ("Handaufhebung" oder zuweilen auch "Handauflegung")
genannt; freilich bedeutet "Handaufhebung" (cheirotonia) im eigentlichen Sinne jenes
Wahlverfahren, bei dem die Stimmabgabe durch Aufrecken der Hände kenntlich gemacht wird. Nun gibt
es einen Beschluß des Konzils in Nicäa, nach welchem der Metropolit mit allen Bischöfen der
Provinz zusammenkommen sollte, um den, der erwählt worden war, zu ordinieren. Wenn aber infolge der
weiten Entfernung oder durch Krankheit oder einen anderen Notfall ein Teil am Erscheinen verhindert
war, so sollten doch mindestens drei zusammenkommen, und die Abwesenden sollten ihre Einwilligung
schriftlich versichern. Als dann diese Rechtssatzung aus der Gewohnheit kam und dadurch in Abgang
geriet, wurde sie nachher noch von vielen Synoden erneuert. Die Anordnung, daß alle oder wenigstens
die, die keine Entschuldigung hatten, gegenwärtig sein mußten, hatte den Zweck, daß eine um so
strengere Prüfung der Lehre und des Lebenswandels dessen vorgenommen wurde, der ordiniert werden
sollte. Denn ohne solche Prüfung wurde die Ordination nicht vollzogen. Auch geht aus den Worten des
Cyprian hervor, daß diese Bischöfe nicht erst nach der Wahl herbeigerufen wurden, sondern daß sie
in alter Zeit gewöhnlich auch bei der Wahl selbst zugegen waren, und das hatte den Zweck, daß sie
gleichsam als Leiter wirkten, damit bei der Menge kein Durcheinander entstünde. Cyprian erklärt
nämlich zunächst, das Volk habe die Vollmacht, würdige Priester zu erwählen und unwürdige
abzulehnen; dann aber fügt er kurz nachher zu: "Deshalb muß – wie das auch bei uns und in fast
allen Provinzen geschieht – auf Grund der göttlichen und apostolischen Überlieferung fleißig
darauf geachtet und gehalten werden, daß zum gehörigen Vollzug der Ordinationen die Bischöfe der
betreffenden Provinz alle in der Gemeinde zusammenkommen, für welche man den Vorsteher ordiniert,
und daß der Bischof in Gegenwart des Volkes erwählt wird" (Brief 67). Aber da das Zusammenkommen
der Bischöfe oft allzulange Zeit in Anspruch nahm und Gefahr bestand, daß einige Leute diesen
Verzug als Gelegenheit zur Stimmenwerbung mißbrauchten, so kam man zu dem Beschluß, es sei
ausreichend, wenn die Bischöfe nach vollzogener Erwählung kämen und den Erwählten nach einer
gesetzmäßigen Untersuchung einsegneten.
IV,4,15 Obgleich dies nun allenthalben ohne Ausnahme geschah, wuchs doch nach
und nach eine andersartige Gepflogenheit heran, nämlich daß sich die Gewählten in die Hauptstadt
begaben, um die Ordination nachzusuchen. Das ist nun mehr aus Ehrgeiz und Verkehrung der alten
Ordnung als aus irgendeinem guten Grunde geschehen. Nicht lange danach, als die Autorität des
römischen Stuhls bereits größer geworden war, riß dann noch eine schlimmere Gewohnheit ein, daß
nämlich die Bischöfe von fast ganz Italien ihre Einsegnung (Weihe) von Rom begehrten. Das läßt
sich aus den Briefen Gregors ersehen. Nur wenigen Städten, die sich nicht so leicht hatten
zurückdrängen lassen, blieb ihr altes Recht erhalten. So findet man bei Gregor das Beispiel
Mailands erwähnt (Briefe III,30). Möglicherweise haben allein die Hauptstädte (d.h. die Sitze der
Metropoliten) ihr Vorrecht behalten. Denn zur Einsegnung (Weihe) des Erzbischofs pflegten alle
Bischöfe der Provinz eben in der Hauptstadt zusammenzukommen. Der bei der Ordination waltende
gottesdienstliche Brauch war übrigens die Handauflegung. Soweit ich nämlich lese, hat man
außerdem keinerlei Zeremonien angewandt, abgesehen davon, daß die Bischöfe bei der feierlichen
Versammlung bestimmte Schmuckgewänder getragen haben, um dadurch von den anderen Presbytern
unterschieden zu werden. Auch die Presbyter und Diakonen ordinierte man allein durch Handauflegung.
Jeder Bischof aber ordinierte seine Presbyter zusammen mit dem Kollegium der (anderen) Presbyter.
Obgleich nun (dabei) alle (d.h. Bischof und Presbyter) das gleiche taten, so sprach man doch von der
Ordination "durch den Bischof", weil dieser voranging und die Handlung gleichsam unter seiner
Anleitung geschah. Daher kann man bei den Alten oft zu lesen bekommen, der Presbyter sei nur darin
vom Bischof verschieden, daß er eben nicht die Vollmacht zur Ordination besitze.
Die alte Form des Kirchenregiments ist durch die Tyrannei des Papsttums völlig
zugrunde gerichtet worden
IV,5,1 Jetzt ist es erforderlich, die Ordnung der Kirchenleitung, wie sie
heutzutage der römische Stuhl und alle seine Trabanten innehalten, dazu auch das ganze Bild jener
Hierarchie, die sie immerzu im Munde führen, in Augenschein zu nehmen und mit der oben
beschriebenen Ordnung der ursprünglichen, alten Kirche zu vergleichen. Aus dieser
Gegenüberstellung soll dann deutlich werden, was das für eine Kirche ist, die jene Leute
innehaben, die allein auf diesen Titel übermütig pochen, um uns damit zu beschweren oder vielmehr
zu erdrücken. Am besten ist es, wenn wir dabei mit der Berufung beginnen, damit wir sehen, welche
Leute bei ihnen zum kirchlichen Amt berufen werden, welcher Art sie sind und aufweiche Weise die
Berufung geschieht. Danach werden wir dann auch betrachten, mit welcher Treue sie ihr Amt
ausfüllen. Den ersten Platz wollen wir aber den Bischöfen geben – ach, wenn es ihnen doch Ehre
einbringen könnte, bei dieser Erörterung an erster Stelle zu stehen! Aber die Sache selbst
erträgt es nicht, daß ich diesen Gegenstand auch nur leicht berühre, ohne daß es ihnen zu
größter Schande gereicht. Und doch werde ich im Auge behalten, mit was für einer Art von
Schrift(stellerei) ich hier beschäftigt bin, und ich werde meine Darlegungen, die der schlichten
Unterweisung dienen sollen, nicht über ihre Grenzen hinausgehen lassen. Trotzdem soll mir doch
einer von denen, die noch nicht ganz und gar alle Scham verloren haben, Antwort geben, was für
Bischöfe man heutzutage allenthalben erwählt. Eine Prüfung hinsichtlich der Lehre anzustellen,
das ist wahrhaftig gar zu sehr in Abgang gekommen. Wenn man irgendwie auf Lehre Rücksicht nimmt, so
wählt man irgendeinen Rechts gelehrten, der sich besser darauf versteht, vor Gericht einen Streit
zu führen, als in der Kirche zu predigen. Das steht fest, daß in den letzten hundert Jahren unter
hundert Bischöfen kaum einer erwählt worden ist, der etwas von der heiligen Lehre gewußt hätte.
Die vorausgehenden Jahrhunderte schone ich nicht etwa deshalb, weil sie viel besser gewesen wären,
sondern weil ich hier nur von der Kirche der Gegenwart reden will. Soll eine Beurteilung des
Lebenswandels eintreten, so werden wir finden, daß da nur wenige oder nahezu gar keine gewesen
sind, die die alten Rechtssatzungen nicht für unwürdig erklärt hätten. Wer kein Trunkenbold war,
der war ein Hurer, wer auch von diesem Laster rein war, der war ein Spieler oder ein Jäger oder
sonst in irgendeinem Stück seines Lebens ohne Zucht. Die Fehler nämlich, die auf Grund der alten
Rechtssatzungen einen Menschen vom Bischofsamt ausschließen, sind leichter (als die eben
genannten). Das weitaus Widersinnigste ist aber dies, daß man Knaben von kaum zehn Jahren mit
Bewilligung des Papstes zu Bischöfen gemacht hat. Man ist eben bis zu einem solchen Grad von
Schamlosigkeit und Abstumpfung gelangt, daß man nicht einmal vor jener äußersten und geradezu
ungeheuerlichen Schandtat zurückschreckt, die selbst dem natürlichen Empfinden voll und ganz
zuwider ist. Daraus geht deutlich hervor, was für "gottesfürchtige" Wahlen das gewesen sind,
bei denen eine derart leichtfertige Unachtsamkeit im Spiele war.
IV,5,2 Ferner ist bei der Wahl das ganze Recht des Volkes, von dem wir
sprachen, aufgehoben worden. Wünsche, Bewilligungen, Unterschriften und alle Dinge dieser Art sind
verschwunden. Die ganze Macht ist ausschließlich auf die Kanoniker übergegangen. Diese übertragen
das Bischofsamt, wem sie wollen; den von ihnen Bestimmten führen sie dann tatsächlich alsbald vor
das Angesicht des Volkes – aber nicht zur Prüfung, sondern zur Anbetung! (Leo I.) aber erklärt
doch demgegenüber, ein solches Verfahren sei unter keinen Umständen zulässig, er sagt
ausdrücklich, damit werde (der Bischof dem Volke) gewalttätig aufgedrängt! Cyprian bezeugt, es
gehe aus göttlicher Rechtssetzung hervor, daß die Wahl nur mit Einwilligung des Volkes erfolgen
darf, und damit zeigt er, daß die entgegengesetzte Gewohnheit mit dem Worte Gottes im Widerspruch
steht. So viele Synodalbeschlüsse verbieten auf das strengste ein anderes Verfahren; und wenn etwas
dergestalt Verbotenes doch geschehen ist, so gebieten sie, es solle ungültig sein. Wenn das wahr
ist, so ist heutzutage im ganzen Papsttum keine einzige Wahl mehr übrig, die nach göttlichem oder
kirchlichem Recht satzungsgemäß wäre. Aber wie werden sie es, selbst wenn sonst kein Übelstand
vorhanden wäre, doch fertig bringen, die Tatsache zu entschuldigen, daß sie die Kirche solcher
Gestalt ihres Rechtes beraubt haben? Sie sagen: Beim Volk und bei den Obrigkeiten hatten bei der
Wahl der Bischöfe Haß und Eifer mehr Gewicht als rechtes und gesundes Urteil, und so erforderte es
die Verderbnis der Zeiten, daß statt dessen die Entscheidung in dieser Sache wenigen übertragen
wurde. – Geben wir zu, dies wäre wirklich unter solch jämmerlichen Umständen das äußerste
Heilmittel gegen ein derartiges Übel gewesen. Aber es ist doch inzwischen offen zutage getreten,
daß die Arznei schädlicher ist als die Krankheit selbst – weshalb tritt man nun nicht auch diesem
neuen Übel entgegen? – Ja, antworten sie, aber es ist doch den Kanonikern selbst genau
vorgeschrieben, an welche Regeln sie sich bei der Wahl zu halten haben. – Aber behaupten wir denn,
das Volk habe in alter Zeit vielleicht nicht gewußt, daß es an höchst heilige Gesetze gebunden
war, wo es doch sah, daß ihm aus dem Worte Gottes eine Regel gesetzt war, wenn es zur Wahl eines
Bischofs zusammenkam? Denn jenes eine Wort Gottes, in dem er das wahre Bild eines Bischofs
beschreibt, mußte doch verdientermaßen mehr Gewicht haben als ungezählte Tausende von kirchlichen
Rechtssatzungen. Aber trotzdem war das Volk durch üble Gesinnung verdorben, so daß es auf Recht
und Billigkeit keine Rücksicht nahm! So steht es auch heutzutage: obwohl sehr gute Gesetze
geschrieben sind, bleiben sie doch in den Büchern begraben. Unterdessen ist es durch die Gewohnheit
durchgängig zur Annahme gekommen und auch, als geschähe es aus begründeter Ursache, gebilligt
worden, daß man Trunkenbolde, Hurer und Würfelspieler allenthalben zu solcher Ehre (nämlich zu
der des Bischofsamtes) befördert, ja – ich sage noch zu wenig -, daß die Bischofssitze Belohnungen
für Ehebruch und Kuppelei darstellen. Denn wenn sie (bloß) an Jäger und Vogelsteller vergeben
werden, dann muß man (schon) meinen, die Sache sei hervorragend ausgefallen! Eine solche
Unwürdigkeit auf irgendeine Weise zu entschuldigen, ist gar zu unverschämt. Das Volk hatte, so
sagte ich, in alter Zeit eine sehr gute Richtschnur (zur Wahl); denn das Wort Gottes schrieb ihm
vor, ein Bischof solle "unsträflich", "lehrhaft", "nicht zänkisch" sein usw. (1. Tim.
3,1-7). Weshalb hat man nun die Aufgabe, Bischöfe zu wählen, dem Volke genommen und sie auf die
Kanoniker übertragen? Darum (so sagt man), weil eben inmitten des Aufruhrs und der Parteiungen des
Volkes das Wort Gottes nicht mehr vernommen wurde. Und weshalb nimmt man diese Aufgabe nicht
heutzutage wieder den Kanonikern fort, die nicht nur alle Gesetze verletzen, sondern alle Scham von
sich werfen und in ihrer Zügellosigkeit, ihrer Geld- und Ehrsucht Göttliches und Menschliches
miteinander vermengen und verwirren?
IV,5,3 Es ist aber erlogen, wenn sie sagen, dies (neue) Verfahren habe man als
Heilmittel aufgebracht. Wir lesen zwar, daß in alter Zeit die Städte bei der Wahl von Bischöfen
oft in Aufruhr geraten sind, aber trotzdem hat niemand gewagt, daran zu denken, daß man den
Bürgern dieses Recht wegnehmen sollte. Denn man hatte andere Wege, um entweder solchen Fehlern
entgegenzutreten oder, wenn sie bereits begangen waren, für Abhilfe zu sorgen. Ich will aber sagen,
wie die Sache sich verhält. Als das Volk bei dem Vollzug der Wahl nachlässiger zu werden anfing
und diese Sorge, als ob sie ihm weniger anstünde, den Presbytern zuschob, da haben diese die
gebotene Gelegenheit mißbraucht, um eine tyrannische Macht an sich zu reißen, die sie dann hernach
durch Aufstellung neuer Rechtssatzungen befestigt haben. Die Ordination aber ist (bei den Papisten)
nichts anderes als ein reiner Spott. Das Scheinbild einer Prüfung, das sie dabei an den Tag legen,
ist dermaßen leer und inhaltlos, daß es sogar jeder Trugfarbe ermangelt. Wenn daher mancherorts
die Fürsten von den römischen Päpsten durch Vertrag das Recht erlangt haben, selbst die Bischöfe
zu benennen, dann ist damit der Kirche kein neuer Schaden zugefügt worden, weil ja damit die Wahl
nur den Kanonikern genommen ist, die sie ohne jedes Recht geraubt oder jedenfalls gestohlen hatten.
Wenn auf solche Weise die Bischöfe vom (fürstlichen) Hofe ausgesandt werden, um die Kirchen in
Besitz zu nehmen, so ist das allerdings gewiß ein sehr übles Beispiel, und fromme Fürsten hätten
die Pflicht, von solchem verderbten Brauch Abstand zu nehmen. Es ist nämlich jedesmal eine gottlose
Beraubung der Kirche, wenn man irgendeinem Volke einen Bischof aufdrängt, den es nicht begehrt oder
wenigstens mit freier Meinungsäußerung bestätigt hat. Aber tatsächlich hat jene unordentliche
Gewohnheit, die seit langer Zeit in den Kirchen bestand, den Fürsten die Gelegenheit geboten, die
Benennung der Bischöfe an sich zu ziehen. Sie wollten nämlich lieber, daß diese Wohltat von ihnen
ausginge, als von denen, die ebensowenig ein Recht dazu hatten und sie nicht weniger übel
mißbrauchten.
IV,5,4 Das ist also die herrliche Berufung, um derentwillen die Bischöfe sich
rühmen, sie wären die Nachfolger der Apostel! Sie behaupten nun aber weiter, das Recht zur
Einsetzung der Presbyter stehe ihnen allein zu. Aber sie verderben die alte Einrichtung dadurch auf
das übelste, daß sie mit ihrer Ordination eben nicht Presbyter einsetzen, die das Volk leiten und
weiden, sondern vielmehr Priester, die opfern sollen. Ebenso: wenn sie Diakonen weihen, so kümmern
sie sich nicht um deren wahre und eigentliche Amtspflicht, sondern sie ordinieren sie nur zu
bestimmten Zeremonien bei Kelch und Schale. Auf der Synode von Chalcedon (451) hat man nun aber
festgesetzt, es sollten keine "absoluten" Ordinationen stattfinden, das heißt: keine, bei denen
man nicht zugleich dem Ordinierten einen Platz anwiese, an dem er sein Amt ausüben sollte (vgl.
Decretum Gratiani I,70,1). Dieser Beschluß ist in zwiefacher Hinsicht von höchstem Nutzen. Er
dient erstens dazu, daß die Kirchen nicht mit überflüssigen Ausgaben belastet werden und nicht an
untätige Leute Geld ausgegeben wird, das man an die Armen verteilen sollte. Zweitens dient er dazu,
daß die, welche ordiniert werden, daran denken, daß sie nicht zu einer Ehre befördert, sondern
mit einem Amte beauftragt werden, zu dessen Ausrichtung sie sich durch feierliche Bezeugung
verpflichten. Die römischen Meister dagegen, die da meinen, man solle in der Religion für nichts
anderes sorgen als für den Bauch, erklären, unter dem "Titel" (im Sinne des obigen
Beschlusses) sei ein Einkommen zu verstehen, das zum Lebensunterhalt ausreiche, ob es nun aus
elterlichem Erbgut oder aus einem Priesteramt herfließe. Wenn sie also einen Diakon oder einen
Presbyter ordinieren, so machen sie sich keine Sorge darum, wo diese ihr Amt ausüben sollen,
sondern übertragen ihnen ihren Rang, wenn sie nur reich genug sind, um sich zu ernähren. Aber
welcher Mensch wird annehmen wollen, daß der "Titel", den der Beschluß des Konzils erfordert,
ein jährliches Einkommen zum Lebensunterhalt bedeute? Nun haben die neueren Rechtssatzungen die
Bischöfe, um ihr gar zu großes Entgegenkommen (bei der Ordination) zu dämpfen, zum Unterhalt
derer verurteilt, die sie ohne geeigneten "Titel" ordiniert haben. Aber da hat man sich denn
auch eine Vorsichtsmaßregel ausgedacht, um mit ihrer Hilfe der Strafe zu entgehen. Derjenige, den
man ordiniert, verspricht nämlich nach Nennung irgendeines "Titels", er wolle damit zufrieden
sein. Durch diese Abmachung wird ihm das Recht zu einer Klage auf Unterhalt entrissen. Ich will noch
von den tausend Betrügereien schweigen, die dabei vorkommen. So erdichten sich einige Leute eitle
"Titel" von Priesterstellen, aus denen sie nicht fünf Heller im Jahre zusammenbringen können.
Andere erhalten auf Grund heimlicher Verabredung eine Pfründe geliehen, und sie versprechen, sie
sofort zurückzugeben, geben sie aber zuweilen nicht zurück. Dazu kommen dann noch andere "Geheimnisse"
dieser Art.
IV,5,5 Aber selbst wenn diese gröberen Mißbräuche behoben werden sollten -
bleibt es dann nicht doch immerfort ein Widersinn, einen Presbyter einzusetzen, dem man keinen Platz
(zur Ausübung seines Dienstes) anweist? Denn die Papisten ordinieren tatsächlich niemanden zu
einem anderen Dienst als allein zum Opfern. Die rechtmäßige Ordination eines Presbyters geschieht
dagegen dann, wenn man ihn zur Regierung einer Kirche, diejenige eines Diakons, wenn man ihn zur
Verwaltung der Almosen beruft. Sie umgeben zwar das, was sie tun, mit viel Gepränge, damit es unter
solchem Schein bei schlichten Leuten Verehrung genießt. Aber was können solche Larven bei
vernünftigen Menschen für einen Wert haben, wo doch nichts Festes und Wahres dahinter steckt? Denn
sie wenden Zeremonien an, die sie entweder aus dem Judentum herbeiholen oder aus sich selbst heraus
zusammendichten – und von denen man besser Abstand nähme! Von der wahren Prüfung (in der Lehre)
aber – denn bei jenem Schatten, den sie beibehalten, halte ich mich nicht auf -, von der
Einwilligung des Volkes und von anderen notwendigen Dingen ist keine Rede. Einen "Schatten"
nenne ich jene lächerlichen Gebärden, die danach gemacht sind, die alte Zeit unpassend und
inhaltslos nachzuahmen. Die Bischöfe haben ihre Vikare, die vor der Ordination eine Untersuchung
über die Lehre anstellen. Aber was stellen sie da für Fragen? Sie erkundigen sich, ob die
Anwärter auch ihre Messen lesen können, ob sie irgendein gewöhnliches Hauptwort, das in der
Lesung vorkommt, zu deklinieren oder irgendein Zeitwort zu konjugieren vermögen oder ob sie die
Bedeutung eines einzigen Ausdrucks kennen – denn es ist nicht erforderlich, daß sie den Sinn auch
nur eines einzigen Versleins wiederzugeben verstehen! Trotzdem werden auch die, die in diesen
kindlichen Anfangsgründen versagen, nicht gleich vom Priestertum ausgeschlossen, wenn sie nur
irgendeine Empfehlung an Geld oder Gunst beibringen. Aus dem gleichen Mehl ist dann das nächste
gebacken: wenn die, die ordiniert werden sollen, vor den Altar gestellt werden, dann fragt man
dreimal mit Worten, die niemand versteht, ob sie auch dieser Ehre würdig seien; dann ist da einer,
der sie nie zu Gesichte bekommen hat, der aber, damit nichts an der gesetzten Form fehlt, im Spiel
diese Rolle überkommen hat – und der antwortet: "Sie sind würdig"! Was soll man gegen diese
verehrungswürdigen Väter anders für eine Beschuldigung vorbringen als dies, daß sie in solch
offenem Frevel ihr Spiel treiben und damit Gott und Menschen ohne Scham verlachen? Aber weil sie
bereits lange Zeit im "Besitz" dieser Sache sind, so meinen sie, das sei ihnen nun erlaubt. Wenn
nun aber jemand gegen so offenkundige und furchtbare Laster den Mund aufzutun wagt, so wird er von
ihnen gleich vor Gericht geschleppt, als ob er ein todeswürdiges Verbrechen begangen hätte – wie
der Mann, der einst die heiligen Geheimnisse der Ceres in die Öffentlichkeit gebracht hatte!
Würden sie das wohl tun, wenn sie meinten, es gäbe einen Gott?
IV,5,6 Wie steht es nun mit der Austeilung der Pfründen (Benefizien), die
einst mit der Ordination verbunden war, jetzt aber völlig von ihr getrennt ist? Wieviel besser
führen sich die Papisten dabei auf? Hier besteht nun bei ihnen eine vielfältige Art und Weise.
Denn die Bischöfe sind nicht die einzigen, die Priesterstellen verleihen, und auch bei solchen
Stellen, deren "Kollatoren" (Besetzungsberechtigte) sie heißen, haben sie nicht immer volles
Recht, sondern andere haben (oft) das Benennungsrecht (praesentatio), die Bischöfe selber aber
behalten zu ihrer Ehrung den Titel des Besetzungsrechts bei. Dazu kommen dann noch die
Pfründenverleihungen auf der Schulbank, die "Resignationen", und zwar "einfache" oder auch
solche, die auf Grund eines Austauschs erfolgen, dazu die Empfehlungsschreiben, die "Präventionen"
(Vorgriffsrechte) und was dergleichen mehr ist. Aber die Beteiligten verhalten sich alle so, daß
keiner von ihnen dem anderen einen Vorwurf machen kann! So behaupte ich: im Papsttum wird heutzutage
unter hundert Pfründen kaum eine ohne Simonie vergeben, wenn wir die Simonie so verstehen, wie die
Alten sie definiert haben. Ich sage nicht, daß sie alle ihre Pfründen mit barem Gelde kaufen -
aber man soll mir von zwanzig auch nur einen zeigen, der durch keinerlei versteckte Empfehlung zum
Priesteramt käme! Die einen erlangen ihre Beförderung durch Blutsverwandtschaft oder
Verschwägerung, die anderen durch das Ansehen ihrer Eltern, wieder andere erwerben sich Gunst durch
Dienstwilligkeit. Kurzum, die Pfründen werden nicht etwa zu dem Zweck vergeben, daß dadurch die
Kirchen versorgt würden, sondern vielmehr, daß für die Leute gesorgt wird, die sie bekommen.
Deshalb nennt man sie ja auch "Benefizien" (Wohltaten) – ein Name, mit dem man genugsam zu
erkennen gibt, daß man sie nicht anders einschätzt als die Schenkungen von Fürsten, mit denen
sich diese die Gunst ihrer Kriegsleute erwerben oder auch ihre Anstrengungen belohnen. Ich übergehe
dabei noch, daß man solche "Belohnungen" auch an Barbiere, Köche, Maultiertreiber und andere
Leute dieses Schlags vergibt. Zudem hallen heutzutage die Gerichte fast von keinen Streitigkeiten
mehr wider als von solchen, die sich um Pfründen drehen – man könnte geradezu sagen, daß die
Pfründen nichts anderes sind als eine Beute, die man den Hunden zur Jagd vorwirft! Ist es nicht
unerträglich zu hören, daß man Leute als "Hirten" bezeichnet, die in den Besitz einer Kirche
eingebrochen sind, als wäre sie ein feindliches Gebiet, die diesen Besitz als Siegesbeute durch
Streitereien vor Gericht gewonnen oder mit Geld erkauft oder mit schmutzigen Diensten erworben
haben, die als Knaben, die kaum zu stammeln vermochten, in solchen Besitz hineingewachsen sind, als
sei er ein Erbbesitz von ihren Onkeln oder verwandten oder zuweilen gar – sofern sie Bastarde sind -
von ihren Vätern her?
IV,5,7 Wäre wohl die Zügellosigkeit des Volkes, so verderbt und gesetzlos es
auch gewesen sein mag, je soweit gegangen? Eine noch größere Ungeheuerlichkeit ist es aber, daß
ein einziger Mensch – ich sage nichts davon, was für einer, jedenfalls aber einer, der sich selber
nicht zu regieren vermag – an die Spitze von fünf oder sechs Kirchen gestellt wird, um sie zu "leiten".
Man kann heutzutage an den Fürstenhöfen junge Männer sehen, die dreimal Äbte, zweimal Bischöfe
und einmal Erzbischöfe sind. Durchgängig aber sind sie Kanoniker, mit fünf, sechs, sieben
Pfründen beladen, um die sie sich durchaus nur insofern sorgen, als sie sich eben darum kümmern,
Einkünfte aus ihnen zu empfangen. Ich will da nicht den Einwurf machen, daß Gottes Wort dagegen
allenthalben Einspruch erhebt – denn das hat bei diesen Leuten seit langer Zeit aufgehört, auch nur
die mindeste Bedeutung zu haben. Ich will auch nicht den Einwurf machen, daß man auf vielen
Konzilien gegen diese Unverschämtheit die schärfsten Verordnungen erlassen hat – denn auch diese
verachten sie wacker, so oft es ihnen paßt. Ich sage aber dies: daß ein einziger Räuber viele
Kirchen zugleich mit Beschlag belegt, und daß man einen Menschen als "Hirten" bezeichnet, der,
selbst wenn er will, nicht bei seiner Herde sein kann – das sind beides ungeheuerliche
Schändlichkeiten, die Gott, der Natur und dem Kirchenregiment ganz und gar zuwider sind. Und doch
verdeckt man in seiner Schamlosigkeit solch widerwärtige Greuel hinter dem Namen der Kirche, um sie
jedem Vorwurf zu entziehen. Ja, "wenn es Gott gefällt", so besteht in diesen Nichtsnutzigkeiten
jene hochheilige Aufeinanderfolge (der Bischöfe), deren Verdienst es, wie sie rühmen, zuwege
gebracht hat, daß die Kirche nicht untergegangen ist.
IV,5,8 Jetzt wollen wir zusehen, mit welcher Treue sie ihr Amt ausüben; denn
das ist das zweite Kennzeichen, nach dem man einen rechtmäßigen Hirten beurteilen soll. Unter den
Priestern, die man bei den Papisten einsetzt, sind die einen Mönche, die anderen sogenannte
Weltpriester. Dabei ist der erste Haufe der Alten Kirche unbekannt gewesen. Auch steht das Innehaben
einer solchen Stelle (nämlich des Priesteramts) in der Kirche mit dem Mönchsberuf in einem solchen
Gegensatz, daß Leute, die einst aus den Klöstern heraus in den Klerus aufgenommen wurden,
aufhörten Mönche zu sein. Ja, selbst Gregor (I.), zu dessen Zeiten die Kirche bereits sehr viel
Unsauberkeit an sich trug, hat trotzdem nicht geduldet, daß eine derartige Verwirrung eintrat. Er
will nämlich, daß Leute, die Äbte geworden sind, auf ihren Stand als Kleriker verzichten, und
zwar, weil niemand zu gleicher Zeit rechtmäßig Mönch und Kleriker sein könne, da eben eins für
das andere ein Hindernis sei (Brief IV,11). Wenn ich nun frage, wieso denn einer, den die
kirchlichen Rechtssatzungen für nicht geeignet erklären, sein Amt recht ausfüllen könne – was
will man mir dann, das möchte ich zu gerne wissen, für eine Antwort geben? Man wird mir natürlich
jene unzeitig zur Welt gekommenen Anordnungen des Innozenz und des Bonifaz zitieren, nach denen
Mönche zur Würde und Vollmacht des Priesteramtes zugelassen werden und doch gleichzeitig in ihren
Klöstern verbleiben. Aber was ist das für eine Sache, daß irgendein ungelehrter Esel, sobald er
nur den römischen Stuhl in Beschlag genommen hat, die ganze alte Ordnung mit einem einzigen
Wörtlein über den Haufen wirft? Aber darüber nachher. Für jetzt soll die Feststellung genügen,
daß man es in der reineren Kirche für einen großen Widersinn gehalten hat, wenn ein Mönch das
Priesteramt ausübte. Denn Hieronymus erklärt, daß er, solange er unter den Mönchen lebt, nicht
die Amtspflicht eines Priesters verrichtet; nein, er betrachtet sich als einen aus dem Volke, der
von den Priestern regiert wird. Aber lassen wir ihnen das selbst durchgehen, so bleibt doch die
Frage, was für eine Amtspflicht sie eigentlich erfüllen. Einige von den Bettelmönchen predigen.
Alle anderen Mönche singen und murmeln Messen in ihren Winkeln. Als ob es nach dem Willen Christi
wäre oder als ob es das Wesen dieses Amtes duldete, daß man sie zu diesem Zweck zu Presbytern ("Priestern")
machte! Die Schrift bezeugt doch offen und klar, daß ein Presbyter die Aufgabe hat, seine eigene
Kirche zu regieren (Apg. 20,28). Ist es dann nicht eine gottlose Entweihung, wenn man die heilige
Stiftung Gottes in eine andere Richtung bringt, ja, wenn man sie voll und ganz verwandelt? Denn wenn
die Mönche ordiniert werden, so wird ihnen doch ausdrücklich verboten, das zu tun, was Gott allen
Presbytern ("Priestern") als Pflicht auferlegt hat. Es wird ihnen doch das Liedlein gesungen:
Ein Mönch soll sich mit seinem Kloster zufrieden geben und sich nicht unterstehen, die Sakramente
zu verwalten oder sonst irgend etwas zu verrichten, was Sache des öffentlichen Amtes ist. Nun
sollen sie es doch, wenn sie können, bestreiten, daß es eine offene Verspottung Gottes ist, wenn
man einen zu dem Zweck als Presbyter einsetzt, daß er sich seiner wahren und reinen Amtspflicht
enthält, und wenn einer, der den Namen hat, die (zugehörige) Sache nicht haben kann!
IV,5,9 Jetzt komme ich zu den Weltpriestern. Diese sind zum Teil Pfründner,
wie man sagt; das heißt: sie haben Priesterstellen, um sich von ihnen zu ernähren. Zum anderen
Teil vermieten sie ihre täglichen Dienste zum Messelesen und Singen, und sie fristen ihr Leben
gleichsam von dem (dabei) aufgebrachten Lohn. Die Pfründen umfassen zum Teil die Seelsorge, wie
z.B. Bistümer und Pfarreien; zum Teil sind sie eine Besoldung für verwöhnte Leute, die sich mit
Singen ihr Brot verdienen, so z.B. die Praebenden, Kanonikerstellen, Personate, Dignitäten
(bestimmte Domherrenstellen), Kaplansstellen und dergleichen. Allerdings werden, wo die Dinge oben
und unten bereits voll und ganz über den Haufen geworfen sind, auch Abts- und Priorstellen nicht
nur an Weltpriester, sondern auch – durch "Privileg", das heißt nach allgemeiner,
gebräuchlicher Gewohnheit – an Knaben vergeben. Was nun die Lohnpriester betrifft, die Tag für Tag
ihren Unterhalt suchen – was sollten die anders machen, als sie wirklich tun? Was sollten sie anders
machen, als daß sie sich in einer Weise, die eines freien Mannes unwürdig und die beschämend ist,
zu schnödem Gewinn mißbrauchen lassen? Vor allem in der Menge, in der heutzutage die Welt von
ihnen überströmt! Weil sie nun also nicht öffentlich zu betteln wagen oder weil sie meinen, auf
diesem Wege allzu wenig zu erreichen, so laufen sie wie hungrige Hunde umher und pressen den
Menschen, die nicht wollen, durch ihr unverschämtes Geilen wie durch Gebell etwas ab, um damit
ihren mageren Leib zu füllen. Wenn ich nun hier versuchte, mit Worten darzutun, was für eine
Schande es der Kirche bringt, daß die Ehre und das Amt eines Presbyters so weit heruntergekommen
sind, so würde ich kein Ende finden. Die Leser haben also keinen Anlaß, von mir eine Rede zu
erwarten, die einer solch schandbaren Unwürdigkeit entspräche. Ich sage nur kurz: nach der
Vorschrift des Wortes Gottes (1. Kor. 4,1) und auch nach den Erfordernissen der alten
Kirchensatzungen hat der Presbyter die Amtsverpflichtung, die Kirche zu weiden und Christi
geistliches Reich zu verwalten; wenn es aber so steht, dann gilt von all solchen Meßpriestern, die
ihre Arbeit und ihren Lohn bloß beim Handel mit Messen finden, daß sie nicht nur ihre Amtspflicht
unterlassen, sondern überhaupt kein rechtmäßiges Amt haben, das sie ausüben könnten. Denn es
bietet sich ihnen gar keine Gelegenheit zur Unterweisung, und sie haben auch keine Gemeinde, die sie
regieren könnten. Kurzum, es bleibt ihnen nichts außer dem Altar, um Christus darauf zu "opfern"
- das bedeutet aber, wie wir an anderer Stelle sehen werden, nicht etwa, Gott Opfer zu bringen,
sondern den Teufeln!
IV,5,10 Ich berühre hier nicht die von außen hinzukommenden Gebrechen,
sondern ausschließlich den inwendigen Schaden, der ihrer Gestaltung der Dinge von der Wurzel her
anhaftet. Ich will noch ein Wörtlein zufügen, das in ihren Ohren übel klingen wird; aber weil es
wahr ist, darum muß man es aussprechen: Alle Kanoniker, Dekane, Kaplane, Pröpste und all jene
Leute, die sich von müßigen Priesterämtern ernähren, sind (mit den oben genannten Meßpriestern)
auf eine Linie zu stellen! Denn was für einen Dienst können sie der Kirche leisten? Sie haben doch
die Predigt des Wortes, die Sorge für die kirchliche Zucht und die Verwaltung der Sakramente als
gar zu unbequeme Belastungen von sich abgeschoben! Was ist ihnen also übriggeblieben, auf Grund
dessen sie sich rühmen könnten, sie seien wahre Presbyter? Selbstverständlich das Singen und das
Gepränge der Zeremonien. Aber was hat das mit der Sache zu tun? Wenn sie sich auf die Gewohnheit,
die Übung und den zwingenden Einfluß der langen Zeit berufen, so verweise ich demgegenüber auf
Christi Bestimmung (des Amtes), in der er uns die wahren Presbyter beschrieben und damit gezeigt
hat, was die haben müssen, die als solche angesehen werden wollen. Wenn sie nun aber ein so hartes
Gesetz nicht zu tragen vermögen, daß sie sich der Regel Christi unterwerfen, so sollen sie
wenigstens zulassen, daß diese Sache auf Grund der Autorität der ursprünglichen Kirche abgemacht
wird. Aber sie werden keineswegs besser daran sein, wenn über ihren Zustand nach den alten
Kirchensatzungen geurteilt wird. Die Leute, die (heutzutage) zu Kanonikern entartet sind, sollten
eigentlich Presbyter sein, so wie es einst die waren, die mit dem Bischof gemeinsam die Kirche
leiteten und gleichsam im Hirtenamt seine Amtsgenossen waren. Jene sogenannten "Würdenträger in
den Kapiteln" (dignitates capitulares) haben überhaupt mit der wahren Regierung der Kirche nichts
zu tun, noch viel weniger die Kaplanschaften und der sonstige Bodensatz solcher Titel. Wofür sollen
wir sie deshalb alle miteinander halten? Auf jeden Fall schließt sie das Wort Christi und auch der
Brauch der Alten Kirche von der Ehre des Presbyteramtes aus. Trotzdem behaupten sie, sie seien
Presbyter. Aber man muß ihnen die Maske vom Gesicht reißen; dann werden wir finden, daß ihr
ganzer Beruf mit jenem Amt der Presbyter, das uns die Apostel beschreiben und das in der
ursprünglichen Kirche gefordert wurde, rein nichts zu tun hat und weit von ihm entfernt ist. Alle
solchen Rangstufen – mit was für Titeln sie auch ausgezeichnet sein mögen – sind also neue
Fündlein, die jedenfalls weder auf Gottes Stiftung, noch auf die Ordnung der Alten Kirche gestützt
sind, und deshalb dürfen sie in der Ordnung des geistlichen Regiments, das die Kirche als von dem
Mund des Herrn selber geheiligt empfangen hat, keinen Platz einnehmen. Oder – wenn sie lieber
wollen, daß ich ungeschliffener und gröber rede -: da die Kapläne, Kanoniker, Dekane, Pröpste
und dergleichen faule Bäuche nicht einmal mit dem kleinsten Finger irgendein Stücklein von jener
Amtspflicht anrühren, die von den Presbytern notwendig verlangt wird, so ist es nicht zu ertragen,
daß sie sich fälschlich solche Ehre anmaßen und dadurch Christi heilige Stiftung entweihen.
IV,5,11 Jetzt sind noch die Bischöfe und die Pfarrherren übrig. Ach, wenn
sie sich doch anstrengten, bei ihrer Amtspflicht zu bleiben! Denn wir würden ihnen gern zugeben,
daß sie ein frommes und herrliches Amt haben – wenn sie es nur ausübten! Aber wenn sie die ihnen
anvertrauten Kirchen verlassen, die Sorge um sie auf andere abwälzen und trotzdem für "Hirten"
gehalten werden wollen, so tun sie gerade so, als ob das Amt eines Hirten darin bestände, nichts zu
tun. Wenn sich ein Wucherer, der nie einen Fuß vor die Stadt gesetzt hätte, für einen Bauern oder
Weingärtner ausgäbe, oder wenn sich ein Kriegsknecht, der fortgesetzt auf dem Schlachtfeld oder im
Lager lebte, aber nie ein Gericht oder Bücher zu sehen bekommen hätte, für einen Rechtsgelehrten
verkaufen wollte – wer wollte dann solche unsinnigen Nichtsnutzigkeiten ertragen? Aber diese Leute
tun noch etwas wesentlich Widersinnigeres, indem sie als rechtmäßige Hirten der Kirche erscheinen
und bezeichnet werden möchten und es doch nicht (einmal) sein wollen. Denn wie wenige sind unter
ihnen, die auch nur zum Schein die Regierung ihrer Kirche führen! Die meisten verzehren ihr Leben
lang die Einkünfte von Kirchen, die sie nicht einmal zum Zweck der Aufsichtsführung je besuchen.
Andere kommen im Jahre einmal selber hin oder schicken ihren Verwalter, damit nichts an der Pacht in
Verlust gerät. Als diese Verderbnis zuerst aufkam, da machten sich die, die diese Art von
Müßiggang genießen wollten, noch durch (besondere) Privilegien frei; jetzt aber ist es ein
seltenes Beispiel, wenn jemand in seiner Kirche wohnt. Sie sehen nämlich in den Kirchen nichts
anderes als Landhäuser, deren Leitung sie ihren Vikaren gleich Verwaltern oder Pächtern
übertragen. Aber das ist auch selbst dem natürlichen Empfinden zuwider, daß einer der Hirte einer
Herde ist, der nie ein Schaf aus ihr zu sehen bekommen hat.
IV,5,12 Schon zur Zeit Gregors (I.) sind offenbar gewisse Keime des
Übelstandes vorhanden gewesen, daß die Vorsteher der Kirchen in der Unterweisung recht nachlässig
zu sein begannen; denn an einer Stelle führt er darüber ernste Klage. "Die Welt", sagt er, "ist
voll von Priestern, und doch findet man selten einen Arbeiter in der Ernte; denn wir übernehmen
zwar das priesterliche Amt, aber das Werk, das zu diesem Amt gehört, das richten wir nicht aus"
(Predigten über die Evangelien I,17,3). Ebenso: "Weil sie das Herzblut der Liebe nicht haben,
darum wollen sie als Herren angesehen werden; aber daß sie Vater sind, das erkennen sie überhaupt
nicht; den Platz der Niedrigkeit verwandeln sie in den Stolz der Herrschaft" (Ebenda). Oder
ebenso: "Aber wir, ihr Hirten, was tun wir, wenn wir den Lohn empfangen, aber keine Werkleute
sind? ... Wir sind auf Dinge verfallen, die uns nichts angehen. Wir übernehmen das eine, aber wir
tun etwas anderes. Wir verlassen den Dienst der Predigt, und wie ich sehe, werden wir zu unserer
Strafe Bischöfe genannt, wir, die wir allein den Titel der Ehre, nicht aber den der Tugend führen"
(Ebenda). Wenn Gregor solch harte Worte gegen Leute gebraucht, die in ihrem Amte bloß weniger
eifrig und fleißig waren – was würde er dann wohl, frage ich, sagen, wenn er sähe, daß unter den
Bischöfen fast keiner oder jedenfalls nur selten einer, unter den übrigen kaum einer unter hundert
je eine Kanzel besteigt? Denn man ist dermaßen von Sinnen geraten, daß es allgemein als eine Sache
gilt, die unter der Würde eines Bischofs ist, wenn einer eine Predigt an das Volk hält. Zur Zeit
des Bernhard (von Clairvaux) waren die Dinge bereits wesentlich schlimmer in Verfall geraten (als zu
Gregors Zeiten); aber wir sehen auch, mit was für bitteren Vorwürfen er gegen den ganzen Stand
losfährt; und doch ist anzunehmen, daß dieser damals nicht wenig besser in Ordnung war, als er es
heute ist.
IV,5,13 Wenn jemand die ganze Gestalt des Kirchenregiments, wie sie
heutzutage unter dem Papsttum besteht, gehörig erwägt und untersucht, so wird er finden, daß es
keine Räuberhöhle gibt, in der die Räuber willkürlicher ohne Gesetz und Maß wüteten. Auf jeden
Fall ist dort alles der Einsetzung Christi dermaßen unähnlich, ja fremd, man ist von den alten
Einrichtungen und Sitten der Kirche dermaßen abgefallen, man lebt in solchem Widerspruch gegen
Natur und Vernunft, daß man Christus gar keine größere Unehre antun kann, als indem man seinen
Namen als Vorwand zur Verteidigung solch ordnungswidrigen Regiments benutzt. Wir sind – so sagt man
- die Pfeiler der Kirche, die Obersten in der Religion, wir sind die Stellvertreter Christi, die
Häupter der Gläubigen; denn die apostolische Vollmacht ist durch die Aufeinanderfolge (der
Bischöfe) auf uns gekommen. Immerzu brüsten sie sich mit solchen Nichtsnutzigkeiten – als ob sie
zu Klötzen sprächen! Jedesmal aber, wenn sie darauf pochen, so frage ich sie wiederum, was sie
denn mit den Aposteln gemeinsam hätten. Denn es handelt sich hier nicht um eine erbliche Würde,
die man einem im Schlafe übertragen könnte, sondern um das Predigtamt, dem sie so sehr aus dem
Wege gehen. Und ähnlich: wenn wir erklären, ihr Regiment sei die Tyrannei des Antichrists, so
wenden sie immerzu ein, es sei jene verehrungswürdige "Hierarchie", die so oft von großen und
heiligen Männern gepriesen worden sei. Als ob die heiligen Väter, wenn sie die kirchliche
Hierarchie oder das geistliche Regiment, wie es ihnen von den Aposteln überliefert war, hoch
rühmten, im Traum an dieses mißgestaltete und von Verwüstung erfüllte Chaos gedacht hätten, wo
die Bischöfe entweder zuallermeist ungebildete Esel sind, die nicht einmal die ersten und
bekanntesten Grundelemente des Glaubens kennen, oder auch Kinder, die eben frisch von der Säugamme
kommen, wo, wenn es einige gibt, die etwas gelehrter sind – was jedoch selten der Fall ist -, diese
das Bischofsamt für nichts anderes halten als für einen Titel von Prunk und Gepränge, wo die
Vorsteher der Kirchen ebensowenig an das Weiden ihrer Herde denken wie der Schuster ans Ackerbauen,
und wo alles in einer mehr als babylonischen Verwirrung so durcheinandergebracht ist, daß von der
Einrichtung der Väter keine unversehrte Spur mehr zum Vorschein kommt.
IV,5,14 Wie sieht es nun aus, wenn wir jetzt auf den Lebenswandel zu sprechen
kommen? Wo ist da wohl jenes "Licht der Welt", das Christus fordert, wo ist das "Salz der Erde"
(Matth. 5,14.13)? Wo ist wohl jene Heiligkeit, die gleichsam als beständige Lebensregel dienen
könnte? Kein Stand unter den Menschen ist heutzutage berüchtigter wegen seiner Ausschweifungen,
seiner Verweichlichung, seiner Vergnügungen, kurz jeder Art von Begierden, aus keinem Stand kommen
geschicktere und erfahrenere Meister in allerlei Falschheit, Betrug, Verrat und Treulosigkeit,
nirgendwo findet man soviel Getriebenheit und Verwegenheit, Schaden zu tun! Ich schweige noch von
der Aufgeblasenheit und dem Hochmut, der Raubgier und der Wildheit. Ich schweige von der
ungebundenen Willkür in allen Stücken der Lebensführung. Die Welt ist es dermaßen müde, sich
dergleichen gefallen zu lassen, daß ich nicht befürchten muß, den Anschein zu erwecken, als ob
ich etwas gar zu sehr übertriebe. Ich sage nur eins, was sie selber nicht werden leugnen können:
wenn man auf Grund der alten Kirchensatzungen ein Urteil über ihren Lebenswandel sprechen sollte,
so wäre unter den Bischöfen beinahe nicht ein einziger, unter den Vorstehern der Pfarreien nicht
einer unter hundert, der nicht in den Bann getan oder wenigstens seines Amtes entsetzt werden
müßte. Es hat den Anschein, als ob ich etwas Unglaubliches ausspräche, so sehr ist die alte
Zucht, die eine schärfere Untersuchung über den Lebenswandel des Klerus vorzunehmen gebot, in
Abgang geraten; aber die Verhältnisse sind tatsächlich so! Jetzt sollen die, die unter der Fahne
und Leitung des römischen Stuhles Kriegsdienst tun, ruhig hingehen und sich des Priesterstandes
rühmen, der bei ihnen vorhanden ist. Jedenfalls stammt der, den sie haben, offenbar weder von
Christus noch von seinen Aposteln, noch von den Vätern, noch von der Alten Kirche.
IV,5,15 Jetzt sollen die Diakonen hervortreten, dazu auch jene hochheilige
Austeilung der kirchlichen Güter, die sie üben: Allerdings setzen sie ihre Diakonen keineswegs
mehr zu diesem Behuf ein; denn sie tragen ihnen nichts anderes auf, als daß sie Altardienst
verrichten, das Evangelium verlesen und singen und wer weiß was sonst für Possen treiben. Keine
Rede von Almosen, keine Rede von der Fürsorge für die Armen, keine Rede von der ganzen
Amtsaufgabe, die sie einstmals innehatten! Ich rede hier von der eigentlichen Einrichtung (des
Diakonenamtes); denn wenn wir auf das blicken, was sie verrichten, dann haben sie tatsächlich kein
Amt, sondern es handelt sich nur um eine Stufe zur Presbyterwürde. In einem einzigen Stück legen
die, die in der Messe als Diakonen wirken, einen leeren Schein der alten Einrichtung an den Tag: sie
nehmen nämlich vor der Konsekration die Opfergaben in Empfang. Die alte Gewohnheit bestand darin,
daß sich die Gläubigen vor dem gemeinschaftlichen Genuß des heiligen Abendmahls gegenseitig
küßten und ihre Almosen am Altar opferten; so gaben sie zunächst durch jenes Merkzeichen (den
Kuß) und dann auch durch Wohltun selbst ihre Liebe zu erkennen. Der Diakon, der ja der Verwalter
für die Armen war, nahm das, was gegeben wurde, in Empfang, um es zu verteilen. Heutzutage aber
kommt den Armen von jenen Almosen ebensowenig zugute, als wenn sie (alle) ins Meer geworfen würden.
Mit solchem lügenhaften "Diakonat" verspottet man also die Kirche. Auf jeden Fall haben die
Papisten darin nichts, was mit der apostolischen Stiftung oder auch mit dem, was die Alten
beobachtet haben, eine Ähnlichkeit hätte. Die Austeilung der Güter selbst aber haben sie
anderswohin verbracht und so eingerichtet, daß man sich nichts Ordnungswidrigeres vorstellen kann.
Wie nämlich die Räuber, nachdem sie den Menschen den Hals herumgedreht haben, die Beute unter sich
verteilen, so machen sie es auch: nachdem das Licht des Wortes Gottes ausgelöscht und die Kirche
gleichsam erwürgt ist, sind sie auf die Meinung geraten, daß alles, was man zu heiligem Gebrauch
geweiht hat, dem Raub und der Ausplünderung preisgegeben sei. Deshalb haben sie es verteilt, und
dann hat sich jeder errafft, soviel er vermochte.
IV,5,16 Hier sind alle jene alten Grundsätze, die wir dargelegt haben, nicht
allein durcheinandergebracht, sondern ausgetilgt und zunichte gemacht. Das beste Stück (aus den
Kirchengütern) haben die Bischöfe und die städtischen Presbyter (Stadtpriester), die, durch diese
Beute reich geworden, in Kanoniker verwandelt worden sind, plündernd untereinander verteilt. Daß
die Verteilung trotzdem unter Tumult vor sich gegangen ist, wird daran offenbar, daß sie bis auf
den heutigen Tag über die (gegenseitigen) Grenzen miteinander im Streite liegen. Wie dem auch sei -
durch diese Abmachung ist dafür gesorgt, daß von allen Gütern der Kirche nicht ein einziger
Pfennig an die Armen gelangt, denen sie doch wenigstens zur Hälfte zukamen. Denn die
Kirchensatzungen sprechen ihnen ausdrücklich den vierten Teil (des Kirchenvermögens) zu, und ein
weiteres viertel weisen sie den Bischöfen zu dem Zweck zu, daß sie es zur Gastfreiheit und zu
anderen Pflichten der Wohltätigkeit ausgeben. Ich schweige davon, was die Kleriker mit ihrem Anteil
machen und zu welchem Gebrauch sie ihn verwenden sollten; denn ich habe bereits zur Genüge
dargetan, daß auch der Rest, der für die Kirchen, Gebäude und andere Ausgaben bestimmt ist, in
der Not den Armen zur Verfügung stehen muß. Ich frage nur: wenn diese Papisten auch nur einen
einzigen Funken Gottesfurcht im Herzen hätten – würden sie dann das Bewußtsein ertragen können,
daß alles, was sie an Nahrung und Kleidung wenden, aus Diebstahl, ja aus Tempelraub herrührt? Aber
weil sich diese Leute von Gottes Gericht gar wenig rühren lassen, so sollten sie doch wenigstens
bedenken, daß es Menschen sind, mit Empfinden und Vernunft begabt, denen sie weismachen wollen, sie
hätten in ihrer Kirche so herrliche und wohlgeordnete Stände, wie sie es rühmend zu behaupten
pflegen. Sie sollen mir doch nur kurz antworten, ob denn die Diakonie wirklich die willkürliche
Freiheit zum Stehlen und Rauben ist. Wenn sie das leugnen, dann müssen sie auch notgedrungen
eingestehen, daß sie keinerlei Diakonie mehr haben; denn bei ihnen ist die ganze Verwaltung der
Kirchengüter offenkundig zu einer heiligtumsschänderischen Ausraubung geworden!
IV,5,17 Aber hier wenden sie nun eine ganz feine Deckfarbe an: sie sagen
nämlich, durch diese Prachtentfaltung werde die Würde der Kirche in sehr geziemender Weise
aufrechterhalten. Sie haben auch in ihrer Sekte gewisse Leute, die dermaßen unverschämt sind, daß
sie offen zu rühmen wagen, jene Weissagungen, mit denen die alten Propheten die Herrlichkeit des
Reiches Christi beschreiben, gingen erst dadurch in Erfüllung, daß am Priesterstande solch
königliche Pracht sichtbar sei. Gott hat doch, so sagen sie, seiner Kirche verheißen: "Könige
werden kommen und vor dir anbeten und dir Gaben zutragen" (Ps. 72,10f.; nicht Luthertext), er hat
doch verheißen: "Mache dich auf, mache dich auf, Zion! Zieh deine Stärke an, schmücke dich
herrlich, Jerusalem! ... Sie werden aus Saba alle kommen, Gold und Weihrauch bringen und des Herrn
Lob verkündigen. Alle Herden in Kedar sollen zu dir versammelt werden ..." (Jes. 52,1; 60,6f.)!
Diese Weissagungen, so meinen sie, sind doch nicht umsonst geschehen! Wenn ich nun diese Frechheit
ausführlich widerlegen wollte, so müßte ich fürchten, ich könnte albern erscheinen. Deshalb
habe ich keine Lust, ohne Grund Worte zu verlieren. Ich frage aber doch: wenn nun irgendein Jude
solche Zeugnisse mißbrauchen würde, was würden sie ihm dann für eine Erklärung geben? Sie
würden selbstverständlich seinen Stumpfsinn tadeln, weil er das, was geistlich über Christi
geistliches Reich gesagt ist, auf Fleisch und Welt bezöge. Denn wir wissen, daß uns die Propheten
unter dem Bilde irdischer Dinge Gottes himmlische Herrlichkeit abgezeichnet haben, die in der Kirche
leuchten soll. Denn an jenen Segnungen, die die Worte der Propheten zum Ausdruck bringen, hat die
Kirche niemals weniger Überfluß gehabt als unter den Aposteln, und doch geben alle Leute zu, daß
damals die Kraft des Reiches Christi in höchster Blüte stand! Was haben nun jene Aussagen der
Propheten für einen Sinn? Doch diesen: alles, was je kostbar, erhaben und herrlich ist, das muß
dem Herrn unterworfen werden. Was da aber ausdrücklich von den Königen zu lesen steht, nämlich
daß sie Christus ihre Gewalt unterstellen, ihm ihre Kronen zu Füßen werfen und der Kirche ihre
Reichtümer weihen werden – wann soll das wohl, so wird man (mit mir) sagen, wahrhaftiger und
völliger in Erfüllung gegangen sein als damals, als Theodosius den Purpur von sich warf, die
kaiserlichen Machtzeichen hinter sich ließ und sich wie irgendein Mensch aus dem Volke vor Gott und
der Kirche zu feierlicher Buße unterwarf? Wann soll es vollständiger erfüllt worden sein als
damals, als er selbst und andere fromme Fürsten seinesgleichen ihren Eifer und ihre Sorge an die
Erhaltung der reinen Lehre in der Kirche und an die Unterstützung und Schirmung der rechtgesinnten
Lehrer wandten? Wie rein gar nicht aber dazumal die Priester in überflüssigem Besitz schwelgten,
das gibt ein einziges Wort der Synode von Aquileja, deren Vorsitz Ambrosius führte, genugsam zu
erkennen: "An den Dienern des Herrn ist Armut glorreich". Sicherlich besaßen damals die
Bischöfe einiges Vermögen, mit dessen Hilfe sie der Kirche einen sichtbaren Glanz hätten geben
können, wenn sie gemeint hätten, dergleichen sei der wahre Zierat der Kirche. Aber da sie wußten,
daß der Amtspflicht der Hirten nichts mehr zuwider ist, als durch die Genüsse der Tafel, die
Pracht der Gewänder, die Größe der Dienerschaft und die Großartigkeit der Paläste Glanz zu
entfalten und Hoffart zu treiben, so befleißigten sie sich und huldigten sie der Demut und
Bescheidenheit, ja, der Armut selbst, die Christus unter seinen Dienern geheiligt hat.
IV,5,18 Aber um nicht zu weitschweifig zu werden, wollen wir wiederum in
einer kurzen Summe zusammenfassen, wie weit die heutzutage geübte Austeilung oder (vielmehr)
Verschwendung der Kirchengüter von der wahren Diakonie entfernt ist, wie sie uns das Wort Gottes
ans Herz legt und wie sie auch die Alte Kirche gewahrt hat. Was man auf die Ausschmückung der
Kirchengebäude verwendet, das ist, so behaupte ich, falsch angewandt, wofern nicht das Maß
gehalten wird, das die Natur der Heiligtümer vorschreibt und das uns auch die Apostel und andere
heilige Väter durch Unterweisung wie durch ihr eigenes Vorbild vorgezeichnet haben. Aber was
bekommt man davon heutzutage in den Kirchen zu sehen? Alles, was – ich sage nicht: nach jener
ursprünglichen Schlichtheit, sondern – überhaupt nach irgendeinem anständigen Mittelmaß geartet
ist, das wird verächtlich beiseitegeschoben. Allgemein findet nur das Billigung, was nach
Üppigkeit und nach der Verderbnis der Zeit schmeckt. Unterdessen ist man so weit davon entfernt,
die gehörige Fürsorge für die lebendigen Tempel walten zu lassen, daß man lieber viele tausend
Arme am Hunger zugrunde gehen lassen würde, als auch nur den geringsten Kelch oder das geringste
Krüglein zu zerbrechen, um ihren Mangel zu beheben. Um nicht von mir aus etwas allzu Hartes
auszusprechen, möchte ich nur, der fromme Leser würde einmal folgendes bedenken: wenn der oben
genannte Bischof Exuperius von Toulouse, wenn Acatius, wenn Ambrosius oder irgendeiner ihresgleichen
heute von den Toten auferstehen sollte – was sollte er wohl sagen? Diese Männer würden es
wahrscheinlich nicht gutheißen, daß man bei solcher Not der Armen die Güter einem anderen Zweck
zuführte, als ob sie (zu ihrem eigentlichen Zweck) überflüssig wären! Ich will noch davon
schweigen, daß die Verwendungsarten, denen man sie dienen läßt, selbst dann in vieler Hinsicht
schädlich, aber in keiner Weise nutzbringend wären, wenn es keine Armen gäbe. Aber ich lasse die
Menschen beiseite. Diese Güter sind doch Christus geheiligt, und deshalb müssen sie auch nach
seinem Urteil verteilt werden. Vergebens werden die Papisten aber so tun, als ob sie den Teil für
Christus aufgewandt hätten, den sie ohne seinen Befehl verschwendet haben. Allerdings – um die
Wahrheit zu sagen -: durch diese Ausgaben (nämlich für die Kirchengebäude) geht von den
ordentlichen Einkünften der Kirche nicht sehr viel verloren. Denn die Bistümer mögen noch so
reich, die Abteien noch so fett, die Pfarrpfründen schließlich mögen noch so zahlreich, noch so
glänzend sein, so reichen sie doch alle nicht hin, um der Gefräßigkeit der Priester zu genügen.
Es ist vielmehr so: sie wollen sich selbst schonen, und deshalb bringen sie das Volk durch
Aberglauben dazu, daß es die Mittel, die eigentlich den Armen zugute kommen müßten, auf die
Erbauung von Kirchengebäuden, die Errichtung von Standbildern, den Kauf von Gefäßen und den
Erwerb kostbarer Gewänder verwendet. Auf diese Weise werden die täglichen Almosen von diesem
Abgrund verschlungen.
IV,5,19 Was soll ich nun von den Einkünften, die sie aus Grundstücken und
Besitztümern empfangen, anders sagen, als was ich bereits dargelegt habe und was auch vor aller
Augen ist? Wir sehen ja, mit was für einer Treue die Leute, die man Bischöfe und Äbte nennt, den
größten Teil davon verwalten. Was ist es für ein Wahnwitz, hier kirchliche Ordnung zu suchen? Ist
es etwa schicklich, daß die, deren Leben ein einzigartiges Vorbild der Genügsamkeit,
Bescheidenheit, Enthaltsamkeit und Demut sein sollte, in der Zahl ihrer Dienerschaft, im Glanz ihrer
Häuser und im Prunk ihrer Gewänder und Mähler mit dem Wohlleben der Fürsten wetteifern? Gottes
ewige und unverletzliche Weisung verbietet ihnen doch, nach schnödem Gewinn zu trachten, und
verlangt von ihnen, daß sie mit schlichter Nahrung zufrieden sind (Tit. 1,7); wie sehr steht aber
dann auch dies zu ihrer Amtspflicht im Widerspruch, daß sie nicht allein auf Dörfer und Burgen die
Hand legen, sondern sich auch auf die ausgedehntesten Fürstentümer losstürzen und schließlich
ganze Reiche mit Beschlag belegen? Wenn sie das Wort Gottes verachten, was wollen sie dann
(wenigstens) auf jene Verordnungen der Synoden antworten, in denen festgesetzt wird, der Bischof
solle nicht weit von der Kirche sein Häuslein haben, sein Tisch und Hausrat solle schlicht sein?
Was wollen sie zu jenem Ausspruch der Synode von Aquileja sagen, in welchem gerühmt wird, an den
Priestern des Herrn sei Armut etwas Glorreiches? Denn die Weisung, die einst Hieronymus dem Nepotian
erteilte, es sollten zu seinem Tisch die Armen und die Fremdlinge und mit ihnen Christus als
Tischgast Zugang haben, die werden sie wahrscheinlich als gar zu streng verwerfen! Aber was er
gleich anfügt, das werden sie sich schämen zu leugnen, nämlich: der Ruhm eines Bischofs sei es,
für den Besitz der Armen zu sorgen, eine Schande für alle Priester aber, wenn sie nach eigenen
Reichtümern trachteten. Dies aber können sie nicht annehmen, ohne sich allesamt zur Schmach zu
verurteilen. Aber es ist nicht erforderlich, sie hier härter zu verfolgen, weil ich keine andere
Absicht hatte als zu beweisen, daß bei ihnen schon seit langem der rechtmäßige Stand der Diakonen
verschwunden ist. Das wollte ich zeigen, damit sie sich dieses Titels nicht weiterhin zum Preis
ihrer Kirche hochmütig rühmten. Und ich glaube, daß ich das genugsam vollbracht habe.
Von der Obergewalt des römischen Stuhles
IV,6,1 Bisher haben wir diejenigen Rangstufen in der Kirche behandelt, die
bereits bei der Regierung der Alten Kirche bestanden haben, hernach aber mit der Zeit verderbt und
dann mehr und mehr verfälscht worden sind und heute in der päpstlichen Kirche nur noch ihren Namen
beibehalten haben, in Wirklichkeit aber nichts anderes als Masken darstellen. Diese Erörterung
hatte den Zweck, daß der fromme Leser auf Grund des Vergleiches ein Urteil darüber gewinnen
sollte, was die Römischen eigentlich für eine Kirche haben, um derentwillen sie uns der
Kirchenspaltung (schisma) beschuldigen, weil wir uns ja von ihr geschieden haben. Das Haupt aber und
die Spitze der ganzen Stufenordnung, nämlich die Obergewalt (den "Primat") des römischen
Stuhls, von der aus sie zu beweisen bestrebt sind, daß allein bei ihnen die katholische Kirche sei,
haben wir dabei nicht berührt. Denn diese Obergewalt hat ihren Ursprung weder aus der Einsetzung
Christi noch aus der Gepflogenheit der Alten Kirche genommen – im Gegensatz zu den oben genannten
Ämtern, die, wie wir gezeigt haben, von der alten Zeit ausgegangen sind, freilich so, daß sie
durch die Verderbnis der Zeiten ganz und gar entartet sind, ja, eine völlig neue Gestalt angenommen
haben. Und trotzdem suchen die Römischen der Welt einzureden, das vornehmste und nahezu einzige
Band der kirchlichen Einheit sei dann gegeben, wenn wir dem römischen Stuhle anhingen und im
Gehorsam gegen ihn verharrten. Die Stütze, sage ich, auf die sie vor allem bauen, wenn sie uns die
Kirche absprechen und sie sich selber zueignen wollen, besteht in der Behauptung, sie besäßen eben
das Haupt, von dem die Einheit der Kirche abhinge und ohne das sie notwendig zerspringen und
zerbrechen müßte. Sie meinen das nämlich so: die Kirche sei gewissermaßen ein unvollständiger,
verstümmelter Leib, wenn sie nicht dem römischen Stuhl, gleichsam als ihrem Haupte, unterworfen
sei. Wenn sie also über ihre "Hierarchie" Erörterungen anstellen, so nehmen sie ihren
Ausgangspunkt stets bei dem Grundsatz: Der Bischof von Rom ist gleichsam der Statthalter Christi,
der das Haupt der Kirche ist; als solcher hat er an Christi Statt die Führung der gesamten Kirche,
und die Kirche ist nur dann recht eingerichtet, wenn der römische (Bischofs-) Stuhl über alle
anderen die Obergewalt innehat. Deshalb müssen wir auch nachprüfen, wie es hierum steht, damit wir
nichts übergehen, was zum rechten Regiment der Kirche gehört..
IV,6,2 Die gestellte Frage soll also sein, ob es zur wahren Gestalt der von
ihnen so genannten "Hierarchie" oder der kirchlichen Leitung erforderlich ist, daß ein
(Bischofs-) Sitz unter den anderen an Würde und Macht den Vorrang hat, so daß er also das Haupt
des ganzen Leibes wäre. Wir unterwerfen aber die Kirche doch gar zu unbilligen Gesetzen, wenn wir
ihr solche Notwendigkeit ohne das Wort Gottes auferlegen. Wollen also unsere Widersacher das, was
sie verlangen, auch beweisen, so müssen sie zunächst zeigen, daß diese Ordnung von Christus
eingesetzt sei. Zu diesem Zweck führen sie aus dem Gesetz den Hohenpriester an, ebenso auch das
oberste Gericht, das Gott in Jerusalem eingesetzt hatte. Aber darauf ist leicht zu antworten, und
zwar auf vielfältige Weise, sofern sich die Widersacher an einer einzigen Antwort nicht genügen
lassen. Zunächst: es gibt keinen zwingenden Grund, das, was in einem Volke von Nutzen war, auf die
ganze Welt auszudehnen. Ja, es wird doch wohl etwas wesentlich anderes sein, ob es sich um ein
einziges Volk oder um die ganze Welt handelt! Die Juden waren doch ringsum von Götzendienern
umgeben, und damit sie nun nicht durch eine Vielartigkeit von Religionen auseinandergezogen wurden,
so hat Gott den Sitz seiner Verehrung mitten im Schoß des Landes aufgerichtet; dort hat er auch
einen einzigen Vorsteher eingesetzt, auf den sie alle ihren Blick richten sollten, um dadurch besser
in der Einheit erhalten zu werden. Jetzt aber ist doch die wahre Religion über die ganze Welt
verbreitet, und wer sieht da nicht, daß es völlig widersinnig wäre, wenn man die Regierung des
Ostens und des Westens einem einzigen Menschen übergäbe? Das wäre genau so, als wenn jemand die
Behauptung aufstellte, die ganze Welt müsse von einem einzigen Amtmann regiert werden, und zwar,
weil eben ein einziges Gebiet nicht mehrere Amtmänner hätte! Aber es gibt noch einen zweiten
Grund, weshalb jene (oben genannte) Tatsache nicht als Beispiel genommen werden darf. Jedermann
weiß doch, daß jener Hohepriester ein Vorbild auf Christus gewesen ist. Nun ist aber "das
Priestertum verändert", also "muß auch das Gesetz verändert werden" (Hebr. 7,12). Auf wen
ist nun aber das Priestertum übertragen worden? Doch ganz gewiß nicht auf den Papst, wie dieser
unverschämt zu rühmen wagt, wenn er diese Aussage auf sich bezieht, sondern auf Christus, der das
Amt ohne jeglichen Statthalter oder Nachfolger ausübt und demgemäß auch die Ehre keinem anderen
überläßt. Denn dieses (Hohe-) Priesteramt besteht nicht nur in der Lehre, sondern in der
Versöhnung Gottes, die Christus durch seinen Tod vollbracht hat, und in jener Fürsprache, die er
jetzt bei dem Vater übt.
IV,6,3 Es geht also nicht an, daß sie uns an jenes Beispiel, das doch, wie
wir sehen, zeitlich gewesen ist, festbinden, als ob es ein fortwährendes Gesetz sei. Aus dem Neuen
Testament haben sie nur eine Tatsache, um sie zur Bekräftigung ihrer Meinung vorzubringen:
nämlich, daß nur zu einem Apostel gesagt wurde: "Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich
bauen meine Gemeinde" (Matth. 16,18), und ebenso: "Petrus, hast du mich lieb? ... Weide meine
Schafe" (Joh. 21,15-17; nicht ganz Luthertext). Sollen aber nun solche Beweise tragfest sein, so
müssen die Papisten vor allem zeigen, daß der, dem die Weisung zuteil wird, er solle Christi Herde
weiden, damit die Macht über alle Kirchen anvertraut erhält; ferner müssen sie nachweisen, daß
"Binden" und "Lösen" nichts anderes bedeutet, als die Führung der ganzen Welt innezuhaben.
Wie nun aber Petrus vom Herrn jenen Auftrag empfing, so ermahnt er wiederum alle anderen Presbyter,
die Kirche zu weiden (1. Petr. 5,2). Daraus läßt sich die Folgerung ziehen, daß dem Petrus
entweder durch jenes Wort des Herrn gar nichts gegeben worden ist, das er vor anderen voraus gehabt
hätte, oder aber daß Petrus das Recht, das er empfangen hatte, mit den anderen in gleichem Maße
geteilt hat. Wir haben aber, damit wir nicht umsonst streiten, an anderer Stelle aus dem Munde
Christi eine klare Auslegung, (die uns zeigt,) was "Binden" und "Lösen" bedeutet; es
bedeutet nämlich, die Sünden zu "behalten" und zu "erlassen" (Joh. 20,23). Wie aber
solches "Binden" und "Lösen" geschieht, das zeigt uns die ganze Schrift immer wieder;
besonders klar aber gibt es uns Paulus zu verstehen, indem er erklärt, die Diener des Evangeliums
hätten den Auftrag, die Menschen mit Gott zu versöhnen, und zugleich hätten sie die Vollmacht,
gegen die, welche solche Wohltat verschmähten, Strafe zu üben (2. Kor. 5,18; 10,6).
IV,6,4 Wie unwürdig nun die Papisten jene Stellen verdrehen, die das "Binden"
und "Lösen" erwähnen, das habe ich bereits an anderer Stelle gestreift, und es wird erst recht
bald hernach ausführlicher zu entfalten sein. Jetzt ist es nur erforderlich, daß wir zusehen, was
sie aus jener berühmten Antwort Christi an Petrus herausholen. Christus hat dem Petrus "des
Himmelreichs Schlüssel" verheißen, er hat ihm zugesagt, was er auf Erden binden werde, das solle
auch im Himmel gebunden sein (Matth. 16,19). Wenn nun über den Ausdruck "Schlüssel" und über
die Art des "Bindens" unter uns Einstimmigkeit herrschte, so würde jeder Streit sofort
aufhören. Denn auch der Papst würde gerne die den Aposteln beigelegte Aufgabe fahren lassen; denn
sie ist voll Arbeit und Mühsal und würde ihm sein Wohlleben austreiben, ohne ihm irgendwelchen
Gewinn zu bringen. Da uns nun die Himmel durch die Lehre des Evangeliums aufgetan werden, so wird
diese in einem treffenden Vergleich mit dem Namen "Schlüssel" ausgezeichnet. Dann werden aber
die Menschen auf keine andere Weise "gebunden" und "gelöst" als dadurch, daß die einen im
Glauben mit Gott versöhnt, die anderen aber durch ihren Unglauben nur noch tiefer verstrickt
werden. Wenn sich nun der Papst nur dies herausnähme, so würde nach meiner Ansicht niemand da
sein, der ihm das neiden oder deswegen mit ihm Streit anfangen wollte. Tatsächlich aber sagt dem
Papst diese Nachfolgerschaft, die doch mühselig und keineswegs einträglich ist, durchaus nicht zu,
und deshalb entsteht nun der Ausgangspunkt des Streites (zwischen ihm und uns) eben an der Frage,
was denn Christus dem Petrus verheißen habe. Ich ziehe aus dem Tatbestand selbst die Folgerung,
daß mit dieser Verheißung ausschließlich die Würde des apostolischen Amtes bezeichnet wird, die
sich von der Last dieses Amtes nicht abtrennen läßt. Denn wenn man jene Bestimmung (der Begriffe
"Binden" und "Lösen") annimmt, die ich oben aufgestellt habe – und die kann man nur aus
Unverschämtheit verwerfen -, dann wird hier dem Petrus nichts gegeben, das nicht auch seinen
Amtsgenossen gemeinsam gewesen ist; denn sonst würde nicht nur den Personen Unrecht zugefügt,
sondern es würde auch die Majestät der Lehre selbst ans Hinken geraten. Dagegen erheben nun die
Papisten Einspruch. Aber ich bitte dich, was soll es ihnen helfen, an diesen Felsen anzustoßen?
Denn sie werden es nicht ändern können, daß die Apostel, wie ihnen allen die Predigt des gleichen
Evangeliums aufgetragen war, so auch gemeinsam mit der Vollmacht zum Binden und Lösen ausgerüstet
waren. Die Papisten sagen: "Als Christus dem Petrus die Verheißung gab, er wolle ihm die
Schlüssel geben, da hat er ihn doch zum Oberhaupt der ganzen Kirche eingesetzt." Aber was er
damals dem einen Apostel verheißen hat, das hat er an anderer Stelle allen andern zugleich
übertragen und gleichsam in die Hand gegeben (Matth. 18,18; Joh. 20,23)! Wenn nun damit allen eben
das Recht zugestanden worden ist, das einem verheißen war, worin soll dann der Vorrang dieses einen
bestehen? "Seine Sonderstellung", sagen sie, "bestand darin, daß er dieses Recht sowohl
gemeinsam (mit den anderen) erhielt als auch für sich besonders, während es den anderen nur
gemeinsam gegeben wurde." Was wollen sie aber anfangen, wenn ich jetzt mit Cyprian und Augustin
antworte, Christus habe das nicht etwa getan, um einen Menschen den anderen vorzuziehen, sondern um
auf diese Weise die Einheit der Kirche hochzuhalten? Cyprian sagt nämlich so: in der Person eines
einzigen Menschen habe der Herr allen die Schlüssel gegeben, um die Einheit aller aufzuzeigen; denn
die anderen seien ja eben das gleiche gewesen, was auch Petrus war, mit gleichem Anteil an Ehre und
Macht ausgestattet; Christus aber habe bei einem den Anfang gemacht, um damit zu zeigen, daß seine
Kirche eine sei (von der Einheit der katholischen Kirche 4). Augustin abererklärt: "Wenn in
Petrus nicht das Geheimnis der Kirche wäre, so würde der Herr nicht zu ihm sagen: ‘Dir werde ich
die Schlüssel geben’ denn wenn das zu Petrus (allein) gesagt ist, dann hat die Kirche die
Schlüssel nicht; wenn aber die Kirche die Schlüssel hat, dann bezeichnete Petrus, als er die
Schlüssel empfing, die ganze Kirche" (Predigten zum Johannesevangelium 50, 12). Und an anderer
Stelle sagt er: "Es waren doch alle (von Christus) gefragt, aber Petrus allein antwortete: ‘Du
bist Christus ...’ da wurde zu ihm gesagt: ‘Ich will dir die Schlüssel geben ...’ – als ob
er die Gewalt, zu binden und zu lösen, allein empfangen hätte; weil er jene Antwort aber allein
für die anderen gegeben hatte und demgemäß auch diesen Auftrag mit den anderen zusammen und
gleichsam als einer, der die Einheit selbst in seiner Person darstellte, empfangen hat, darum wird
er allein für alle genannt, weil ja zwischen allen die Einheit besteht" (Predigten zum
Johannesevangelium 11,5).
IV,6,5 Ja, sagt man, aber es steht doch irgendwo zu lesen, daß das Wort: "Du
bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde" (Matth. 16,18), (je) zu einem
anderen gesagt worden ist! Als ob Christus hier von Petrus etwas anderes aussagte als Paulus und
auch Petrus selber von allen Christen! Paulus nämlich erklärt Christus für den vornehmsten
Eckstein, auf den alle erbaut werden sollen, die zu einem Tempel erwachsen, der dem Herrn heilig ist
(Eph. 2,20-22). Petrus aber gebietet uns, "lebendige Steine" zu sein, um als solche, auf jenen
"auserwählten und köstlichen" Stein gegründet, durch dieses Band und diese
Zusammengefügtheit mit unserem Gott und untereinander verbunden zu sein (1. Petr. 2,5ff.). Ja,
sagen sie, aber Petrus steht trotzdem vor allen, weil er in besonderer Weise den Namen (Fels, Stein)
innehat. Ganz sicher gestehe ich dem Petrus gern die Ehre zu, daß er im Gebäu der Kirche unter den
ersten seinen Platz hat oder – wenn sie auch das verlangen – unter allen Gläubigen der erste ist.
Aber ich werde nicht zulassen, daß sie daraus ableiten, er habe über die anderen eine Obergewalt.
Was soll das auch für ein Schlußverfahren sein, wenn man sagt: er übertraf die anderen an Glut
des Eifers, an Unterweisung und Geistesgröße – also hat er auch Macht über sie? Als ob man nicht
(dann auch) mit besserem Schein folgern könnte: Andreas steht nach dem Rang vor Petrus, weil er ihm
zeitlich (in der Jüngerschaft) vorangegangen ist und ihn zu Christus hingeführt hat (Joh.
1,40.42)! Aber das lasse ich beiseite. Petrus möge sicherlich den ersten Platz haben. Aber es
besteht doch ein großer Unterschied zwischen rangmäßiger Ehre und – Gewalt. Wir sehen, wie die
Apostel dem Petrus durchweg die Aufgabe erteilt haben, in der Versammlung das Wort zu führen und
gleichsam mit Berichten, Ermahnen und Ermuntern voranzugehen. Von einer (besonderen) Gewalt dagegen
(die Petrus gehabt hätte) lesen wir nirgendwo ein Wort.
IV,6,6 Doch sind wir mit dieser Erörterung noch nicht beschäftigt. Für den
Augenblick möchte ich nur dies feststellen: wenn unsere Gegner allein aus dem Namen des Petrus (der
mit "Fels" in Zusammenhang gebracht ist) dessen Herrschaft über die gesamte Kirche aufrichten
wollen, so ist das eine gar zu oberflächliche Beweisführung. Denn jene alten Albernheiten, mit
denen sie anfangs den Menschen etwas vorzumachen versuchten, sind keiner Widerlegung, ja, auch
keiner Erwähnung wert. Sie sagten da, auf Petrus sei die Kirche gegründet, weil es doch hieße:
"Auf diesen Felsen ..." So haben aber, wird man sagen, einige von den (Kirchen-) Vätern
geredet! Gewiß, aber hier erhebt doch die ganze Schrift Einspruch, und wozu will man unter diesen
Umständen die Autorität dieser Kirchenväter gegen Gott vorschützen? Ja, wozu streiten wir denn
um den Sinn dieser Worte, als ob er dunkel oder zweideutig wäre, wo doch gar nichts Klareres und
Gewisseres hätte gesagt werden können? Petrus hatte in seinem und der Brüder Namen bekannt, daß
Christus der Sohn Gottes sei (Matth. 16,16). Auf diesen Felsen baut Christus seine Kirche, weil er,
wie Paulus sagt, das einige Fundament ist, außer dem kein anderes gelegt werden kann (1. Kor.
3,11). Ich verwerfe auch hier die Autorität der Väter nicht etwa deshalb, weil mir Zeugnisse von
ihrer Seite zur Bestätigung meiner Behauptung abgingen, wenn ich sie heranzuziehen Lust hätte;
nein, ich will, wie ich bereits ausführte, den Lesern nicht durch Streiten über eine so klare
Sache unnütz lästig fallen, vor allem, da diese Angelegenheit von unseren Männern bereits vor
langer Zeit mit ausreichender Gründlichkeit behandelt und entfaltet worden ist.
IV,6,7 Und doch kann tatsächlich niemand diese Frage besser lösen als die
Heilige Schrift selber, wenn wir alle Stellen zueinanderbringen, an denen sie lehrt, was für ein
Amt und was für eine Macht Petrus unter den Aposteln besessen, wie er sich verhalten hat und wie er
auch von ihnen aufgenommen worden ist. Man gehe alle vorhandenen Berichte durch, so wird man nichts
anderes finden, als daß er einer aus der Zahl der Zwölfe war, den anderen gleichgestellt, ihr
Mitgenosse, aber nicht ihr Herr. Er bringt zwar in ihrem Rat vor, was je zu tun ist, und er ermahnt
sie, was geschehen müsse; aber er hört zugleich auch auf die anderen, und er gibt ihnen nicht nur
die Möglichkeit, ihre Meinung auszusprechen, sondern überläßt ihnen die Entscheidung; wo sie
etwas festgesetzt haben, da folgt er und gehorcht (Apg. 15,5ff.). Als er an die Hirten schreibt, da
gibt er seine Weisungen nicht auf Grund einer Befehlsgewalt, als ob er über ihnen stünde, sondern
er behandelt sie als seine Amtsgenossen und ermahnt sie freundschaftlich, wie es unter
Gleichgestellten zu geschehen pflegt (1. Petr. 5,1ff). Er wurde angeschuldigt, weil er zu Heiden
eingegangen war; das geschah zwar, ohne daß er solchen Vorwurf verdient hätte, aber trotzdem
antwortete er und reinigte er sich (Apg. 11,3ff.). Die Amtsgenossen beauftragten ihn, mit Johannes
nach Samaria zu gehen – und er weigert sich nicht (Apg. 8,14). Indem die Apostel ihn aussenden,
machen sie deutlich, daß sie ihn durchaus nicht für ihren Vorgesetzten halten; indem er selbst
gehorcht und die ihm aufgetragene Sendung übernimmt, gibt er zu, daß er mit ihnen in Gemeinschaft
steht, aber keine Herrschaft über sie ausübt. Selbst wenn alle diese Berichte nicht vorhanden
wären, so könnte uns doch allein der Brief an die Galater mit Leichtigkeit jeden Zweifel nehmen.
Da behauptet Paulus fast zwei Kapitel hindurch nichts anderes, als daß er hinsichtlich der Würde
des Apostelamtes dem Petrus gleichgestellt sei. Von da aus erinnert er daran, daß er zu Petrus
gekommen sei, nicht etwa, um seine Unterworfenheit zu zeigen, sondern allein, um allen ihre
Übereinstimmung in der Lehre bezeugt sein zu lassen. Er berichtet weiter, daß auch Petrus selbst
nichts derartiges von ihm verlangt, sondern ihm "die rechte Hand" (zum Zeichen) der Gemeinschaft
gegeben hat, damit sie gemeinsam im Weinberg des Herrn arbeiteten. Er erklärt, daß ihm keine
geringere Gnade unter den Heiden zuteil geworden sei als dem Petrus unter den Juden (Gal. 1,18;
2,8). Schließlich erzählt er, wie Petrus, als er nicht ganz treulich gehandelt hatte, von ihm
zurechtgewiesen worden ist und dieser Zurechtweisung auch Gehorsam geleistet hat (Gal. 2,11-14). All
dies macht offenbar, daß entweder zwischen Paulus und Petrus Gleichheit herrschte, oder daß
jedenfalls Petrus den anderen gegenüber nicht mehr Macht besessen hat als diese ihm gegenüber.
Dies aber behandelt Paulus, wie ich bereits sagte, mit voller Absicht: es sollte ihm keiner den
Petrus oder den Johannes im Apostelamt vorziehen, weil diese eben seine Amtsgenossen, nicht aber
seine Herren waren.
IV,6,8 Aber ich will ihnen einmal mit Bezug auf Petrus zugeben, was sie gern
haben möchten; ich will also anerkennen, er sei wirklich der Oberste unter den Aposteln gewesen und
habe an Würde einen Vorrang vor den übrigen gehabt. Selbst wenn ich das tue, so besteht doch keine
Ursache, aus einem einzigartigen Beispiel eine allgemeine Regel zu machen und das, was einmal
geschehen ist, auf ewige Zeiten zu beziehen: denn das ist eine völlig andere Sache. Unter den
Aposteln war (das will ich einmal zugeben) einer der oberste, weil sie eben wenige an Zahl waren.
Wenn nun über zwölf Menschen ein einziger Mann gesetzt war – ergibt sich daraus etwa, daß auch
über hunderttausend Menschen ein einziger Mann gesetzt werden muß? Daß die Zwölf einen Mann
unter sich gehabt hatten, der sie alle regieren sollte, das wäre nicht verwunderlich. Denn die
Natur bringt es mit sich und das Wesen der Menschen erfordert es, daß in jedem Kreise, auch dann,
wenn alle an Macht gleich sind, doch einer gleichsam als Leiter wirkt, auf den die anderen blicken
sollen. Es gibt keinen Rat ohne Bürgermeister, kein Gericht ohne Vorsitzenden oder Untersuchung
führenden, kein Kollegium ohne Vorsteher, keine Genossenschaft ohne Meister. So läge nichts
Widersinniges darin, wenn wir zugäben, daß die Apostel dem Petrus eine derartige Obergewalt (über
ihren Kreis) übertragen hätten. Aber was unter wenigen gilt, das läßt sich nicht gleich auf den
gesamten Erdkreis beziehen, zu dessen Regierung ein einzelner Mensch allein nicht ausreicht. Aber,
sagen sie, nicht weniger gilt in der Natur im allgemeinen wie auch in den einzelnen Teilen auch
dies, daß ein oberstes Haupt über allen steht. Und für diese Behauptung entnehmen sie, wenn es
Gott gefällt, den Beweis bei den Kranichen und Bienen, die sich auch allezeit ein Oberhaupt wählen
und nicht mehrere. Allerdings lasse ich die von ihnen vorgebrachten Beispiele gelten. Aber strömen
etwa aus der ganzen Welt die Bienen herbei, um sich einen einzigen König (!) zu wählen? Nein, die
einzelnen Könige sind mit ihren eigenen Bienenkörben zufrieden! Ebenso hat auch unter den
Kranichen jeder einzelne Schwarm seinen eigenen König. Was können (also) die Papisten aus diesen
Beispielen anders gewinnen, als daß jeder einzelnen Kirche ihr besonderer Bischof zugeteilt sein
muß? Dann verweisen sie uns auf Beispiele aus dem bürgerlichen Leben, sie ziehen das Wort aus
Homer heran: "Vielherrschaft tut nicht gut" (Ilias II,204), dazu auch das, was man im gleichen
Sinne zur Empfehlung der Monarchie bei weltlichen Schriftstellern zu lesen bekommt. Die Erwiderung
ist leicht zu geben: wenn Homers Ulysses oder andere Leute die Monarchie preisen, so geschieht das
nämlich nicht in dem Sinne, als ob ein Mensch mit seinem Befehl die ganze Welt regieren sollte,
sondern sie wollen zeigen, daß ein Reich nicht zwei Könige fassen kann und daß, wie einmal jemand
gesagt hat, die Macht keinen Mitgenossen zu ertragen vermag (Lukan, Pharsalia I,92f.).
IV,6,9 Aber wir wollen es einmal so gelten lassen, wie sie es wollen, wir
wollen einmal zugeben, es sei gut und nützlich, wenn die ganze Welt unter (einer) Monarchie stünde
- es wäre allerdings höchst widersinnig; aber es möge einmal so sein! Selbst dann aber werde ich
deswegen nicht zugeben, daß das gleiche auch für die Leitung der Kirche Geltung hätte. Denn die
Kirche hat Christus zu ihrem einzigen Haupte, unter dessen Herrschaft wir alle miteinander verbunden
sind, und zwar nach der Ordnung und der Gestalt der Regierung, die er selbst vorgeschrieben hat. Die
Papisten fügen also Christus sehr großes Unrecht zu, wenn sie verlangen, ein einziger Mensch
müsse die gesamte Kirche regieren, und wenn sie dabei den Vorwand benutzen, die Kirche könne eben
ein solches Haupt nicht entbehren. Denn Christus ist das Haupt, "von welchem aus der ganze Leib
zusammengefügt ist und ein Glied am anderen hanget durch alle Gelenke, dadurch eins dem anderen
Handreichung tut nach dem Werk eines jeglichen Gliedes in seinem Maße und macht, daß der ganze
Leib wächst ..." (Eph. 4,15f.). Sieht man, wie der Apostel allen Menschen ohne jede Ausnahme in
dem Leibe ihren Platz zuweist, die Ehre und den Namen des Hauptes aber Christus allein vorbehält?
Sieht man, wie er allen einzelnen Gliedern ein bestimmtes Maß, eine festgesetzte und begrenzte
Aufgabe zuerteilt, damit die Vollkommenheit der Gnade wie auch die höchste Regierungsgewalt bei
Christus allein liege? Es ist mir auch nicht unbekannt, was für eine Ausflucht die Papisten suchen,
wenn man ihnen dies vorhält; sie sagen nämlich: Christus wird im eigentlichen Sinne das einige
Haupt genannt, weil er allein kraft eigener Autorität und in seinem eigenen Namen regiert; aber das
hindert nicht, daß es unter ihm noch ein zweites, "dienstbares Haupt" gibt – so drücken sie
sich aus! -, das auf Erden seine Vertretung führt. Aber mit dieser Ausflucht werden sie nichts
zuwege bringen, wenn sie nicht zuvor gezeigt haben, daß Christus dieses Amt verordnet hat. Der
Apostel nämlich lehrt, die ganze "Handreichung" sei über die Glieder hin verstreut, die Kraft
aber ströme von jenem einen himmlischen Haupte her (Eph. 4,16). Oder wenn sie etwas Deutlicheres
hören wollen: da die Schrift bezeugt, daß Christus das Haupt ist, und da sie ihm allein diese Ehre
zuschreibt, so darf diese nur dann auf einen anderen übertragen werden, wenn Christus selber ihn zu
seinem Statthalter gemacht hat. Dies aber steht nicht nur nirgendwo zu lesen, sondern man kann es
auf Grund von vielen Stellen reichlich widerlegen (Eph. 1,22; 4,15; 5,23; Kol. 1,18; 2,10).
IV,6,10 Paulus malt uns einige Male ein lebendiges Bild der Kirche vor Augen.
Von dem einen (menschlichen) Haupte dagegen liest man dort nichts. Nein, es läßt sich vielmehr aus
seiner Beschreibung die Folgerung ziehen, daß dies "eine Haupt" mit Christi Einsetzung nichts
zu tun hat. Christus hat uns durch seine Himmelfahrt seine sichtbare Gegenwart entzogen; dennoch ist
er "aufgefahren ..., auf daß er alles erfüllte" (Eph. 4,10). Die Kirche hat ihn also auch
jetzt noch gegenwärtig und wird ihn allezeit gegenwärtig haben. Indem nun Paulus die Art und Weise
schildern will, in der sich Christus zeigt, verweist er uns auf die Ämter, deren sich Christus
bedient. "In uns allen", sagt er, "ist der Herr, nach dem Maß der Gnade, das er jedem
einzelnen Gliede hat zuteil werden lassen. Darum hat er einige zu Aposteln eingesetzt, andere aber
zu Hirten, andere zu Evangelisten, andere zu Lehrern ..." (Eph. 4,7.11, ungenau). Weshalb sagt
Paulus nicht, Christus habe einen Menschen über alle gesetzt, der seine Vertretung führen sollte?
Denn die Stelle (die ja immerzu von der Einheit redet) erforderte das in höchstem Maße, und es
hätte unter keinen Umständen ausgelassen werden dürfen, wenn es wahr wäre. Er sagt: "Christus
ist bei uns". Wieso? Durch das Dienstamt der Menschen, die Christus zur Leitung der Kirche
eingesetzt hat! Weshalb sagt er nicht lieber: durch das "dienstbare Haupt", dem er seine
Stellvertretung aufgetragen hat? Er spricht ausdrücklich von Einheit: aber das ist Einheit in Gott
und im Glauben an Christus. Den Menschen schreibt er nichts zu als einen gemeinsamen Dienst und dazu
jedem einzelnen sein besonderes "Maß" (Vers 16). Er hatte doch von dem "einen Leib", dem
"einen Geist", von der einen "Hoffnung der Berufung" gesprochen, er hatte gesagt: "ein
Gott, ein Glaube, eine Taufe" (Eph. 4,4-6, ungenau) – weshalb fügt er in diesem Lobpreis der
Einheit nicht auch gleich zu, es gebe auch einen obersten Bischof, der die Kirche in der Einheit
erhalten solle? Es hätte gar nichts Passenderes gesagt werden können – vorausgesetzt nur, daß die
Wirklichkeit sich so verhielt! Man möge diese Stelle eindringlich erwägen: es besteht kein
Zweifel, daß Paulus hier durchaus das heilige, geistliche Regiment der Kirche hat darstellen
wollen, das die Späteren dann als "Hierarchie" bezeichnet haben. Dagegen hat er nicht nur keine
Monarchie unter den Dienern (der Kirche) aufgerichtet, sondern er hat gezeigt, daß es keine gibt.
Es besteht auch kein Zweifel, daß er die Art der Verbundenheit hat zum Ausdruck bringen wollen, in
der die Gläubigen mit Christus, ihrem Haupte, zusammenhängen. Da erwähnt er nun nicht nur kein
"dienstbares Haupt", sondern er schreibt jedem einzelnen Gliede ein besonderes "Werk" zu
(Vers 16), nach dem Maße der Gnade, die jedem einzelnen zugeteilt ist. Es besteht auch kein Anlaß,
daß sie über die Vergleichung der himmlischen mit der irdischen "Hierarchie" scharfsinnig
philosophieren; denn es ist nicht gefahrlos, in Bezug auf die himmlische über das Maß hinaus klug
sein zu wollen, und bei der Aufrichtung der irdischen soll man keinem anderen Vorbild folgen als
dem, das der Herr selber in seinem Worte umschrieben hat.
IV,6,11 Ich will ihnen aber auch dies andere einmal durchgehen lassen, was
sie allerdings bei vernünftigen Menschen nie und nimmer werden durchsetzen können, nämlich daß
in der Person des Petrus für die Kirche eine Obergewalt aufgerichtet worden sei, und zwar so, daß
sie durch fortwährende Aufeinanderfolge stets erhalten bleiben würde. Woraus wollen sie dann aber
beweisen, daß der Sitz (dieser Obergewalt) in Rom aufgerichtet sei, so daß also jeder, der Bischof
dieser Stadt wäre, auch die Herrschaft über die ganze Welt hätte? Mit welchem Recht binden sie
diese Würde an einen Ort, obwohl sie doch ohne Erwähnung eines Ortes gegeben worden ist? Petrus,
sagen sie, hat doch in Rom gelebt und ist dort gestorben! Wie ist es aber mit Christus selbst? Hat
er nicht, solange er lebte, das Bischofsamt in Jerusalem geführt und hat er nicht durch sein
Sterben das Priesteramt erfüllt? Der Oberste der Hirten, der höchste Bischof, das Haupt der Kirche
vermochte dem Ort (seines Wirkens) keine Ehre zu erwerben – und Petrus, der ihm doch bei weitem
nachsteht, hat es vermocht? Sind das nicht mehr als kindische Albernheiten? Christus – so sagt man -
hat die Ehre der Obergewalt dem Petrus übertragen, Petrus aber hatte seinen Sitz in Rom, also hat
er dort den Sitz dieser Obergewalt aufgerichtet. Auf diese Weise hätten denn wohl die Israeliten
vorzeiten den Sitz der Obergewalt in der Wüste aufrichten müssen, wo Mose als höchster Lehrer und
Oberster der Propheten sein Amt verrichtet hatte und gestorben war (Deut. 34,5)!
IV,6,12 Wir wollen aber zusehen, wie trefflich die Papisten ihren Beweis
führen. Petrus, sagen sie, hatte unter den Aposteln die führende Stellung, deshalb muß die
Kirche, in der er seinen Sitz hatte, dieses Vorrecht haben. Wo hatte Petrus aber zuerst seinen Sitz?
In Antiochia, sagen sie. Also erhebt die Kirche zu Antiochia mit Recht den Anspruch auf die
Obergewalt für sich! Sie geben zu, daß sie einst die erste gewesen ist. Dann aber sei, so
behaupten sie, Petrus von dort weggezogen, und er habe die Ehre, die er mit sich brachte, nach Rom
überführt. Es ist unter dem Namen des Papstes Marcellus ein Schreiben an die Presbyter von
Antiochia erhalten, in dem er sich folgendermaßen ausspricht: "Der Sitz des Petrus befand sich
anfangs bei euch; nachher ist er auf Weisung des Herrn nach hier übertragen worden. So hat die
Kirche zu Antiochia, die einst die erste war, dem römischen Stuhl den Platz geräumt" (Decretum
Gratiani II,24,1,15). Aber durch was für ein Offenbarungswort hat der gute Mann gewußt, daß der
Herr es so geboten habe? Denn wenn diese Sache rechtmäßig entschieden werden soll, so müssen die
Papisten antworten, ob dieses Vorrecht nach ihrem Willen persönlich, sachlich oder aber teils
persönlich, teils sachlich (mixtum) ist. Denn eins von diesen dreien muß es notwendig sein. Wenn
sie nun sagen, es sei ein persönliches Vorrecht, so hat es also mit dem Ort nichts zu tun. Sagen
sie aber, es sei sachlicher Art, so kann es dem Orte, sobald es ihm einmal gegeben ist, wegen des
Todes oder Wegzugs der Person nicht genommen werden. Es bleibt also übrig, daß sie behaupten, es
sei teils persönlicher, teils sachlicher Art; in diesem Falle aber darf sich die Betrachtung nicht
einfach dem Ort zuwenden, sofern mit diesem nicht zugleich die Person in Beziehung steht. Sie mögen
sich auswählen, was sie wollen – ich werde jedenfalls gleich entgegnen und mit Leichtigkeit
beweisen, daß sich Rom ohne jeglichen Grund die Obergewalt anmaßt.
IV,6,13 Es möge aber einmal so sein! Geben wir zu, die Obergewalt wäre, wie
sie schwatzen, von Antiochia nach Rom übertragen worden. Weshalb hat dann aber Antiochia nicht den
zweiten Platz behalten? Denn wenn Rom deshalb die erste Stelle einnimmt, weil Petrus dort bis zum
Schluß seines Lebens seinen Sitz hatte, wem soll man dann eher die zweite geben als der Stadt, in
der er seinen ersten Sitz gehabt hatte? Wie ist es denn gekommen, daß Alexandria den Vorrang vor
Antiochia gewann? Wie reimt sich das, daß die Kirche eines (gewöhnlichen) Jüngers (Markus) dem
Sitz des Petrus vorangeht? Wenn jeder Kirche eine Ehre gemäß der Würde ihres Begründers zukommt,
was sollen wir dann auch von den anderen Kirchen sagen? Paulus nennt drei Männer, die als Säulen
angesehen wurden, nämlich Jakobus, Petrus und Johannes (Gal. 2,9). Wenn nun der römische
Bischofssitz dem Petrus zu Ehren den ersten Platz zugewiesen bekommt, verdienen dann nicht die
Bischofssitze von Ephesus und Jerusalem, wo Johannes und Jakobus wirkten, den zweiten und dritten?
Tatsächlich aber hatte unter den Patriarchaten Jerusalem früher den letzten Platz, und Ephesus
konnte sich nicht einmal in der äußersten Ecke festsetzen! Auch andere Kirchen sind übergangen
worden: sowohl alle, die Paulus gegründet hatte, als auch solche, in denen andere Apostel als
Vorsteher gewirkt hatten. Der Sitz des Markus aber (Alexandria), der nur einer von den Jüngern war,
ist zu Ehren gekommen. Die Papisten müssen nun entweder zugeben, daß diese Ordnung unangebracht
war, oder aber sie müssen uns zugestehen, daß es gar keine fortdauernde Regel ist, daß jeder
einzelnen Kirche der Ehrenrang zukommt, den ihr Begründer besessen hat.
IV,6,14 Allerdings sehe ich nicht, wieweit das, was sie von dem
Amtsaufenthalt des Petrus in der Kirche zu Rom berichten, Glauben finden muß. Auf jeden Fall läßt
sich das, was bei Eusebius steht, nämlich Petrus habe die Kirche dort fünfundzwanzig Jahre lang
geleitet, mit Leichtigkeit widerlegen. Denn wie sich aus dem ersten und zweiten Kapitel des Briefs
an die Galater mit Sicherheit ergibt, ist Petrus noch etwa zwanzig Jahre nach Christi Tod in
Jerusalem gewesen (Gal. 1,18; 2,1ff.); dann ist er nach Antiochia gekommen (Gal. 2,11), und wie
lange er dort gewesen ist, ist ungewiß. Gregor zählt sieben Jahre, Eusebius aber fünfundzwanzig.
Aber man wird finden, daß der Zeitraum zwischen Christi Tod und dem Ende der Regierung des Nero,
unter dem Petrus, wie man berichtet, getötet worden ist, bloß siebenunddreißig Jahre beträgt.
Das Leiden des Herrn nämlich fällt in die Regierung des Tiberius, und zwar in deren achtzehntes
Jahr. Wenn man nun (von den erwähnten siebenunddreißig Jahren) zwanzig Jahre abzieht, die Petrus
nach dem Zeugnis des Paulus in Jerusalem verbracht hat, so bleiben höchstens siebzehn übrig. Diese
muß man nun auf jene zwiefache Wirksamkeit als Bischof (in Antiochia und in Rom) verteilen. Hat
sich Petrus lange in Antiochia aufgehalten, so hat er in Rom nicht verweilen können, es sei denn
für ganz kurze Zeit. Eben dies läßt sich noch klarer zeigen. Paulus hat den Brief an die Römer
von einer Reise aus geschrieben, als er nach Jerusalem zog (Röm. 15,25); dort wurde er
gefangengenommen und dann später nach Rom geführt. Es ist also wahrscheinlich, daß dieser Brief
vier Jahre vor seiner Ankunft in Rom geschrieben worden ist. In diesem Brief findet sich noch keine
Erwähnung des Petrus, und eine solche hätte nicht unterbleiben können, wenn Petrus diese Kirche
(damals) geleitet hätte. Ja, selbst am Ende (des Briefes), wo Paulus eine lange Liste von Frommen
aufzählt, die er zu grüßen gebietet, eine Liste nämlich, in der er alle ihm bekannten Leute
zusammenfaßt (Röm. 16,3-16), schweigt er von Petrus noch vollständig. Bei Menschen mit
einigermaßen gesundem Urteil bedarf es hier auch keines langen und scharfsinnigen Beweises; denn
der Sachverhalt selbst und der ganze Inhalt des Briefes bezeugt laut, daß Paulus den Petrus nicht
hätte übergehen dürfen, wenn dieser in Rom gewesen wäre.
IV,6,15 Dann wurde Paulus gefangen nach Rom gebracht (Apg. 28,16). Lukas
berichtet, daß er von den Brüdern empfangen worden ist (Apg. 28,15f.). Von Petrus kein Wort!
Paulus schreibt von Rom aus an viele Kirchen. In einigen Briefen schreibt er im Namen einiger
Männer Grüße. Aber er läßt nicht mit einem einzigen Wort erkennen, daß Petrus damals in Rom
gewesen sei. Wer, das möchte ich doch wissen, sollte wohl glauben, Paulus hätte schweigen können,
wenn Petrus dort gewesen wäre? Ja, im Brief an die Philipper sagt er zunächst, er habe niemanden,
der das Werk des Herrn so treu besorge wie Timotheus, und dann klagt er: "Sie suchen alle das Ihre
..." (Phil. 2,19-21). Und in einem Brief an den nämlichen Timotheus ist die Klage noch schwerer:
"In meiner ersten Verantwortung stand mir niemand bei, sondern sie verließen mich alle" (2.
Tim. 4,16). Wo war nun damals Petrus? Denn wenn man sagt, er sei in Rom gewesen, was brennt ihm
Paulus dann für einen schlimmen Makel auf, als ob er das Evangelium schmählich verlassen hätte?
Denn er redet von Gläubigen, weil er ja zufügt: "Gott wolle es ihnen nicht zurechnen" (2. Tim.
4,16; nicht Luthertext). Wie lange hat also Petrus diesen Bischofssitz innegehabt und zu welcher
Zeit? Ja, sagt man wohl, es ist doch die feste Überzeugung der Schriftsteller, daß er diese Kirche
bis zu seinem Tode regiert hat! Aber unter den Schriftstellern selbst besteht keine Einhelligkeit
darüber, wer sein Nachfolger gewesen sein soll: die einen nennen Linus, die anderen Clemens. Auch
erzählen sie viele widersinnige Märlein über ein Streitgespräch, das zwischen Petrus und Simon,
dem Zauberer, stattgefunden habe. Auch verhehlt Augustin bei einer Erörterung über abergläubische
Anschauungen nicht, daß in Rom auf Grund einer unüberlegt aufgenommenen Ansicht die Sitte
aufgekommen sei, an dem Tage, an dem Petrus über Simon, den Zauberer, die Siegespalme davongetragen
habe, nicht zu fasten (Brief 36). Kurzum, die Geschehnisse der damaligen Zeit sind durch die
Vielfältigkeit der Meinungen dermaßen verwickelt, daß wir, wo wir etwas geschrieben finden, nicht
gleich alles unüberlegt glauben dürfen. Und doch bestreite ich wegen dieser Einstimmigkeit der
Schriftsteller nicht, daß Petrus in Rom gestorben ist; daß er aber dort Bischof gewesen sei, vor
allem gar lange Zeit hindurch, davon kann man mich nicht überzeugen. Ich kümmere mich auch nicht
sehr darum, weil Paulus bezeugt, daß sich das Apostelamt des Petrus in besonderer Weise auf die
Juden, seines aber auf uns (Heiden) bezieht. Damit also jene Bundesgenossenschaft, die sie (Petrus
und Paulus Gal. 2,9) miteinander abgeschlossen haben, bei uns in Kraft steht, ja, damit die
Anordnung des Heiligen Geistes unter uns als beständig gilt, gebührt es sich, daß wir mehr auf
das Apostelamt des Paulus als auf das des Petrus schauen. Denn der Heilige Geist hat die Aufgaben
unter sie dergestalt verteilt, daß er den Petrus für die Juden, den Paulus aber für uns
bestimmte. Deshalb sollen sich nun die Römischen ihre Obergewalt anderswo suchen als im Worte
Gottes; denn da kann man sie keineswegs begründet finden.
IV,6,16 Jetzt wollen wir zur Alten Kirche kommen, damit auch deutlich wird,
daß unsere Widersacher mit ihrer Zustimmung nicht weniger unbegründet und fälschlich prahlen als
mit dem Zeugnis des Wortes Gottes. Die Römischen rühmen nun ihren Grundartikel, nach welchem die
Einheit der Kirche nur dann erhalten werden kann, wenn es auf Erden ein oberstes Haupt gibt, dem
dann alle Glieder gehorchen sollen; eben deshalb hat, so behaupten sie weiter, der Herr dem Petrus
und danach auch kraft des Rechtes der Aufeinanderfolge dem römischen Stuhl die Obergewalt gegeben,
damit sie bei ihm bis zum Ende verbleibt. Und nun versichern sie, das sei von Anfang an stets so
gehalten worden! Da sie nun aber viele Zeugnisse übel verdrehen, so will ich zunächst vorweg
sagen: ich leugne nicht, daß die Alten der römischen Kirche allenthalben große Würde beilegen
und in Ehrfurcht von ihr reden. Ich meine, daß dies vor allem aus drei Gründen geschieht. (1) Jene
Meinung, die auf wer weiß welche Weise zur Geltung gekommen ist, nämlich diese Kirche sei durch
den Dienst des Petrus begründet und aufgerichtet worden, besaß in höchstem Maße die Kraft, ihr
Gunst und Ansehenzu verschaffen. Deshalb wurde die Kirche zu Rom im Westen auch zu ihrer Ehrung als
"apostolischer Stuhl" bezeichnet. (2) Zweitens war ja Rom die Hauptstadt des Reiches, und aus
diesem Grunde konnte man annehmen, daß dort Männer waren, die sich durch Gelehrsamkeit, Verstand,
Erfahrung und Geübtheit in vielen Sachen mehr auszeichneten, als das irgendwo sonst der Fall war.
Deshalb trug man dieser Tatsache verdientermaßen Rechnung, damit es nicht den Anschein hatte, als
schätze man den hohen Rang der Stadt und auch andere, viel herrlichere Gaben Gottes gering. (3)
Dazu kam auch das dritte. Während die Kirchen des Ostens und Griechenlands, auch die afrikanische
Kirche, in vielen Meinungsstreitigkeiten untereinander im Aufruhr waren, war die Kirche zu Rom
friedlicher und weniger aufgewühlt gewesen. So kam es, daß fromme und heilige Bischöfe, die man
von ihren Sitzen vertrieben hatte, nach Rom ihre Zuflucht nahmen, als ob es gleichsam eine Freistatt
oder ein Hafen wäre. Denn die Menschen im Westen sind weniger scharfen und schnellen Geistes als
die Asiaten und Afrikaner, und dementsprechend trachten sie auch weniger nach Neuerungen. Es trug
also zur Stärkung des Ansehens der Kirche zu Rom sehr wesentlich bei, daß sie in jenen unklaren
Zeiten nicht so ruhelos gewesen ist wie die übrigen, und daß sie an der einmal überlieferten
Lehre zäher festgehalten hat als alle anderen. Das werden wir bald noch besser auseinandersetzen.
Aus diesen drei Ursachen, sage ich, genoß die Kirche in Rom eine ungewöhnliche Ehre und wurde sie
in vielen herrlichen Zeugnissen der Alten gepriesen.
IV,6,17 Wenn aber unsere Gegner auf Grund dieser Tatsachen der Kirche zu Rom
die Obergewalt und die höchste Macht über die anderen Kirchen verschaffen wollen, dann handeln
sie, wie ich bereits sagte, völlig verkehrt. Damit das klarer herauskommt, will ich zunächst kurz
zeigen, was denn die Alten über die Einheit gedacht haben, auf die die Papisten solchen Nachdruck
legen. Hieronymus zählt in einem Brief an Nepotian zunächst viele Beispiele solcher Einheit auf,
und dann kommt er schließlich auf die kirchliche Hierarchie zu sprechen. Da sagt er: "Jeder
einzelne Bischof einer Kirche, auch jeder Archipresbyter, jeder Archidiakon und überhaupt jeder
kirchliche Rang stützt sich auf seine Regenten" (Der Brief ist an Rusticus gerichtet, Brief 125).
Hier redet ein Presbyter der Kirche zu Rom; er preist die Einheit im kirchlichen Stande – weshalb
aber erwähnt er nicht, alle Kirchen seien untereinander durch das eine Haupt wie durch ein Band
verbunden? Es gab doch nichts, was zu der eben von ihm behandelten Sache besser hätte dienen
können! Auch läßt sich nicht sagen, diese Übergehung (des angeblichen menschlichen Oberhaupts
der Kirche) sei aus Vergeßlichkeit geschehen; denn Hieronymus hätte nichts lieber getan (als dies)
- wenn die Sache es gelitten hätte! Er sah also ohne jeden Zweifel, daß die wahre Art der Einheit
die ist, die Cyprian so trefflich beschreibt, wenn er sagt: "Es ist ein Bischofsamt, von dem jeder
einzelne (Bischof) ein Stück vollkömmlich innehat, und es ist eine Kirche, die sich mit wachsender
Fruchtbarkeit in ihrer Vielheit zu größerer Weite ausbreitet. Die Strahlen der Sonne sind viele,
und das Licht ist doch eins, viele Äste hat der Baum, aber einen einzigen Stamm, der auf fester
Wurzel gegründet ist; von einer einzigen Quelle fließen sehr viele Bäche her, und mag auch bei
dem Reichtum der überströmenden Wassermenge der Eindruck einer verstreuten Vielheit entstehen, so
bleibt doch im Ursprung die Einheit erhalten. Genau so breitet auch die Kirche, von dem Lichte des
Herrn durchflossen, ihre Strahlen über den ganzen Erdkreis aus, und doch ist es ein Licht, das sich
da allenthalben ergießt, und die Einheit ihres Leibes wird nicht zerteilt; sie streckt ihre Äste
über den ganzen Erdkreis hin, sie strömt überfließende Bäche aus, und doch ist es ein Haupt und
ein Brunnquell ..." (Von der Einheit der katholischen Kirche 5). Und dann heißt es weiter: "Die
Braut Christi kann man nicht zum Ehebruch verführen: sie kennt das eine Haus, und sie hütet die
Heiligkeit der einen Kammer in züchtiger Scham" (Von der Einheit der katholischen Kirche 6). Da
sieht man, wie er allein Christi Bischofsamt für allgemeinwirksam erklärt, weil es die ganze
Kirche unter sich erfaßt, und wie er es ausspricht, daß jeder einzelne, der unter diesem Haupte
ein Bischofsamt ausrichtet, ein Stück davon vollkömmlich innehat. Wo bleibt die Obergewalt des
römischen Stuhls, wenn bei Christus allein sein Bischofsamt unverkürzt verbleibt und jeder
einzelne einen Teil davon vollkömmIich innehat? Diese Ausführungen haben den Zweck, daß der Leser
im Vorbeigehen einsieht: jener Hauptgrundsatz von der Einheit des irdischen Hauptes in der
Hierarchie, den die Römischen für ausgemacht und unzweifelhaft ansehen, ist den Alten ganz und gar
unbekannt gewesen.
Vom Beginn und vom Wachstum des römischen Papsttums, bis es zu seiner heutigen
Hoheit emporgestiegen ist, durch welche die Freiheit der Kirche unterdrückt und zugleich alles
rechte Maß umgestürzt worden ist
IV,7,1 Was das Alter der Obergewalt des römischen Stuhls betrifft, so besitzt
man zu seiner Bekräftigung nichts Älteres als jenen Beschluß des Konzils von Nicäa (325), kraft
dessen dem Bischof von Rom der erste Platz unter den Patriarchen eingeräumt und ihm zugleich die
Weisung erteilt wird, die in der Nachbarschaft der Stadt gelegenen Kirchen zu versorgen. Wenn nun
das Konzil zwischen ihm und den anderen Patriarchen dergestalt teilt, daß es jedem sein Gebiet
zuweist, so setzt es ihn wahrhaftig nicht zum Haupt über alle ein, sondern macht ihn zu einem der
Vornehmsten. Bei dem Konzil waren im Namen des Julius, der dazumal die Kirche zu Rom regierte, Vitus
und Vincentius zugegen; diesen hat man den vierten Platz zugewiesen. Ich möchte doch wissen, ob man
die Abgesandten des Julius auf den vierten Platz verwiesen hätte, wenn er selbst damals als Haupt
der Kirche anerkannt gewesen wäre! Hätte dann auch wohl Athanasius den Vorsitz bei dem Konzil
geführt, wo doch gerade darin die Gestalt der hierarchischen Ordnung besonders leuchtend
hervortreten soll? Auf der Synode von Ephesus (431) hat Coelestinus, der damals römischer Bischof
war, offenkundig einen versteckten Kunstgriff angewandt, um für die Würde seines Stuhles zu
sorgen. Denn obwohl er seine Leute dorthin sandte, trug er dem Cyrill von Alexandria, der auch
ohnedies den Vorsitz führen sollte, seine "Vertretung" auf. Wozu sollte solch ein Auftrag
anders dienen als dazu, daß auf irgendeine Weise sein Name an dem ersten Platz haften sollte? Denn
seine Abgesandten hatten an untergeordneter Stelle ihren Sitz, man fragte sie um ihre Meinung wie
andere auch, und sie unterschrieben nach ihrem eigenen Rang; unterdessen aber verband der Patriarch
von Alexandria den Namen des römischen Bischofs mit seinem eigenen! Was soll ich von dem zweiten
Konzil zu Ephesus (449) sagen? Da waren zwar die Abgesandten Leos (I.) zugegen, aber trotzdem
führte der Patriarch Dioskur von Alexandria gleichsam auf Grund seines eigenen Rechtes den Vorsitz.
Die Papisten werden freilich einwenden, dies Konzil habe doch den heiligen Mann Flavian verdammt,
den Eutyches dagegen freigesprochen und seine Unfrömmigkeit gebilligt, und deshalb sei es eben
nicht rechtgläubig gewesen. Ja, aber als die Synode zusammentrat und als die Bischöfe die Sitze
unter sich verteilten, da saßen jedenfalls die Abgesandten der Kirche von Rom unter den anderen,
nicht anders als in einem heiligen und rechtmäßigen Konzil! Trotzdem stritten die römischen
Gesandten nicht um den ersten Platz, sondern überließen ihn jemand anders, und das hätten sie nie
und nimmer getan, wenn sie geglaubt hätten, dieser Platz käme ihnen mit Recht zu. Denn die
Bischöfe von Rom haben sich nie geschämt, um ihrer Ehre willen die größten Streitigkeiten zu
entfesseln und allein aus diesem Grunde die Kirche oftmals mit vielen und gefährlichen Kämpfen zu
beunruhigen und zu verwirren. Nein, Leo sah eben ein, daß es ein allzu unverschämtes Verlangen
sein würde, wenn er für seine Abgesandten den ersten Platz beanspruchte, und deshalb sah er davon
ab.
IV,7,2 Dann folgte das Konzil zu Chalcedon (451). Auf diesem haben die
Abgesandten der Kirche zu Rom mit Zustimmung des Kaisers den ersten Platz eingenommen. Aber Leo
selbst gibt zu, daß dies ein außergewöhnliches Vorrecht war; denn als er es von dem Kaiser
Marcian und der Kaiserin Pulcheriaerbittet, da behauptet er nicht, es komme ihm zu, sondern er
braucht nur den Vorwand, die Bischöfe des Ostens, die auf dem Konzil zu Ephesus (449) den Vorsitz
geführt hatten, hätten damals alles durcheinandergebracht und ihre Macht übel mißbraucht. Da es
also eines ernstgesinnten Leiters bedurfte und da es nicht wahrscheinlich war, daß die, die einmal
so leichtfertig und aufrührerisch gewesen waren, zu dieser Aufgabe geeignet sein würden, so bat
Leo, man möge ihm wegen der Fehlerhaftigkeit und mangelnden Eignung der anderen die Aufgabe der
Leitung übertragen. Wenn er das kraft eines besonderen Vorrechts und außerhalb der Ordnung
erbittet, so beruht es jedenfalls nicht auf einem allgemeinen Gesetz. Wenn er nun den einen Vorwand
braucht, es sei ein neuer Vorsitzender erforderlich, weil sich die vorigen übel verhalten hätten,
so geht daraus klar hervor, daß es weder vorher so gemacht worden ist noch auf die Dauer so sein
muß, sondern ausschließlich im Blick auf die gegenwärtige Gefahr geschieht. Der römische Bischof
hat also auf dem Konzil zu Chalcedon den ersten Platz nicht etwa deshalb, weil dieser seinem Stuhl
zukäme, sondern weil es der Synode an einem ernsten und geschickten Leiter fehlt, indem sich eben
die, denen der Vorsitz gebührte, durch ihre Zügellosigkeit und Willkür von diesem Platz
ausschließen. Was ich sage, das hat dann ein Nachfolger Leos (I.) tatsächlich bestätigt. Denn als
er zu der lange Zeit später abgehaltenen fünften Synode zu Konstantinopel (553) seine Abgesandten
schickte, da stritt er nicht um den ersten Platz, sondern ließ es mit Leichtigkeit hingehen, daß
der Patriarch Mennas von Konstantinopel den Vorsitz führte. Ebenso sehen wir auch, daß auf dem
Konzil zu Karthago (418), an dem Augustin teilnahm, nicht die Abgesandten des römischen Stuhls den
Vorsitz geführt haben, sondern der örtliche Erzbischof Aurelius, und das, obwohl der Streit gerade
um die Autorität des römischen Oberpriesters ging. Ja, es ist sogar in Italien selbst ein
allgemeines Konzil abgehalten worden, an dem der Bischof von Rom nicht teilgenommen hat, nämlich
das Konzil zu Aquileja (381). Den Vorsitz führte dabei Ambrosius, der damals beim Kaiser in sehr
hohem Ansehen stand. Der römische Bischof wurde dort gar nicht erwähnt. So ist es damals vermöge
der Würde des Ambrosius dahin gekommen, daß der Bischofsstuhl von Mailand in höherem Glänze
stand als der von Rom.
IV,7,3 Was nun den Titel "Obergewalt" und andere hoffärtige Bezeichnungen
anbelangt, deren sich der Papst heutzutage großmächtig rühmt, so ist nicht schwer ein Urteil
darüber zu gewinnen, wann und auf welche Weise sie aufgekommen sind. Cyprian erwähnt oft den
(Bischof) Cornelius (von Rom); aber er verwendet zu seiner Bezeichnung keine anderen Namen als "Bruder",
" Mitbischof" oder "Amtsgenosse". Wenn er aber an Stephanus, den Nachfolger des Cornelius,
schreibt, so behandelt er ihn nicht nur als ihm selber und anderen gleichgestellt, sondern fährt
auch recht scharf gegen ihn los und wirft ihm bald Anmaßung, bald Unwissenheit vor (Brief 72,3 und
75,3). Aus der Zeit nach Cyprian wissen wir, was hierüber die ganze afrikanische Kirche für eine
Meinung hatte. Denn ein Konzil zu Karthago (397) verbot es, daß jemand als "Oberster der Priester"
oder als "erster Bischof" bezeichnet wurde, und erlaubte nur die Benennung "Bischof des ersten
Stuhls". Wenn jemand ältere Urkunden durchblättert, so wird er finden, daß sich der Bischof von
Rom damals mit der allgemeinen Anrede "Bruder" zufriedengegeben hat. Auf jeden Fall waren,
solange die wahre und reine Gestalt der Kirche dauerte, all jene hoffärtigen Namen, mit denen der
römische Stuhl hernach übermütig zu werden begann, gänzlich unerhört; was "der oberste
Bischof" und das "einige Haupt der Kirche auf Erden" sei, das wußte man nicht. Wenn der
Bischof von Rom es gewagt hätte, sich dergleichen anzumaßen, so waren da immerhin beherzte
Männer, um seine Torheit alsbald zurückzuweisen. Hieronymus war ein Presbyter der Kirche zu Rom,
und er war deshalb nicht knauserig damit, die Würde seiner Kirche zu rühmen, soweit es die Sache
und die Zeitverhältnisse zuließen. Trotzdem sehen wir, wie er auch diese seine Kirche in die
Ordnung hineinstellt. "Wenn man nach dem Ansehen fragt", sagt er, "so ist der Erdkreis
größer als eine Stadt. Was hältst du mir die Gewohnheit einer einzigen Stadt vor? Wozu berufst du
dich auf eine geringe Zahl, von der die Hoffart ausgegangen ist, gegenüber den Gesetzen der Kirche?
Wo auch immer ein Bischof gewesen ist, sei es zu Rom oder zu Eugubium, zu Konstantinopel oder zu
Rhegium – er hat das gleiche Verdienst und das gleiche Priesteramt! Die Macht der Reichtümer oder
auch die Niedrigkeit der Armut macht einen Bischof nicht höher und nicht geringer" (Brief 146, an
Euangelus bzw. Euagrius).
IV,7,4 Über den Titel "Allgemeiner Bischof" (universalis episcopus) ist
erst zur Zeit Gregors (I.) ein Streit entstanden. Den Anlaß dazu bot die Ehrsucht des Johannes von
Konstantinopel. Denn dieser wollte sich, was niemand anders je vorher versucht hatte, zum
Allgemeinbischof machen. In diesem Streit gibt nun Gregor nicht als Grund an, das Recht, das
Johannes für sich begehrte, werde ihm damit entrissen; nein, er erhebt wacker Einspruch und
erklärt, das sei eine unheilige, ja frevlerische Bezeichnung, ja, sie sei ein Vorbote des
Antichrists. "Es fällt ja die ganze Kirche aus ihrem Stand heraus", sagt er, "wenn der
fällt, der sich Allgemeinbischof nennen läßt" (Brief V,37). Und an anderer Stelle sagt er: "Es
ist ein sehr trauriges Ding, wenn man geduldig ertragen soll, daß unser Bruder und Mitbischof unter
Verachtung aller allein Bischof heißen soll. Aber was tritt in dieser seiner Hoffart anders zutage,
als daß die Seiten des Antichrists bereits nahe sind? Denn er macht es doch dem nach, der die
Gemeinschaft der Engel verachtete und versuchte, zum Gipfel der Alleinherrschaft emporzusteigen"
(Brief V,39). An anderer Stelle schreibt er an Eulogius von Alexandria und Anastasius von Antiochia:
"Keiner meiner Vorgänger hat je diese unheilige Bezeichnung anwenden wollen; denn es ist doch so:
wenn einer ‘allgemeiner Patriarch’ heißt, so wird den anderen damit der Name ‘Patriarch’
abgesprochen. Aber es sei ferne von einem christlichen Sinn, daß sich jemand etwas anmaßen wollte,
wodurch er der Ehre seiner Brüder auch nur zum geringsten Teil Abbruch tun könnte" (Brief V,41).
(Oder anderwärts:) "In diesen verruchten Namen einzuwilligen, das heißt nichts anderes, als den
Glauben zugrunde zu richten" (Brief V,45). "Es ist etwas anderes", sagt er, "was wir zu tun
haben, um die Einheit des Glaubens zu wahren – und etwas anderes, was wir unternehmen sollen, um die
Hoffart zu dämpfen. Ich sage aber frei heraus, daß jeder, der sich ‘allgemeiner Priester’
nennt oder begehrt, so genannt zu werden, in seiner Hoffart ein Vorläufer des Antichrists ist, weil
er sich durch sein hochmütiges Verhalten über die anderen stellt" (Brief VII,30). Ebenso
schreibt er, wiederum an Anastasius von Alexandria: "Ich habe gesagt, daß er mit uns keinen
Frieden haben kann, wofern er nicht die Hoffart jener abergläubischen und hochmütigen Bezeichnung
fahren läßt, die der erste Abtrünnige erfunden hat. Auch ist es doch – um von dem Unrecht zu
schweigen, das damit eurer Ehre angetan wird – so: wenn einer ‘allgemeiner Bischof’ heißt, so
bricht die gesamte Kirche zusammen, sobald dieser ‘Allgemeinbischof’ fällt" (Brief VII,24).
Er schreibt dann auch, man habe diese Ehre auf dem Konzil zu Chalcedon dem Leo angetragen. Aber das
hat keinen Schein von Wahrheit. Denn man liest in den Verhandlungen jener Synode nichts dergleichen.
Auch bekämpft Leo selbst in vielen Briefen den dort zu Ehren des Stuhls von Konstantinopel
gefaßten Beschluß, und er hätte dabei ohne Zweifel dies Beweisstück, das doch von allen das
überzeugungskräftigste gewesen wäre, nicht ausgelassen, wenn es wahr gewesen wäre, daß er
solche Würde angeboten bekommen und abgelehnt hätte. Auch war Leo doch im übrigen mehr als genug
auf Ehre versessen, und er hätte deshalb nicht gerne etwas ausgelassen, das ihm zum Lobe gereicht
hätte. Gregor war also im Irrtum, wenn er meinte, jener Titel sei dem römischen Stuhl von der
Synode zu Chalcedonangetragen worden (Brief V,37; V,41). Dabei will ich noch davon schweigen, daß
es lächerlich ist, wenn er bezeugt, dieser Titel sei von der heiligen Synode ausgegangen, und wenn
er doch zugleich von ihm sagt, er sei verbrecherisch, unheilig, ruchlos, hoffärtig und frevlerisch,
ja, vom Teufel erdacht und von einem Herold des Antichrists an die Öffentlichkeit gebracht (Brief
IX,156). Und doch fügt er an, sein Vorgänger Leo habe diesen Titel abgelehnt, damit nicht, indem
einem etwas für sich allein gegeben werde, sämtliche Priester der ihnen gebührenden Ehre beraubt
würden (Brief V,37). An anderer Stelle heißt es: "Niemand hat je mit einer solchen Bezeichnung
angeredet werden wollen, niemand hat diesen unüberlegten Namen an sich gebracht, damit er sich
nicht im biblischen Rang den Ruhm einer einzigartigen Sonderstellung aneignete und dadurch den
Eindruck erweckte, als habe er diesen Ruhm allen seinen Brüdern entzogen" (Brief V,44).
IV,7,5 Ich komme nun zu der Rechtsprechungsgewalt, die der römische Bischof
ohne Widerspruch über alle Kirchen zu haben behauptet. Ich weiß, was für große Streitigkeiten
darüber in alter Zeit stattgefunden haben; denn es hat nie eine Zeit gegeben, in der nicht der
römische Stuhl die Herrschaft über die anderen Kirchen erstrebt hätte. Es wird auch an dieser
Stelle nicht unangebracht sein, wenn wir untersuchen, auf welche Weise er damals allmählich zu
einer gewissen Macht emporgestiegen ist. Ich rede noch nicht von der heutigen, unbegrenzten
Herrschaft, die er sich vor noch nicht so sehr langer Zeit angeeignet hat; denn das wollen wir bis
auf die dazu vorgesehene Stelle verschieben. Hier aber ist es vonnöten, daß ich mit wenigen Worten
zeige, wie und auf welche Weise er sich einst erhoben hat, um sich einiges Recht über andere
Kirchen herauszunehmen. Als die Kirchen des Ostens unter den Kaisern Konstantius und Konstans, den
Söhnen Konstantins des Großen, durch die arianischen Streitigkeiten zerspalten und verwirrt waren
und Athanasius, der daselbst der vornehmste Verteidiger des orthodoxen Glaubens war, von seinem
Bischofsstuhl vertrieben war, da sah sich Athanasius durch solche Not gezwungen, nach Rom zu kommen,
um vermöge der Autorität des römischen Stuhles sowohl die Wut seiner Feinde einigermaßen zu
dämpfen, als auch die im Kampfe stehenden Frommen zu stärken. Er wurde von dem damaligen Bischof
Julius ehrenvoll empfangen und erreichte es, daß die Kirchen des Westens die Verteidigung seiner
Sache in die Hand nahmen. Da also die Gläubigen fremder Hilfe sehr bedurften und da sie weiter
sahen, daß in der Kirche von Rom für sie ein sehr guter Schutz lag, so übertrugen sie ihr gern
soviel Autorität, wie sie nur konnten. Das war aber alles nichts anderes, als daß die Gemeinschaft
mit der Kirche zu Rom hochgeschätzt wurde und es andererseits als schimpflich galt, von ihr mit dem
Bann belegt zu werden. Späterhin haben auch selbst die Bösen und Gottlosen dieser Autorität viel
Zuwachs verschafft: um nämlich den rechtmäßigen Gerichten zu entgehen, begaben sie sich nach Rom
als zu einem Freiplatz. Wenn also irgendein Presbyter von seinem Bischof oder irgendein Bischof von
seiner Provinzialsynode verurteilt worden war, so beriefen sie sich sogleich auf Rom. Und die
Bischöfe von Rom nahmen diese Berufungen begieriger an, als es billig war, und zwar, weil es eine
Art außergewöhnlicher Macht zu sein schien, sich auf diese Weise weit und breit in die Dinge
einzumischen. Als z.B. Eutyches durch Flavian von Konstantinopel verurteilt worden war, beklagte er
sich bei Leo, es sei ihm Unrecht geschehen. Dieser zögerte keinen Augenblick und übernahm den
Schutz dieser üblen Sache ebenso unüberlegt wie plötzlich; er fuhr gegen Flavian heftig los, als
ob er ohne Untersuchung des Falles einen unschuldigen Menschen verurteilt hätte – und mit dieser
seiner Ehrsucht brachte er es dahin, daß sich die Unfrömmigkeit des Eutyches eine Zeitlang
verstärkte! In Afrika ist das offenbar öfters vorgekommen; sobald nämlich irgendein Schwätzer im
ordentlichen Gericht unterlegen war, begab er sich schleunigst nach Rom und belastete die Seinigen
mit vielen Schmähungen; der römische Stuhl aber war stets bereit, sich ins Mittel zu legen! Diese
Unverschämtheit zwang die Bischöfe von Afrika zu dem Erlaß, es dürfe bei Strafe des Bannes
keiner jenseits des Meeres (eben in Rom) eine Berufung vorbringen.
IV,7,6 Wie das aber nun auch gewesen sein mag – wir wollen untersuchen, was
für ein Recht oder was für eine Macht der römische Stuhl dazumal besessen hat. Die Kirchengewalt
besteht nun in vier Hauptstücken: sie umfaßt (1) die Ordination der Bischöfe, (3) die
Ausschreibung von Konzilien, (4) das Anhören von Berufungen oder die "Jurisdiktion" und (2) die
Vermahnungen im Sinne der Kirchenzucht oder die "Zensuren". (1) Alle alten Synoden gebieten, die
Bischöfe sollten von dem zuständigen Bischof der Hauptstadt (dem Metropoliten) ordiniert werden;
eine Herbeirufung des Bischofs, von Rom ordnen sie nirgends an, außer in dessen eigenem
Patriarchat. Allmählich aber kam die Sitte auf, daß sämtliche Bischöfe Italiens nach Rom kamen,
um ihre Weihe nachzusuchen, mit Ausnahme der Metropoliten, die sich in diese Knechtschaft nicht
hineinzwingen ließen. Sollte ein Metropolit ordiniert werden, so sandte der Bischof von Rom
vielmehr einen von seinen Presbytern dorthin, der bloß zugegen sein, nicht aber die Leitung haben
sollte. Ein Beispiel dafür haben wir bei Gregor (I.) in der Weihe des Konstantius von Mailand vor
uns, nach dem Tode des Laurentius (Brief III,29). Ich glaube allerdings nicht, daß dies Verfahren
sehr alt gewesen ist. Es war vielmehr so: im Anfang schickten sie hin und her Abgesandte, und zwar
zur Ehrung und aus Wohlwollen: diese sollten Zeugen der Ordination sein, um die gegenseitige
Gemeinschaft zu bekunden; später hat man dann begonnen, das, was freiwillig war, als notwendig
anzusehen. Wie dem auch sein mag – es steht jedenfalls fest, daß der Bischof von Rom die Vollmacht
zur Ordination einstmals allein im Gebiet seines Patriarchats besessen hat, das heißt in den der
Stadt benachbarten Kirchen, wie die Satzung des Konzils von Nicäa sagt. Mit der Ordination war die
Aussendung des Synodalsendschreibens verbunden. Auch hierin hatte der Bischof von Rom keine höhere
Stellung als die anderen. Die Patriarchen pflegten gleich nach ihrer Weihe in einem feierlichen
Schreiben ihren Glauben zu verbürgen, um dadurch zu bezeugen, daß sie den (Beschlüssen der)
heiligen und rechtgläubigen Synoden zustimmten. So sprachen sie sich, nachdem sie von ihrem Glauben
Rechenschaft abgelegt hatten, gegenseitig ihre Anerkennung aus. Wenn nun der Bischof von Rom dieses
Bekenntnis von den anderen empfangen, selbst aber nicht abgelegt hätte, dann wäre er damit als
übergeordnet anerkannt worden. Aber tatsächlich mußte er es ebensogut abgeben, wie er es von den
anderen erforderte, er mußte also dem gemeinsamen Gesetz unterworfen sein, und das war sicherlich
ein Zeichen von Gemeinschaft, nicht aber von Herrschaft. Ein Beispiel dafür findet sich in dem
Briefe Gregors an Anastasius (Brief I,25), in einem anderen an Cyriacus von Konstantinopel (VII,5)
und anderwärts in einem Schreiben an alle Patriarchen zugleich II,,24).
IV,7,7 (2) Dann folgen die Vermahnungen oder "Zensuren". Diese haben die
Bischöfe von Rom einst gegen andere geübt, aber genau so auch ihrerseits erdulden müssen. So hat
Irenäus den (Bischof) Viktor (von Rom) scharf zurechtgewiesen, weil er um einer völlig
unbedeutenden Sache willen die Kirche unüberlegt mit gefährlicher Spaltung verwirrte. Und Viktor
erhob keinen Widerspruch, sondern gehorchte! Bei den heiligen Bischöfen war dazumal die Freiheit
gebräuchlich, daß sie gegenüber dem Bischof von Rom mit Ermahnen und Strafen das Bruderrecht
übten, wenn er sich einmal versündigte. Dieser gemahnte dann wiederum auch seinerseits die anderen
an ihre Amtspflicht, wenn die Sache es erforderte; und wenn ein Fehler vorlag, so tadelte er ihn. So
fordert Cyprian den Stephanus (von Rom) auf, er solle die Bischöfe von Gallien ermahnen; aber er
entlehnt nun den Grund dazu nicht etwa dessen größerer Vollmacht, sondern dem allgemeinen Recht,
das die Priester untereinander haben. Ich möchte doch wissen: hätte Cyprian, wenn Stephanus
dazumal ein Führungsrecht über Gallien gehabt hätte, nicht sagen müssen: "Züchtige sie, denn
es sind deine Leute"? Tatsächlich aber redet er ganz anders: "Diese brüderliche Gemeinschaft",
sagt er, "mit der wir untereinander verbunden sind, erfordert es, daß wir uns gegenseitig
ermahnen" (Brief 68). Und wir sehen auch, mit was für bitteren Worten dieser sonst so
mildgesinnte Mann gegen Stephanus selber losfährt, wo er meint, daß dieser gar zu übermütig wird
(Brief 74). So tritt also auch in diesem Stück noch nicht zutage, daß der Bischof von Rom
irgendeine Rechtsprechungsgewalt gegen die besessen hätte, die nicht zu seinem Gebiet gehörten.
IV,7,8 (3) Was nun die Einberufung von Synoden betrifft, so hatte jeder
Metropolit die Amtsaufgabe, zu festgesetzten Zeiten die Provinzialsynode zu versammeln. Darin hatte
der Bischof von Rom keinerlei Recht. Ein allgemeines Konzil aber auszuschreiben, das vermochte
allein der Kaiser. Wenn dies nämlich irgendeiner von den Bischöfen versucht hätte, so hätten
nicht nur die, die außerhalb seines Bereiches waren, seinem Ruf den Gehorsam verweigert, sondern es
wäre auch sofort ein Aufruhr entstanden. Deshalb ließ der Kaiser allen gleichermaßen die
Botschaft zukommen, sie sollten anwesend sein. Zwar berichtet (der Kirchengeschichtsschreiber)
Sokrates, (der Bischof) Julius (von Rom) habe sich bei den Bischöfen des Ostens beschwert, weil sie
ihn nicht zu der Synode von Antiochia gerufen hätten, obwohl es doch nach den Kirchensatzungen
verboten sei, ohne Mitwissen des Bischofs von Rom etwas zu beschließen (Historia tripartita IV,9).
Aber wer sieht nicht, daß man hier an solche Beschlüsse denken muß, die die gesamte Kirche
binden? Es ist nun aber keineswegs verwunderlich, wenn man dem Alter und der Bedeutung der Stadt wie
auch der Würde ihres Bischofssitzes soviel Ehre antut, daß man in Abwesenheit des Bischofs von Rom
keinen allgemeinen Beschluß über die Gottesverehrung faßt, vorausgesetzt daß er es nicht
ablehnt, zugegen zu sein. Aber was hat das mit einer Herrschaft über die ganze Kirche zu tun? Denn
wir leugnen ja gar nicht, daß der Bischof von Rom einer von den vornehmsten gewesen ist; wir wollen
aber nicht annehmen, was die Römischen heutzutage behaupten, nämlich, daß er eine Herrschaft
über alle innegehabt hätte.
IV,7,9 (4) Jetzt ist noch die vierte Art von (kirchenregimentlicher) Macht
übrig, die in den Berufungen (bei kirchlichen Prozessen) besteht. Es steht fest, daß bei dem, auf
dessen Richterstuhl man sich beruft, die oberste Herrschaft liegt, viele haben sich nun, und zwar
oft, auf den Bischof von Rom berufen, auch hat er selber versucht, die Untersuchung der Fälle an
sich zu ziehen; aber er wurde stets ausgelacht, wenn er seine Grenzen überschritt. Ich will nichts
vom Osten oder von Griechenland sagen, nein, es steht fest, daß auch die Bischöfe von Gallien
tapfer widerstanden haben, wenn es den Eindruck machte, als wollte er sich eine Herrschaft über sie
anmaßen. In Afrika ist über diese Sache lange Zeit hindurch gestritten worden. Als nämlich auf
dem Konzil zu Mileve, an dem Augustin teilnahm, die Leute mit dem Bann belegt worden waren, die "jenseits
des Meeres" eine Berufung vorbrachten, da versuchte der Bischof von Rom zu erreichen, daß dieser
Beschluß rückgängig gemacht würde. Er schickte Abgesandte, die darlegen sollten, daß ihm auf
dem Konzil zu Nicäa dieses Vorrecht gegeben worden sei. Diese Abgesandten legten Akten des Konzils
zu Nicäa vor, die sie aus dem Archiv ihrer Kirche entnommen hatten. Die Afrikaner leisteten
Widerstand und erklärten, man dürfe dem Bischof von Rom in eigener Sache keinen Glauben schenken
und sie würden deshalb Boten nach Konstantinopel und in andere Städte Griechenlands schicken, wo
man weniger verdächtige Exemplare (dieser Konzilsakten) hätte. Dabei brachte man klar in
Erfahrung, daß darin nichts von der Art geschrieben stand, wie es die Römischen vorgeschoben
hatten! So ist jener Beschluß, der dem Bischof von Rom das oberste Untersuchungsrecht abgesprochen
hatte, in Geltung geblieben. In dieser Sache kam die schandbare Unverschämtheit des Bischofs von
Rom selber zum Vorschein. Denn er hatte in betrügerischer Weise die (Beschlüsse der) Synode von
Sardika (347) für die von Nicäa eingeschoben und wurde nun schimpflich bei offenem Betrug ertappt.
Aber noch größer und schamloser war die Nichtsnutzigkeit derer, die den Akten des Konzils einen
gefälschten Brief zufügten, in dem ich weiß nicht was für ein Bischof von Karthago die Anmaßung
seines Vorgängers Aurelius verdammt, weil dieser es gewagt habe, sich dem Gehorsam gegenüber dem
apostolischen Stuhl zu entziehen, sich selbst und seine Kirche unterwirft und demütig um Verzeihung
bittet! Das sind also die herrlichen Urkunden der alten Zeit, auf die die Majestät des römischen
Stuhls gegründet ist; (sie kommen zustande,) indem sie unter dem Vorwande ganz alter Herkunft
dermaßen kindisch lügen, daß es selbst Blinde tastend merken können! "Aurelius", so sagt
dieser "Bischof von Karthago", "hat sich, von teuflischer Vermessenheit und Widerspenstigkeit
übermütig gemacht, gegen Christus und den heiligen Petrus empört, und deshalb muß er mit dem
Anathema verdammt werden." Was hat denn Augustin getan? Was haben denn die vielen Väter getan,
die an dem Konzil von Mileve teilgenommen haben? Aber wozu ist es nötig, mit vielen Worten dieses
törichte Schriftstück zu widerlegen, das nicht einmal die Römischen selbst ohne große Scham
anschauen können, wenn sie noch einiges Ehrgefühl haben? Ebenso (wie die oben genannten Betrüger)
macht es Gratian, ob nun aus Bosheit oder aus Unwissenheit, das weiß ich nicht: er berichtet
zunächst von jenem Beschluß, nach dem alle, die "jenseits des Meeres" Berufung einlegen, der
kirchlichen Gemeinschaft verlustig gehen sollen – und dann fügt er die Ausnahme hinzu: "Sofern
sie sich nicht etwa auf den römischen Stuhl berufen" (Decretum Gratiani II,2,6,35)! Was soll man
nun mit solchen wilden Tieren anfangen, denen der gesunde Menschenverstand dermaßen abgeht, daß
sie von einem Gesetz eben gerade das eine ausnehmen, dessentwegen, wie jedermann weiß, dies Gesetz
aufgestellt worden ist? Denn wenn das Konzil die Berufungen "jenseits des Meeres" verurteilt, so
richtet sich sein Verbot doch nur dagegen, daß sich jemand auf Rom beruft. Und hier nimmt der gute
Ausleger gerade Rom von dem allgemeinen Gesetz aus!
IV,7,10 Aber – wir wollen diese Frage einmal zu Ende bringen -: wie die
Rechtsprechungsgewalt des Bischofs von Rom einst geartet war, das wird eine Geschichte offen an den
Tag bringen. Der Bischof Caecilian von Karthago war von Donatus von Casae Nigrae angeklagt worden.
Der Angeklagte war ohne Verhör und Prozesse verurteilt worden. Denn er wußte, daß die Bischöfe
gegen ihn eine Verschwörung gemacht hatten, und wollte deshalb nicht (vor ihrem Gericht)
erscheinen. Daraufhin kam die Sache an den Kaiser Konstantin. Dieser wollte, daß die Angelegenheit
durch ein kirchliches Urteil erledigt würde, und deshalb übertrug er die Untersuchung dem Bischof
Melciades von Rom, dem er als Amtsgenossen einige Bischöfe aus Italien, Gallien und Spanien zur
Seite stellte (Augustin, Brief 43 und 88 und Kleiner Bericht über eine Zusammenkunft mit den
Donatisten,12). Wenn es nun zur gewöhnlichen Rechtsprechungsgewalt des römischen Stuhls gehörte,
Berufungen in kirchlichen Rechtsfällen zu untersuchen – weshalb duldete es dann der Bischof von
Rom, daß ihm nach der Entscheidung des Kaisers andere Bischöfe zur Seite gestellt wurden, ja,
weshalb übernahm er das Urteil mehr auf Befehl des Kaisers als auf Grund seiner Amtsaufgabe? Aber
wir wollen hören, was sich nachher zutrug. Caecilian siegte in diesem Verfahren, und Donatus von
Casae Nigrae fiel mit seiner verleumderischen Anklage durch. Er legte Berufung ein. Da übertrug
Konstantin das Berufungsurteil dem Bischof von Arles, und dieser nahm den Richterstuhl ein, um nach
dem Bischof von Rom das ihm richtig erscheinende Urteil zufällen! Wenn nun der römische Stuhl die
höchste (richterliche) Gewalt hat, so daß eine Berufung nicht weiter eintreten kann – weshalb
duldet es dann Melciades, daß ihm eine so auffallende Schmach zugefügt wird, daß man ihm den
Bischof von Arles vorzieht? Und wer ist der Kaiser, der das tut? Doch Konstantin, von dem die
Römischen rühmen, er habe nicht nur all seinen Eifer, sondern beinahe alle Macht seines Reiches
daran gewandt, die Würde ihres Stuhls zu vergrößern! Wir sehen also schon, wie weit damals der
Bischof von Rom in jeder Hinsicht von jener obersten Herrschaft entfernt war, die ihm nach seiner
Versicherung von Christus über alle Kirchen gegeben ist und von der er lügnerisch behauptet, er
habe sie zu allen Zeiten mit Einwilligung der ganzen Welt innegehabt.
IV,7,11 Ich weiß wohl, wieviel Briefe, wieviel Reskripte und Edikte es gibt,
in denen die Päpste dem römischen Stuhl alles nur Denkbare beilegen und es zuversichtlich für ihn
in Anspruch nehmen. Aber alle, die auch nur den mindesten Verstand oder die geringsten Kenntnisse
haben, wissen auch dies, daß die meisten von diesen Urkunden dermaßen abgeschmackt sind, daß man
bei der ersten Kostprobe mit Leichtigkeit herausfinden kann, aus was für einer Werkstatt sie
stammen. Denn welcher vernünftige und nüchterne Mensch wird meinen, daß jene berühmte Auslegung
wirklich von Anaklet herrührt, die sich unter dem Namen des Anaklet bei Gratian findet, jene
Auslegung nämlich, die besagt, "Kephas" bedeute "Haupt"; (Decretum Gratiani I,22,2). Sehr
viele törichte Dinge dieser Art, die Gratian ohne Urteil zusammengepackt hat, mißbrauchen die
Römischen heutzutage gegen uns zur Verteidigung ihres Stuhls, und solch dummes Zeug, mit dem sie
einst in der Finsternis unerfahrene Leute zu Narren gehalten haben, wollen sie noch heute bei solch
hellem Licht an den Mann bringen! Aber ich will an die Widerlegung solcher Dinge, die sich wegen
ihrer gar zu großen Abgeschmacktheit selber deutlich widerlegen, nicht viel Mühe verwenden. Ich
gebe zu, daß auch echte Briefe früherer Päpste vorliegen, in denen sie die Bedeutung ihres Stuhls
mit großmächtigen Lobsprüchen anpreisen; von dieser Art sind einige Briefe Leos (I.). Denn so
gebildet und redegewandt dieser Mann war, so sehr war er auch über die Maßen auf Ruhm und
Herrschaft versessen; die Frage ist aber, ob damals, während er sich so erhob, die Kirchen seinem
Zeugnis Glauben beigemessen haben. Es ist jedoch offenkundig, daß sich viele über seine Ehrsucht
geärgert und auch seiner Begehrlichkeit Widerstand entgegengesetzt haben. An einer Stelle trägt er
dem Bischof von Thessalonich seine Stellvertretung für Griechenland und andere, benachbarte Gebiete
auf (Brief 14,1), an einer anderen dem Bischof von Arles oder irgend jemand anders für Gallien
(Brief 10,9). Ebenso setzt er den Bischof Hormisdas von Hispalis zu seinem Statthalter für Spanien
ein (Brief 15,17). Aber überall macht er die Einschränkung, er gebe derartige Aufträge nach der
Ordnung, daß die althergebrachten Vorrechte des Metropoliten unverkürzt und uneingeschränkt
bestehen blieben. Leo selber aber erklärt, eines von diesen Vorrechten bestehe darin, daß man bei
jedem vorfallenden Zweifel über eine Sache an erster Stelle den Metropoliten zu befragen habe.
Diese Statthalterschaften vollzogen sich also unter der Bedingung, daß kein Bischof in seiner
ordentlichen Rechtsprechung, kein Metropolit in der Verhandlung der Berufungssachen und auch keine
Provinzialsynode in der Ordnung der Kirchen behindert werden sollte. Was hieß das aber anders, als
sich jeder Rechtsprechung zu enthalten und sich dagegen nur, soweit es das Gesetz und das Wesen der
kirchlichen Gemeinschaft mit sich bringt, ins Mittel zu legen, um Mißhelligkeiten zu schlichten?
IV,7,12 Zur Zeit Gregors war dieser alte Zustand bereits wesentlich
verändert. Denn das Reich war erschüttert und zerrissen, Gallien und Spanien hatten hintereinander
viele Niederlagen erlitten und lagen am Boden, Illyrien war verwüstet, Italien war ge-plagt und
Afrika durch andauernde Nöte nahezu zugrunde gerichtet. Damit nun bei solcher Zerrüttung der
bürgerlichen Verhältnisse wenigstens die Reinheit des Glaubens erhalten blieb oder jedenfalls
nicht gänzlich unterging, schlossen sich von allen Seiten alle Bischöfe enger an den Bischof von
Rom an. Dadurch ist es zustande gekommen, daß nicht allein die Würde, sondern auch die Macht
dieses Stuhls gewaltig anwuchs. Allerdings bekümmere ich mich nicht so sehr darum, auf welche Art
und Weise es dazu gekommen ist. Jedenfalls steht es fest, daß diese Macht damals größer gewesen
ist als in den vorausgehenden Jahrhunderten. Und doch fehlte noch viel daran, daß es jene
ungebundene Herrschaft gewesen wäre, so daß also einer nach seiner Willkür über die anderen
hätte regieren können. Aber der römische Stuhl genoß eine solche Ehrerbietung, daß er die
Bösen und Widerspenstigen, die von ihren Amtsgenossen nicht bei ihrer Pflicht gehalten werden
konnten, mit seiner Autorität zu dämpfen und zurückzudrängen vermochte. Jedenfalls bezeugt
Gregor wiederholt mit Nachdruck, er wahre den anderen ihre Rechte nicht minder getreulich, als er
selbst seine Rechte von ihnen fordere (Brief III,29). "Niemandem", sagt er, "nehme ich, von
der Ehrsucht angestachelt, was sein Recht ist, sondern ich bin bestrebt, meine Brüder in jeder
Hinsicht zu ehren" (Brief II,52). In seinen Schriften findet sich kein Wort, in dem er die
Bedeutung seiner Obergewalt mit mehr Hochmut rühmte, als folgendes: "Ich weiß nicht, welcher
Bischof dem apostolischen Stuhl nicht unterworfen wäre, wofern er schuldig befunden wird."
Trotzdem setzt er unmittelbar darauf hinzu: "Wo keine Schuld ist, die es (anders) erforderte, da
sind alle nach der Art der Demut einander gleichgestellt" (Brief IX,27). Er schreibt sich also das
Recht zu, die zu strafen, die gefehlt haben; tun aber alle ihre Pflicht, so macht er sich den
anderen gleich. Zudem sprach er sich zwar selbst dieses Recht zu, und die da wollten, willigten
darin ein; andere aber, denen das nicht paßte, durften ungestraft Widerspruch erheben, und das
haben bekanntermaßen auch manche getan. Außerdem spricht er ja an dieser Stelle von dem
Oberbischof von Byzanz: dieser war von der Provinzialsynode verurteilt worden und hatte das ganze
Urteil verworfen. Diese Widerspenstigkeit des Mannes hatten seine Amtsgenossen dem Kaiser gemeldet.
Der Kaiser hatte den Willen, Gregor sollte in dieser Sache eine Entscheidung fällen. Wir sehen
also, daß er nichts unternimmt, um die gewöhnliche Rechtsprechung zu verletzen, und daß er auch
eben das, was er tut, um anderen behilflich zu sein, ausschließlich auf Geheiß des Kaisers tut.
IV,7,13 Die ganze Gewalt des Bischofs von Rom bestand also damals darin, sich
widerspenstigen und ungezähmten Köpfen entgegenzustellen, wo irgendein außerordentliches Mittel
erforderlich war, und das geschah, um den anderen Bischöfen zu helfen, nicht aber, um sie zu
behindern. Daher nimmt sich Gregor den anderen gegenüber keineswegs mehr heraus, als er an anderer
Stelle allen sich selbst gegenüber zugesteht, indem er bekennt, er sei bereit, sich von allen
bestrafen, von allen bessern zu lassen (Brief II,50). So gibt er an anderer Stelle dem Bischof von
Aquileja zwar die Weisung, nach Rom zu kommen, um sich wegen einer Glaubensstreitigkeit zu
verantworten, die zwischen ihm und anderen entstanden war; aber er gibt diesen Befehl nicht auf
Grund seiner eigenen Vollmacht, sondern weil es ihm der Kaiser aufgetragen hat. Auch kündigt er
nicht an, daß er allein Richter sein werde, sondern er verspricht, die Synode zu versammeln, von
der die ganze Angelegenheit beurteilt werden solle (Brief I,16). So bestand also noch ein solches
Maßhalten, daß die Gewalt des römischen Stuhls ihre bestimmten Grenzen hatte, über die sie nicht
hinausgehen durfte, und daß der Bischof von Rom selber nicht in höherem Maße über den anderen
stand, als er ihnen zugleich unterstellt war. Aber obgleich es so war, kommt doch deutlich zutage,
wie sehr dieser Zustand dem Gregor mißfallen hat; denn er klagt zuweilen, daß er unter dem Schein
des Bischofsamtes wieder zur Welt zurückgeführt worden sei, er klagt, er sei mehr in irdische
Sorgen verwickelt, als er je im Laienstande an sie geknechtet gewesen sei, er werde in seinem
Ehrenrang von einem Gewirr weltlicher Geschäfte erdrückt (Brief I,5). An anderer Stelle sagt er:
"Mich drücken derartige Lasten von Geschäften darnieder, daß mein Herz sich zu höheren Dingen
gar nicht mehr erheben kann. Viele Sachen rütteln mich gleich Wogen, und nach jener (früheren)
Muße der Ruhe werde ich dermaßen von den Stürmen eines wirren Lebens gequält, daß ich mit Recht
sagen kann: ‘Ich bin gekommen in die Tiefe des Meeres, und der Sturm hat mich versinken lassen’"
(Jona 2,4; kein genaues Zitat; Brief I,7; I,25). Hieraus kann man entnehmen, was er wohl gesagt
hätte, wenn er in unseren Zeiten gelebt hätte. Wenn er auch das Hirtenamt nicht voll erfüllte, so
verrichtete er es doch. Der Führung einer bürgerlichen Herrschaft enthielt er sich, und er
bekannte, daß er zusammen mit den anderen dem Kaiser Untertan sei. In die Sorge für andere Kirchen
drängte er sich nicht ein, wofern ihn nicht die Not dazu zwang. Und doch hat er den Eindruck, in
einem Irrgarten zu sein, weil er nicht einfach ganz für die Übung seiner Amtspflicht als Bischof
frei sein kann.
IV,7,14 Zu dieser Zeit kämpfte der Bischof von Konstantinopel mit dem von
Rom um die Obergewalt, wie bereits dargelegt wurde. Denn nachdem die Residenz des Reiches in
Konstantinopel aufgerichtet war, schien es die Majestät des Kaiserreichs zu fordern, daß auch die
Kirche daselbst den zweiten Ehrenplatz nach der von Rom innehätte. Und sicherlich hatte im Anfang
nichts mehr Bedeutung für die Übertragung einer Obergewalt an Rom gehabt, als die Tatsache, daß
sich dort eben damals das Haupt des Reiches befand. Bei Gratian ist ein Schreiben unter dem Namen
des Papstes Lucius vorhanden, in dem dieser erklärt, die Städte, in denen Metropoliten und
Oberbischöfe die Leitung haben sollten, seien ausschließlich nach der Art der bürgerlichen
Regierung bestimmt, die dort zuvor bestanden hätte (Decretum Gratiani I,80,1). Auch findet sich ein
anderes, ähnliches Schreiben unter dem Namen des Papstes Clemens, in dem dieser sagt, in den
Städten, die einst die obersten Priester gehabt hätten, habe man auch die Patriarchen eingesetzt
(Decretum Gratiani I,80,2). Obgleich das nun ohne eigentlichen Inhalt ist, so ist es doch dem wahren
Tatbestand entnommen. Denn es steht fest, daß man die Gebiete, um möglichst wenig Veränderungen
eintreten zu lassen, auf Grund des damals vorhandenen Standes der Dinge verteilt hat, und daß die
Oberbischöfe und Metropoliten in den Städten ihren Sitz bekommen haben, die vor den übrigen an
Ehren und Macht den Vorrang besaßen. Deshalb wurde auf dem Konzil zu Turin (401) der Beschluß
gefaßt, die Städte, die in den einzelnen Provinzen in der bürgerlichen Regierung an erster Stelle
stünden, sollten auch die ersten Bischofssitze sein; wenn es aber vorkäme, daß die Ehre der
bürgerlichen Regierung von einer Stadt auf eine andere übertragen würde, so sollte auch das Recht
einer (kirchlichen) Hauptstadt mit auf sie übergehen (Kap. 1). Als nun aber der Bischof Innozenz
von Rom sah, wie die alte Würde der Stadt, seitdem der Sitz des Reiches nach Konstantinopel verlegt
war, in Abgang kam, da fürchtete er für seinen Stuhl und erließ ein gegenteiliges Gesetz: in
diesem erklärt er, es sei nicht notwendig, daß jeweils mit einer Änderung der kaiserlichen
Hauptstädte auch die kirchlichen gewechselt würden. Aber die Autorität der Synode ist
verdientermaßen der Ansicht eines einzigen Mannes vorzuziehen. Außerdem muß uns Innozenz selbst
verdächtig sein (denn er spricht) in eigener Sache. Wie das nun aber auch sein mag: er zeigt trotz
allem durch seine Vorsichtsmaßregel, daß es von Anfang an so eingerichtet gewesen ist, daß die
(kirchlichen) Hauptstädte nach der äußeren Ordnung des Reiches eingerichtet wurden.
IV,7,15 Auf Grund dieses alten Brauchs hat man auf der ersten Synode zu
Konstantinopel (381) festgesetzt, der Bischof dieser Stadt solle hinsichtlich seiner Ehrenvorrechte
gleich auf den Bischof von Rom folgen, und zwar weil Konstantinopel das neue Rom sei (Socrates,
Kirchengeschichte V, 8, Historia tripartita IX,13, Decretum Gratiani I,22,3). Lange Zeit später
jedoch, als man in Chalcedon einen ähnlichen Beschluß gefaßt hatte, erhob Leo heftigen
Widerspruch. Und er erlaubte es sich nicht nur, das, was sechshundert Bischöfe oder mehr
beschlossen hatten, für nichts zu achten, sondern er griff sie auch mit heftigen Vorwürfen an,
weil sie die Ehre, die sie der Kirche zu Konstantinopel beizulegen gewagt hätten, anderen
Bischofssitzen entzogen hätten. Ich möchte nun wissen: was anders konnte diesen Mann dazu reizen,
den Erdkreis wegen einer so unerheblichen Angelegenheit in Erschütterung zu versetzen, als reine
Ehrsucht? Er erklärte: was die Synode von Nicäa einmal festgesetzt habe, das müsse auch
unverletzt bleiben. Als ob der christliche Glaube aufs Spiel gesetzt würde, wenn eine Kirche der
anderen vorgezogen wird! Oder als ob man in Nicäa die Patriarchate zu einem anderen Zweck
festgelegt hätte als um der äußeren Ordnung willen! Wir wissen aber, daß die äußere Ordnung je
mit wechselnder Zeit vielfältige Veränderungen durchmacht, ja erfordert. Es war daher ein
nichtiger Vorwand, wenn Leo erklärte, man dürfe die Ehre, die kraft der Autorität des Konzils von
Nicäa dem Bischofssitz von Alexandria gegeben worden sei, nicht auf den von Konstantinopel
übertragen. Denn der gesunde Menschenverstand sagt einem, daß dieser Beschluß von solcher Art
war, daß er je nach den Erfordernissen der Zeit auch wieder aufgehoben werden konnte. Wie kommt es
auch, daß von Bischöfen des Ostens niemand Widerspruch erhob, obwohl diese doch der Fall am
meisten anging? Es war doch jedenfalls Proterius anwesend, den man an Stelle des Dioskur zum
Patriarchen von Alexandria gemacht hatte, auch andere Patriarchen waren zugegen, deren Ehre (durch
solchen Beschluß) gemindert wurde. Diese hätten die Aufgabe gehabt, Einspruch zu erheben, nicht
aber Leo, der an seinem Platz ohne jede Einbuße blieb! Während diese aber alle schweigen, ja
zustimmen, widersetzt sich allein der Bischof von Rom. Hier ist auch das Urteil, was ihn denn dazu
bewogen haben mag, schnell bei der Hand: er sah eben voraus, was dann auch nicht lange nachher
eintrat, nämlich daß sich mit dem Abnehmen der Ehre des alten Rom Konstantinopel mit dem zweiten
Platz nicht zufriedengeben und mit Rom um die Obergewalt kämpfen würde. Trotzdem hat es Leo mit
seinem Einspruch nicht zuwege gebracht, daß der Beschluß des Konzils etwa nicht in Geltung
gekommen wäre. Deshalb haben seine Nachfolger, da sie einsahen, daß sie machtlos waren, von jener
Halsstarrigkeit friedlich Abstand genommen; sie haben es nämlich geduldet, daß der Bischof von
Konstantinopel als zweiter Patriarch galt.
IV,7,16 Kurze Zeit nachher jedoch ist Johannes, der zur Zeit Gregors (I.) die
Kirche zu Konstantinopel regierte, soweit gegangen, daß er sich als Patriarchen für die ganze
Kirche (universalis Patriarchus) bezeichnete. Dagegen hat sich Gregor, um in so ausgezeichneter
Sache nicht die Verteidigung seines Stuhls zu unterlassen, standhaft gewehrt. Und sicherlich war
auch die Hoffart wie die Unsinnigkeit des Johannes, der die Grenzen seines Bistums den Grenzen des
Reiches gleich machen wollte, untragbar. Trotzdem macht Gregor auf das, was er dem anderen
verweigert, nicht etwa selber Anspruch, sondern er verabscheut diesen Namen ("Gesamtpatriarch")
als frevlerisch, gottlos und ruchlos – von wem er schließlich auch gebraucht werden möge. Ja, er
fährt gar an einer Stelle gegen den Bischof Eulogius von Alexandria los, der ihn mit einem
derartigen Titel geehrt hatte. "Seht", sagt er, "Ihr habt in der Vorrede des Briefes, den Ihr
an mich gerichtet habt, trotz meines Verbots ein Wort schreiben lassen, das eine hoffärtige
Bezeichnung bedeutet: Ihr habt mich nämlich "Papst der Gesamtkirche" (Papa universalis)
genannt. Dies, bitte ich, möge Eure Heiligkeit in Zukunft nicht mehr tun; denn Euch wird entzogen,
was einem anderen über das begründete Maß hinaus gegeben wird. Ich betrachte das, von dem ich
sehe, daß dadurch die Ehre meiner Brüder gemindert wird, nicht als Ehre. Denn meine Ehre ist die
Ehre der gesamten Kirche und der ungeschmälerte Rechtsstand meiner Brüder. Wenn mich aber Eure
Heiligkeit den‘Papst der Gesamtkirche’ nennt, so erklärt sie damit, sie sei das, was ich nach
ihrem Geständnis für die Gesamtheit sei, ihrerseits nicht" (Brief VIII,29). Die Sache Gregors
war zwar gut und ehrenhaft, aber Johannes, dem die Gunst des Kaisers Mauritius zu Hilfe kam, konnte
von seinem Vorhaben nicht abgebracht werden. Auch sein Nachfolger Cyriacus hat sich in dieser Sache
niemals erweichen lassen.
IV,7,17 Dann trat Phocas nach Ermordung des Mauritius an dessen Stelle. Er
war den Römern freundlicher gesinnt – ich weiß nicht, aus was für einem Grunde, ja doch: weil er
in Rom ohne Streit gekrönt worden war. Dieser Phocas hat dann endlich Bonifatius dem Dritten
zugestanden, was Gregor keineswegs verlangt hatte, nämlich daß Rom das Haupt aller Kirchen sein
sollte. Auf diese Weise wurde der Streit geschlichtet. Trotzdem hätte auch diese Gunstbezeigung des
Kaisers dem römischen Stuhl nicht so sehr viel genützt, wenn nicht noch anderes hinzugekommen
wäre. Denn Griechenland und ganz Asien sind kurz nachher von der Gemeinschaft mit ihm losgerissen
worden. Und Frankreich erwies dem Papst seine Ehrerbietung dergestalt, daß es nur soweit Gehorsam
leistete, als es ihm paßte. Es ist in der Tat erst zur Knechtschaft (unter Rom) gebracht worden,
als Pipin die Königsgewalt an sich gerissen hatte. Denn der römische Bischof Zacharias hatte ihm
zu Treulosigkeit und Räuberei Beihilfe geleistet, so daß er nach Vertreibung des rechtmäßigen
Königs das Reich an sich riß, als ob es zur Plünderung preisgegeben wäre. Dafür erhielt
Zacharias die Belohnung, daß der römische Stuhl über die französischen Kirchen die
Rechtsprechungsgewalt haben sollte. Wie Räuber die gemeinsame Beute untereinander aufzuteilen
pflegen, so machten auch diese guten Leute miteinander einen Vergleich: die irdische, bürgerliche
Herrschaft sollte nach Beraubung des wahren Königs an Pipin fallen, Zacharias aber sollte das Haupt
aller Bischöfe werden und die geistliche Gewalt haben! Diese war nun im Anfang ungefestigt, wie es
mit neuen Sachen so zuzugehen pflegt; darauf aber wurde sie durch die Autorität Karls gestärkt -
und zwar aus fast gleicher Ursache. Denn auch Karl war dem römischen Papst verpflichtet, weil er
durch seine Bemühungen zur Kaiserwürde gelangt war. Obgleich nun anzunehmen ist, daß die Kirchen
allenthalben schon zuvor sehr verunstaltet waren, steht es doch fest, daß erst damals die alte
Gestalt der Kirche in Frankreich und Deutschland gänzlich in Vergessenheit geraten ist. In den
Archiven des obersten Gerichtshofs zu Paris sind noch kurze Aufzeichnungen aus jenen Zeiten
vorhanden, die, wo es sich um kirchliche Dinge handelt, Verträge in Erwähnung bringen, die Pipin
oder auch Karl mit dem römischen Papst abgeschlossen haben. Aus diesen ergibt sich der Schluß,
daß damals die Änderung des alten Zustandes erfolgt ist.
IV,7,18 Von dieser Zeit an, als die Verhältnisse allenthalben tagtäglich
schlechter wurden, ist dann auch die Tyrannei des römischen Stuhls allmählich zu Kraft und zu
größerem Umfang gekommen, und zwar teils durch die Unwissenheit, teils durch die Lässigkeit der
Bischöfe. Denn während sich ein einziger alles herausnahm und ohne Maß mehr und mehr fortfuhr,
sich gegen Recht und Billigkeit zu erheben, haben sich die Bischöfe nicht mit dem schuldigen Eifer
angestrengt, seine Willkür in Schranken zu halten, und wenn sie auch nicht ohne den Willen dazu
gewesen wären, so hätte es ihnen dennoch an rechter Unterweisung und Erfahrung gefehlt, so daß
sie keineswegs geeignet waren, eine so wichtige Sache anzufassen. So sehen wir, von welcher Art und
von was für einer Scheußlichkeit zur Zeit Bernhards (von Clairvaux) die Entweihung alles Heiligen
und die Zerstörung der gesamten kirchlichen Ordnung zu Rom gewesen ist. Er klagt, aus der ganzen
Welt strömten ehrgierige, habsüchtige Leute, Menschen, die Simonie, Tempelschändung, Hurerei,
Blutschande trieben, und andere Ungeheuer dieser Art nach Rom zusammen, um dort durch apostolische
Autorität kirchliche Ehren zu erlangen oder zu behalten; Betrug, Hintergehung und Gewalttaten,
klagt er, hätten überhandgenommen (Von der Betrachtung an Papst Eugen III,I,4f.). Er erklärt, die
damals übliche Art der Rechtsprechung sei abscheulich und sie sei nicht nur für die Kirche,
sondern auch für das (weltliche) Gericht unziemlich (Ebenda I,10,13). Er ruft aus, die Kirche sei
voll ehrgieriger Leute, und es sei keiner da, der vor der Begehung von Schandtaten mehr Abscheu
hätte als Räuber in ihrer Höhle, wenn sie die den Reisenden abgenommene Beute verteilten
(Ebenda). "Wenige", sagt er, "schauen auf den Mund des Gesetzgebers; alle aber sehen auf seine
Hände. Das geschieht aber auch nicht ohne Grund. Denn alle päpstlichen Geschäfte geschehen eben
durch die Hände" (Ebenda IV,2,4). "Was soll das heißen" (schreibt er an den Papst), "daß
die Leute, die zu dir sagen: ‘Prachtvoll, herrlich!’ – durch Raubgut erkauft werden, das man den
Kirchen abnimmt? Der Lebensunterhalt der Armen wird auf den Gassen der Reichen ausgestreut. Das
Silber glänzt im Schmutz. Man eilt von allen Seiten herzu – aber nicht der Ärmere, sondern der
Stärkere nimmt es auf oder auch der, der gerade am schnellsten vorausläuft! Doch kommt diese
Festsetzung oder besser: diese tödliche Zersetzung (mos iste, vel potius mors ista) nicht von dir
her – ach, möchte sie bei dir enden! Mitten in alledem schreitest du als ‘Hirte’ einher, mit
vielem und kostbarem Zierat umgeben. Wenn ich es zu sagen wagen dürfte – das ist doch eher eine
Weide für Teufel als für Schafe. So hat denn wohl auch Petrus getan, so auch Paulus Spott
getrieben?" (Ebenda IV,2,5. "Dein Hof ist gewohnt, mehr gute Leute in sich aufzunehmen – als
Leute gut zu machen. Denn die Bösen werden an ihm nicht besser, die Guten aber schlechter!"
(Ebenda IV,4,11). Die Mißbräuche bei den Berufungsverfahren, die er dann berichtet, wird kein
frommer Mensch ohne großen Abscheu lesen können (Ebenda III,2,6ff.). Endlich redet er von jener
zügellosen Begehrlichkeit des römischen Stuhls in der Anmaßung der Rechtsprechungsgewalt und
kommt dabei zu dem Schluß: "Ich spreche das Murren und die gemeinsame Klage der Kirchen aus. Sie
rufen laut, daß sie verstümmelt und ihrer Gliedmaßen beraubt werden. Und es gibt gar keine mehr
oder nur noch wenige, die diesen Schlag nicht schmerzlich empfinden oder nicht (wenigstens)
fürchten. Fragst du, was für einen Schlag? Daß man die Äbte ihren Bischöfen (hinsichtlich der
Gerichtsgewalt und anderer Rechte) entzieht und die Bischöfe den Erzbischöfen ...! Es wäre ein
Wunder, wenn man das entschuldigen könnte. Indem ihr so handelt, beweist ihr zwar, daß ihr volle
Macht habt – aber nicht volle Gerechtigkeit. Ihr tut es, weil ihr es könnt; aber ob ihr es auch
dürft, das ist die Frage. Ihr seid doch dazu gesetzt, jedem seine Ehre und seinen Rang zu erhalten,
nicht aber, sie ihm zu mißgönnen" (Ebenda III,4,14). Dies wenige wollte ich doch aus vielem
heraus berichten, und zwar, damit die Leser einerseits sehen, was für einen schweren Fall die
Kirche damals getan hatte, und auch andererseits erkennen, wie sehr diese Not alle Frommen in Trauer
und Seufzen versetzt hat.
IV,7,19 Wenn wir nun aber dem Bischof von Rom heutzutage auch die
hervorragende Stellung und die große Macht in der Rechtsprechung zugeben würden, die dieser Stuhl
in den mittleren Zeiten (der Entwicklung), wie z.B. zu Zeiten Leos oder Gregors besessen hat – was
würde das dem gegenwärtigen Papsttum nützen? Ich rede noch nicht von der irdischen Herrschaft,
auch nicht von der bürgerlichen Gewalt; darüber werden wir nachher noch an geeigneter Stelle
unsere Betrachtungen anstellen. Nein, was hat das geistliche Regiment selbst, das sie rühmen, mit
den Verhältnissen jener Zeiten Ähnliches? Denn den Papst beschreibt man nicht anders als so: er
ist das oberste Haupt der Kirche auf Erden und der Allgemeinbischof des ganzen Erdkreises. Wenn aber
die Päpste selbst über ihre Autorität sprechen, so erklären sie in großer Hoffart, bei ihnen
liege die Vollmacht zum Befehlen, für die anderen bestehe die Notwendigkeit zu gehorchen; auf diese
Weise seien alle ihre Anordnungen so anzusehen, als wenn sie gleichsam durch die göttliche Stimme
des Petrus bekräftigt seien. Die Provinzialsynoden – so heißt es weiter – hätten, da sie ohne
Gegenwart des Papstes stattfänden, keine Kraft. Die Päpste erklären weiter, sie könnten für
jede beliebige Kirche Kleriker ordinieren und die, welche anderswo ordiniert wären, vor ihren Stuhl
rufen. Zahllose Aussagen dieser Art finden sich in dem Sammelwerk des Gratian; ich zähle sie nicht
auf, um dem Leser nicht gar zu beschwerlich zu fallen. Der Hauptinhalt läuft aber darauf hinaus:
bei dem Bischof von Rom allein liegt die oberste Entscheidung über alle kirchlichen
Angelegenheiten, ob es nun darum geht, Lehren zu beurteilen und festzustellen, Gesetze zu erlassen,
die Zucht zu regeln oder die Rechtsprechung zu üben. Langwierig und überflüssig wäre es auch,
die Vorrechte aufzuzählen, die sie sich mit den von ihnen so genannten "Reservationen" (dem
Papste vorbehaltene Rechte) herausnehmen. Das unerträglichste von allem ist aber dies: sie lassen
auf Erden kein Gericht bestehen, das ihre Willkür in Schranken halten oder zügeln könnte, wenn
sie eine derart unermeßliche Gewalt mißbrauchen. "Niemandem", sagen sie, "soll es gestattet
sein, sich dem Urteil dieses Stuhles zu widersetzen, und zwar um der Obergewalt der Kirche zu Rom
willen" (Decretum Gratiani II,17,4,30). Oder ebenso: "Dieser Richter (der Papst) soll weder vom
Kaiser noch von den Königen, noch von irgendwelchem Klerus, noch vom Volke gerichtet werden"
(Decretum Gratiani II,9,3,13). Es ist schon mehr als herrisch genug, wenn sich ein einziger Mensch
als Richter über alle einsetzt, dagegen nicht bereit ist, sich dem Urteil eines anderen zu fügen.
Aber was soll man erst sagen, wenn er seine Tyrannei gegen das Volk Gottes ausübt, wenn er Christi
Reich zerstreut und verwüstet, wenn er die ganze Kirche in Verwirrung bringt, wenn er das Hirtenamt
in Räuberei verwandelt? Ja, selbst für den Fall, daß der Papst der verruchteste unter allen
Menschen wäre, bestreitet er, daß er gezwungen sei, Rechenschaft zu geben! Denn es sind
Aussprüche von Päpsten, wenn es heißt: "Die Angelegenheiten anderer Menschen hat Gott durch
Menschen erledigen lassen wollen, den Bischof dieses Stuhls aber hat Gott ohne richterliche
Untersuchung (durch Menschen) seinem eigenen Urteil vorbehalten" (Decretum Gratiani II,9,3,14).
Oder ebenso: "Die Taten unserer Untertanen werden von uns gerichtet, die unseren aber von Gott
allein" (Decretum Gratiani II,9,3,15).
IV,7,20 Damit nun dergleichen Verordnungen mehr Gewicht haben, so hat man
fälschlicherweise die Namen alter Bischöfe (von Rom) untergeschoben, als ob die Dinge bereits von
Anfang an so geregelt gewesen wären. Und dabei ist es doch mehr als gewiß, daß alles, was man dem
Bischof von Rom mehr zumißt, als ihm nach unserem Bericht die alten Konzilien gegeben haben, neu
und erst vor kurzer Zeit zusammengezimmert ist. Ja, man ist in seiner Unverschämtheit so weit
gegangen, daß man ein Schreiben unter dem Namen des Patriarchen Anastasius von Konstantinopel
herausgebracht hat, worin dieser bezeugt, es sei durch die alten Regeln festgelegt worden, daß auch
in den entferntesten Provinzen nichts geschehen dürfte, das nicht zuvor an den römischen Stuhl
berichtet worden sei (Decretum Gratiani II,9,3,12). Abgesehen davon, daß dies nun ganz sicher
völlig erlogen ist, möchte ich doch fragen: wer wollte es glaubhaft finden, daß ein derartiger
Lobpreis des römischen Stuhls ausgerechnet von dem ausgegangen wäre, der sein Widersacher war und
mit ihm eifersüchtig um Ehre und Würde kämpfte? Aber diese Antichristen mußten eben notwendig zu
einer derartigen Unsinnigkeit und Verblendung fortgerissen werden, daß ihre Nichtsnutzigkeit allen
Menschen mit gesundem Verstand offenkundig ist, die nur ihre Augen aufmachen wollen. Die
Verordnungsschreiben, die Gregor IX. gesammelt hat, dazu auch die "Clementinen" und die "Extravagantes
Martini" lassen noch deutlicher und mit volleren Backen diese furchtbare Unbändigkeit und
diesegeradezu zu barbarischen Königen passende Tyrannei allenthalben an den Tag treten. Aber das
sind die Offenbarungsworte, nach denen die Römischen ihr Papsttum beurteilt wissen wollen! Daraus
sind dann auch die herrlichen Grundsätze entstanden, die heutzutage im Papsttum allenthalben die
Geltung von Offenbarungsworten haben, so etwa: der Papst könne nicht irren, der Papst sei den
Konzilien übergeordnet, der Papst sei der allgemeine Bischof aller Kirchen und das oberste Haupt
der Kirche auf Erden. Ich schweige von noch widersinnigeren Ungereimtheiten, die törichte
Kirchenrechtsgelehrte in ihren Schulen ausplaudern – und doch stimmen diesen die römischen
Theologen nicht nur zu, sondern sie bezeugen ihren Beifall, um ihrem Abgott zu schmeicheln! V
IV,7,21 Ich will nicht nach schärfstem Recht mit ihnen umgehen. Gegen eine
derart große Überheblichkeit könnte irgendein anderer einen Ausspruch des Cyprian setzen, den
dieser gegenüber den Bischöfen anwandte, deren Konzil er leitete: "Niemand unter uns nennt sich
einen ‘Bischof der Bischöfe’ oder zwingt seine Amtsgenossen mit tyrannischem Druck in die
Notwendigkeit hinein, ihm Gehorsam zu leisten." Er (jener "andere") könnte auch einwerfen,
was man einige Zeit danach in Karthago beschlossen hat: niemand solle sich als Obersten der Priester
oder als Ersten Bischof bezeichnen. Er könnte aus den Geschichtsbüchern viele Zeugnisse, aus den
(Akten der) Synoden Kirchensatzungen und aus den Büchern der Alten viele Aussagen sammeln, in denen
der Bischof von Rom zur Ordnung gezwungen wird. Ich aber sehe davon ab, um nicht den Eindruck zu
erwecken, als setzte ich ihnen gar zu scharf zu. Es sollen mir aber die besten Beschützer des
römischen Stuhls antworten, wie sie die Stirn haben wollen, die Verteidigung des Titels "Allgemeinbischof"
(Bischof der Gesamtkirche) zu wagen, wo sie doch sehen, daß dieser Titel von Gregor (I.) so oft mit
feierlichem Fluch verdammt wird. Wenn das Zeugnis Gregors in Kraft sein soll, so erklären sie
damit, daß sie ihren Bischof zum "Allgemeinbischof" machen, zugleich, daß er der Antichrist
ist! Auch der Name "Haupt" (der Kirche) war keineswegs gebräuchlicher. Denn Gregor sagt an
einer Stelle so: "Petrus war das vornehmste Glied am Leibe (Christi); Johannes, Andreas und
Jakobus waren die Häupter besonderer Gemeinden. Alle aber sind unter dem einen Haupte Glieder der
Kirche; ja, die Heiligen vor der Zeit des Gesetzes, die Heiligen unter dem Gesetz, die Heiligen in
der Gnade – sie alle machen den Leib des Herrn vollständig und sind in die Reihe der Glieder
gestellt, und keiner von ihnen hat je gewollt, daß man ihn als ‘allgemein’ bezeichnete"
(Brief V,44). Daß sich aber der Bischof von Rom die Macht zum Befehlen anmaßt, das ist gar wenig
in Übereinstimmung mit einer Aussage, die Gregor an anderer Stelle macht. Als nämlich der Bischof
Eulogius von Alexandria erklärte, er habe von Gregor einen "Befehl" empfangen, da antwortete
dieser in folgender Weise: "Dieses Wort ‘Befehl’, bitte ich, laßt mir nicht zu Gehör kommen;
denn ich weiß, wer ich bin und wer ihr seid: ihr seid nach eurer Stellung meine Brüder, nach eurem
Wandel meine Väter; ich habe also nicht befohlen, sondern ich habe mich bemüht zu zeigen, was mir
nützlich erschienen ist" (Brief VIII,29). Daß der Papst seine Rechtsprechungsgewalt so
grenzenlos ausdehnt, darin tut er nicht nur den übrigen Bischöfen, sondern auch jeder einzelnen
Kirche schweres, fürchterliches Unrecht an; denn er reißt die Kirchen dermaßen auseinander und
verstümmelt sie so, daß er aus ihren Bruchstücken seinen Stuhl erbaut. Daß er sich ferner jedem
Urteil entzieht und in tyrannischer Art dergestalt herrschen will, daß er die Willkür, die er
selbst allein übt, als Gesetz ansieht, das ist jedenfalls zu unwürdig und von der kirchlichen
Handlungsweise zu verschieden, als daß man es irgendwie ertragen könnte. Denn es steht nicht nur
zum Empfinden der Frömmigkeit, sondern auch zu dem der Menschlichkeit in klaffendem Widerspruch.
IV,7,22 Um aber nicht genötigt zu sein, das einzelne durchzugehen und zu
untersuchen, so wende ich mich abermals an die, die heutzutage als die besten und getreuesten
Anwälte des römischen Stuhls gelten wollen, und frage sie, ob sie sich denn nicht schämen, den
gegenwärtigen Zustand des Papsttums zu verteidigen; denn es steht fest, daß er hundertmal
verderbter ist, als er es in den Zeiten Gregors oder Bernhards war, und doch hat selbst jener
Zustand damals diesen heiligen Männern so sehr mißfallen. Gregor klagt immer wieder, er werde
durch fremde Geschäfte über die Maßen hin und hergezerrt, unter dem Schein des Bischofsamtes sei
er zur Welt zurückgeführt worden, und er müsse jetzt in seinem Amt so vielen Erdensorgen
dienstbar sein, daß er sich nicht erinnern könne, in seinem früheren Laienstande je unter so
viele geknechtet gewesen zu sein, er werde vom Gewirr weltlicher Geschäfte dermaßen erdrückt,
daß sein Herz sich nicht zu den himmlischen zu erheben vermöchte, die vielen Wellen der
Rechtssachen zerrütteten ihn, und die ungestümen Stürme des Lebens brächten ihn in Anfechtung,
so daß er mit Recht sagen könnte: "Ich bin gekommen in die Tiefe des Meeres ..." (Brief I,5;
1,7; 1,25; 1,24). Sicherlich konnte er mitten in solch irdischen Geschäften das Volk in Predigten
unterweisen, ja, insonderheit ermahnen, sicherlich konnte er die, bei denen es sein mußte, noch
strafen, die Kirche ordnen, den Amtsgenossen einen Rat geben und sie an ihre Pflicht mahnen;
überdies blieb ihm auch noch einige Zeit zum Schreiben – und trotzdem beklagt er seine Not, weil er
in die tiefste Tiefe des Meeres versunken sei. Wenn die Verwaltungsarbeit zu jener Zeit ein "Meer"
war, was wird man dann von dem gegenwärtigen Papsttum sagen müssen? Denn was haben sie noch
Ähnliches miteinander? Hier gibt es keine Predigten, kein Sorgen für die Zucht, keinen Eifer um
die Kirchen, keine geistliche Amtsaufgabe – kurz, hier ist nichts als die Welt. Und trotzdem preist
man diesen Irrgarten, als ob sich nichts Geordneteres und Wohlbestellteres finden ließe! Was für
Klagen aber schüttet Bernhard aus, was für Seufzer läßt er vernehmen, indem er die Gebrechen
seiner Zeit anschaut! Was würde er tun, wenn er unser Zeitalter ansähe, das da "eisern" ist
oder allenfalls gar noch schlimmer als Eisen? Was ist es da für eine Unverschämtheit, wenn man
das, was alle Heiligen jederzeit einstimmig verworfen haben, halsstarrig als etwas Heiliges und
Göttliches verteidigt, ja, nicht nur dies, sondern gar noch ihr Zeugnis zur Verteidigung eines
Papsttums mißbraucht, das ihnen doch unzweifelhaft gänzlich unbekannt gewesen ist! Allerdings gebe
ich bezüglich der Zeit Bernhards zu, daß damals die Verderbnis aller Dinge so groß gewesen ist,
daß diese Zeit von der unseren nicht sehr verschieden war. Aller Scham aber entbehren solche Leute,
die aus jener mittleren Zeit, nämlich der des Leo, des Gregor und ähnlicher Männer, irgendeinen
Vorwand nehmen wollen. Denn diese Leute machen es genau so, wie wenn jemand zur Bestätigung der
Alleinherrschaft der (römischen) Kaiser den alten Zustand des römischen Reiches loben wollte, das
heißt: den Lobpreis der Freiheit dazu entlehnte, die Tyrannei zu zieren.
IV,7,23 Zum Schluß: selbst wenn man den Römischen alles dies schenken mag,
so entsteht für sie doch abermals ein ganz neuer Streit, wenn wir leugnen, daß sich in Rom eine
Kirche befinde, bei der solche Wohltaten ihren Platz haben könnten, und wenn wir ferner leugnen,
daß es (dort) einen Bischof gibt, der solche Würdenvorrechte besäße. Nehmen wir einmal an, alle
jene (vorigen) Behauptungen wären wahr – wir haben sie ihnen allerdings bereits aus der Hand
geschlagen! -, nehmen wir also an, Petrus sei wirklich durch Christi Wort zum Haupt der gesamten
Kirche eingesetzt worden, er habe die ihm übertragene Ehre dem römischen Stuhl übergeben, dies
sei durch die Autorität der Alten Kirche festgelegt und durch lange Übung bestätigt, dem Bischof
von Rom sei die oberste Gewalt alle Zeit einmütig von allen zuerkannt worden, er sei Richter über
alle Rechtssachen wie auch über alle Menschen, selbst dagegen dem Gericht keines Menschen
unterworfen gewesen. Ja, die Römischen können noch mehr haben, wenn sie wollen – ich antworte
jedenfalls mit dem einen Wort, daß all dies keinen Wert hat, wenn es in Rom keine Kirche und keinen
Bischof gibt. Das müssen sie mir doch notwendig zugeben, daß etwas, das selbst keine Kirche ist,
nicht die Mutter der Kirchen sein kann, und daß einer, der selbst kein Bischof ist, nicht der
Oberste der Bischöfe sein kann. Wollen sie nun zu Rom den "apostolischen" Stuhl haben? Dann
müssen sie mir (dort auch) das wahre, rechtmäßige Apostelamt vorweisen! Wollen sie dort den
obersten Bischof haben? Dann müssen sie mir auch einen Bischof vorweisen! Wie aber nun? Wo werden
sie uns irgendeine erkennbare Gestalt der Kirche zeigen? Dem Namen nach tun sie das freilich, und
sie führen die Kirche stets im Munde. Nun wird aber die Kirche sicherlich an ihren bestimmten
Merkzeichen erkannt, und "Bistum" ist der Name eines Amtes. Ich rede hier nicht vom Volke,
sondern von dem Kirchenregiment selbst, das in der Kirche beständig zu sehen sein soll. Wo ist nun
zu Rom das Amt nach der Art, wie es Christi Stiftung erfordert? Wir wollen uns an das erinnern, was
oben von der Amtspflicht der Presbyter und Bischöfe gesagt wurde. Wenn wir das Amt der Kardinäle
nach dieser Richtschnur messen, so müssen wir zugeben, daß sie nichts weniger sind als Presbyter.
Und was der Bischof selber irgendwie Bischöfliches an sich haben soll, das möchte ich wohl wissen.
Das erste Hauptstück beim Bischofsamt besteht darin, das Volk mit Gottes Wort zu unterweisen, das
zweite, das diesem unmittelbar folgt, die Sakramente zu verwalten, und das dritte besteht darin, zu
ermahnen und zu ermuntern, dazu auch die zu strafen, die sich vergehen, und das Volk in heiliger
Zucht zu halten. Was von alledem tut der Bischof zu Rom? Ja, was gibt er wenigstens vor zu tun? Man
soll mir also sagen, in welchem Sinne man einen Menschen für einen Bischof gehalten wissen will,
der kein Stück seiner Amtspflicht auch nur mit dem kleinsten Finger, wenn auch gar nur zum Schein
anrührt.
IV,7,24 Mit einem Bischof verhält es sich nicht so wie mit einem König;
denn wenn dieser auch das, was eigentlich zu einem König gehört, nicht ausübt, so behält er
trotzdem die Ehre und den Titel bei. Bei der Beurteilung eines Bischofs dagegen schaut man auf
Christi Auftrag, der in der Kirche stets in Kraft bleiben muß. Die Römischen sollen mir also
diesen Knoten auflösen. Ich erkläre, daß ihr Bischof eben deshalb nicht der Oberste der Bischöfe
ist, weil er kein Bischof ist! Sie müssen nun notwendig zunächst beweisen, daß die letztere
Behauptung verkehrt ist, wenn sie bezüglich der ersteren obsiegen wollen. Was wollen sie aber
sagen, wo ihr Bischof nicht nur nichts von dem hat, was die Eigenart eines Bischofs ausmacht,
sondern vielmehr lauter Eigenschaften, die ihr zuwiderlaufen? Aber, o Gott, wo soll ich da den
Anfang machen? Bei der Lehre oder etwa bei dem Lebenswandel? Was soll ich sagen oder – was soll ich
verschweigen? Und wo soll ich aufhören? Das sage ich: wenn die Welt heutzutage so voll ist von
soviel verkehrten und gottlosen Lehren, wenn sie erfüllt ist mit so vielartigem Aberglauben, wenn
sie von soviel Irrtümern geblendet und in soviel Abgötterei versunken ist, so ist nirgendwo etwas
von alledem, das nicht von Rom seinen Ursprung genommen oder wenigstens seine Billigung empfangen
hätte. Und wenn die Päpste mit solcher Wut gegen die wieder aufkommende Lehre des Evangeliums
vorgehen, wenn sie alle ihre Kräfte anspannen, um sie zu unterdrücken, wenn sie alle Könige und
Fürsten zu grausamem Wüten anfeuern, so geschieht das aus keiner anderen Ursache, als weil sie
sehen, daß ihre ganze Herrschaft ineinanderfällt und zusammenbricht, sobald einmal das Evangelium
von Christus Geltung erlangt hat. Leo (X.) ist grausam gewesen, Clemens (VII.) blutdürstig, und
Paul (III.) ist grimmig. Aber es war nicht so sehr ihre Natur, die sie zur Bestreitung der Wahrheit
antrieb, als vielmehr die Tatsache, daß dies die einzige Art und Weise war, ihre Macht
aufrechtzuerhalten. Da sie also nur dann bestehen bleiben können, wenn Christus niedergeschlagen
ist, so mühen sie sich in dieser Sache nicht anders, als wenn sie für Haus und Herd und für ihr
eigenes Leben kämpften! Wie nun, soll etwa da, wo wir nichts sehen als furchtbare Abtrünnigkeit,
für uns der "apostolische Stuhl" sein? Soll das der "Statthalter Christi" sein, der in
verbissenen Anlaufen das Evangelium verfolgt und dadurch offen zutage treten läßt, daß er der
Antichrist ist? Soll das der "Nachfolger des Petrus" sein, der mit Feuer und Schwert wütet, um
alles niederzureißen, was Petrus aufgebaut hat? Soll der "das Haupt der Kirche sein, der die
Kirche von Christus, ihrem einigen Haupte, wegreißt und abschneidet und sie dann in sich selbst
zerstückelt und auseinanderreißt? Mag Rom wohl vorzeiten die Mutter aller Kirchen gewesen sein, so
hat es jedenfalls, seitdem es begonnen hat, der Sitz des Antichrists zu werden, aufgehört, das zu
sein, was es war.
IV,7,25 Einige haben den Eindruck, wir trieben gar zu große Lästerung und
gar zu tollen Mutwillen, wenn wir den Papst zu Rom als Antichrist bezeichnen. Aber die das meinen,
die merken nicht, daß sie damit Paulus der Maßlosigkeit beschuldigen, dem wir uns mit solcher
Redeweise anschließen, ja, dessen eigene Worte wir nachsprechen. Damit uns nun niemand den Einwurf
macht, als bezögen wir die Worte des Paulus, die an sich einen anderen Sinn hätten, in
fälschlicher Verdrehung auf den Bischof von Rom, so will ich kurz zeigen, daß man diese Worte
nicht anders verstehen kann, als daß sie das Papsttum betreffen. Paulus schreibt, der Antichrist
werde im Tempel Gottes seinen Sitz nehmen (2. Thess. 2,4). Auch an anderer Stelle zeichnet uns der
Heilige Geist ein Bild des Antichrists, und zwar in der Person des Antiochus, und da zeigt er, daß
seine Herrschaft in Großsprecherei und Gotteslästerungen bestehen werden (Dan. 7,25). Daraus
ziehen wir die Folgerung, daß dies Reich des Antichrists eine Tyrannei ist, die sich mehr gegen die
Seelen als gegen die Leiber richtet, eine Tyrannei, die sich wider Christi geistliches Reich erhebt.
Ferner ergibt sich, daß dies Reich von der Art ist, daß es weder Christi noch der Kirche Namen
abschafft, sondern vielmehr Christus als Vorwand mißbraucht und sich unter dem Namen "Kirche"
wie hinter einer Maske versteckt. Freilich gehören alle Ketzereien und Sekten, die seit Anbeginn
bestanden haben, zum Reiche des Antichrists. Wenn jedoch Paulus vorhersagt, es werde ein Abfall
kommen (2. Thess. 2,3), so gibt er mit dieser Beschreibung zu erkennen, daß jener Sitz der
Abscheulichkeit dann aufgerichtet werden wird, wenn gewissermaßen ein allgemeiner Abfall die Kirche
ergriffen hat, mögen auch hin und her viele Glieder der Kirche in der wahren Einheit des Glaubens
verharren. Wenn Paulus aber dann zusetzt, schon zu seiner Zeit beginne der Antichrist insgeheim das
Werk der Bosheit zu wirken, das er dann hernach öffentlich ausrichten werde (2. Thess. 2,7), so
erfahren wir daraus, daß diese Not weder durch einen einzigen Menschen aufgebracht werden noch auch
in einem einzigen Menschen zu Ende kommen sollte. Wenn er dann weiter den Antichrist mit dem Merkmal
bezeichnet, daß er Gott seine Ehre wegreißen und sie sich selber anmaßen werde (2. Thess. 2,4),
so ist dies das wichtigste Zeichen, dem wir folgen müssen, wenn wir den Antichrist suchen wollen,
vor allem, wo solcher Hochmut bis zur öffentlichen Zerstreuung der Kirche fortschreitet. Nun steht
es aber fest, daß der Papst zu Rom das, was Gott allein und Christus in höchstem Maße, eigen war,
unverschämt auf sich übertragen hat, und deshalb ist nicht daran zu zweifeln, daß er der Oberste
und Anführer dieses gottlosen und abscheulichen Reiches ist.
IV,7,26 Nun mögen die Römischen hingehen und uns die alte Zeit
entgegenhalten. Als ob angesichts einer solchen Verkehrung aller Dinge die Ehre eines
(bischöflichen) Stuhls bestehen bleiben könnte, wo gar kein Bischofsstuhl ist! Eusebius berichtet,
Gott habe, damit seiner Rache Raum geschafft würde, die Kirche, die zu Jerusalem war, nach Pella
überführt (Kirchengeschichte III,5,3). Was nach dem, das wir hier vernehmen, einmal geschehen ist,
das könnte auch öfters eintreten. Deshalb aber ist es doch gar zu lächerlich und ungereimt, wenn
man die Ehre der Obergewalt derartig an einen Ort bindet, daß einer, der in Wirklichkeit der
verbissenste Feind Christi, der vornehmste Widersacher des Evangeliums, der größte Verwüster und
Zerstörer der Kirche und der grausamste Schlächter und Henker aller Heiligen ist, trotzdem als "Statthalter
Christi", als "Nachfolger des Petrus" und als "erster Vorsteher der Kirche" angesehen
wird, und zwar einzig darum, weil er einen Sitz innehat, der vorzeiten einmal der erste von allen
war! Ich schweige noch davon, was für ein großer Unterschied zwischen der Kanzlei des Papstes und
einer recht eingerichteten Ordnung der Kirche besteht. Und das tue ich, obwohl diese eine Tatsache
jeden Zweifel über diese Frage ausgezeichnet zu beheben vermag. Denn kein Mensch, der bei gesundem
Verstand ist, wird das Bischofsamt in Blei und Bullen einschließen, noch viel weniger aber in solch
eine Meisterschaft in allen Betrügereien und Übervorteilungen – denn das sind die Dinge, an denen
man das "geistliche Regiment" des Papstes erkennen kann. Sehr trefflich ist es daher, wenn
einmal einer sagte, jene römische Kirche, deren man sich rühme, sei bereits seit längerer Zeit in
einen Hof verwandelt worden, und diesen allein bekäme man jetzt in Rom zu sehen. Ich klage nun hier
nicht die Gebrechen von Menschen an, sondern ich weise nach, daß das Papsttum selbst dem
kirchlichen Wesen schlechterdings zuwider ist.
IV,7,27 Wollen wir nun aber auf die Menschen zu sprechen kommen, so weiß man
ja genugsam, was für "Statthalter Christi" wir da finden werden: da werden nämlich Julius
(II.) und Leo (X.) und Clemens (VII.) und Paul (III.) die "Pfeiler des christlichen Glaubens"
und die "obersten Lehrer der Religion" sein – Leute, die von Christus nichts anderes wissen, als
was sie in der Schule des (Spötters) Lucian gelernt haben! Aber wozu zähle ich hier drei oder vier
Päpste auf? Als ob es zweifelhaft wäre, was für eine Art Religion die Päpste samt dem ganzen
Kardinalskollegium bereits seit langem bekannt haben und auch heutzutage bekennen! Denn das erste
Hauptstück der verborgenen Theologie, die unter ihnen das Regiment führt, ist dies: Es gibt keinen
Gott. Und das zweite heißt: Alles, was von Christus geschrieben steht und gelehrt wird, das ist
Lüge und Betrug. Und das dritte: Die Lehre vom künftigen Leben und von der letzten Auferstehung -
das sind lauter Fabeln! Nicht alle denken so, und nur wenige sprechen sich so aus, das gebe ich zu.
Aber trotzdem hat das schon lange angefangen, die gewöhnliche Religion der Päpste zu sein, und
obwohl es allen, die Rom kennengelernt haben, völlig bekannt ist, so hören doch die römischen
Theologen nicht auf zu rühmen, durch ein von Christus gegebenes Vorrecht sei Vorsorge dagegen
getroffen, daß der Papst irren könne – denn zu Petrus sei gesagt: "Ich ... habe für dich
gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre" (Luk. 22,32). Ich möchte doch wissen: was werden sie
mit diesem schamlosen Gespött anders erreichen, als daß die ganze Welt einsieht, wie sie dermaßen
den höchsten Gipfel der Ruchlosigkeit erreicht haben, daß sie weder Gott fürchten noch sich vor
den Menschen scheuen?
IV,7,28 Aber nehmen wir an, die Gottlosigkeit der genannten Päpste bliebe
verborgen, weil sie sie weder in Predigten noch in Schriften an die Öffentlichkeit gebracht,
sondern bloß bei Tisch, in der Kammer oder wenigstens zwischen ihren Wänden von sich gegeben
haben. Wenn sie jedoch wollen, daß jenes Vorrecht, das sie vorwenden, seine Geltung hat, so müssen
sie (auf jeden Fall) Johann XXII. aus der Zahl der Päpste ausstreichen, der offen behauptet hat,
die Seelen seien sterblich und gingen mit den Leibern zusammen bis zum Tage der Auferstehung
zugrunde. Damit man nun aber sieht, daß damals der ganze (päpstliche) Stuhl mitsamt seinen
vornehmsten Stützen ganz und gar zusammengefallen ist, (so sei auf folgende Tatsachehingewiesen):
von den Kardinälen hat sich keiner solch einem großen Wahnwitz widersetzt, sondern die Schule von
Paris hat den König von Frankreich dazu gebracht, daß er den Mann zum Widerruf zwang! Der König
hat die (kirchliche) Gemeinschaft mit ihm untersagt, wofern er nicht baldigst Buße täte; und das
hat er auch nach gewohnter Sitte durch einen Herold bekanntmachen lassen. Unter diesem Zwang hat der
Papst dann seinen Irrtum abgeschworen. Dafür ist Johannes Gerson Zeuge, der damals lebte. Dieses
Beispiel hat die Wirkung, daß ich mit unseren Widersachern nicht mehr weiter über ihre Aussage
streiten muß, der römische Stuhl und seine Päpste könnten im Glauben nicht fallen, weil zu
Petrus gesagt worden sei: "Ich habe für dich gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre ..."
(Luk. 22,32). Sicherlich ist jener Johann XXII. in einer so scheußlichen Art von Abfall vom rechten
Glauben abgeirrt, um den Nachfahren einen ausgezeichneten Beweis dafür zu bieten, daß nicht alle,
die dem Petrus im Bischofsamt nachfolgen, auch Petrusse sind! Allerdings ist jene Behauptung auch an
sich zu kindisch, als daß sie einer Antwort bedürfte. Denn wenn sie alles, was zu Petrus gesagt
worden ist, auf seine Nachfolger beziehen wollen, so ergibt sich auch, daß alle Päpste Satane sind
- denn der Herr hat zu Petrus doch auch gesagt: "Hebe dich, Satan, von mir! Du bist mir ärgerlich"
(Matth. 16,23). Es wird nämlich für uns ebenso leicht sein, das letztere gegen sie zu kehren, wie
es für sie sein mag, uns das erste vorzuhalten!
IV,7,29 Aber ich habe keine Lust, meinen Streit mit Albernheiten zu führen -
ich will also zu dem zurückkommen, von dem ich abgeschweift war. Wenn man Christus, den Heiligen
Geist und die Kirche dergestalt an einen Ort bindet, daß nun jeder, der da die Leitung hat, selbst
wenn er der Teufel ist, trotzdem als Christi Statthalter und als Haupt der Kirche gilt, weil dort
einst der Sitz des Petrus war, so behaupte ich, ist das nicht nur gottlos und eine Schmähung
Christi, sondern auch gar zu widersinnig und dem gesunden Menschenverstand zuwider. Schon seit
langer Zeit sind die römischen Päpste entweder gänzlich ohne Religion oder aber gar die ärgsten
Feinde der Religion. Sie werden also um des Stuhles willen, den sie einnehmen, ebensowenig zu "Christi
Statthaltern", wie etwa ein Abgott, wenn er in Gottes Tempel aufgestellt wird, für Gott zu halten
ist (2. Thess. 2,4). Will man aber über ihren Lebenswandel urteilen, so mögen die Päpste selber
für sich die Antwort geben, was das denn überhaupt sein soll, an dem sie als Bischöfe erkannt
werden könnten. Zunächst: daß man zu Rom so lebt, wie man es tut, und daß sie dabei nicht allein
durch die Finger sehen und schweigen, sondern es gleichsam mit stummer Zustimmung billigen, das ist
eines Bischofs ganz und gar unwürdig; denn ein Bischof hat doch die Pflicht, die Ausgelassenheit
des Volkes durch die Strenge der Zucht in Schranken zu halten. Aber ich will nicht so rücksichtslos
gegen sie sein, daß ich sie mit fremden Missetaten belaste. Daß sie aber selbst samt ihrer
Hausgenossenschaft, samt beinahe dem ganzen Kardinalskollegium, samt dem ganzen Haufen ihres Klerus
aller Schlechtigkeit, Unsittlichkeit und Unreinheit, jeder Art von Lastern und Schandtaten dermaßen
ergeben sind, daß sie eher Ungeheuern gleichen als Menschen – darin legen sie nun sicherlich an den
Tag, daß sie nichts weniger sind als Bischöfe. Sie brauchen trotzdem nun nicht zu fürchten, daß
ich ihre Schande weiterhin aufdeckte. Denn es verdrießt mich, mit solchem stinkenden Schlamm
umzugehen, zudem muß ich auf schamhafte Ohren Rücksicht nehmen – und dann habe ich auch den
Eindruck, als ob ich das, was ich zeigen wollte, bereits mehr als zur Genüge dargetan hätte. Das
war nämlich dies: selbst wenn Rom einst das Haupt der Kirchen gewesen sein mag, so ist es doch
heute nicht wert, zu ihren kleinsten Zehen gerechnet zu werden.
IV,7,30 Was nun die von ihnen so genannten Kardinäle anbetrifft, so weiß
ich nichts was eigentlich geschehen ist, daß sie so plötzlich zu solcher Bedeutung emporgestiegen
sind. Zu Gregors Zeiten kam dieser Titel allein den Bischöfen zu. Denn jedesmal, wenn er Kardinäle
erwähnt, so schreibt er sie nicht der Kirche zu Rom, sondern irgendwelchen anderen zu, so daß also
kurzum ein "Kardinalpriester" nichts anderes ist als ein Bischof (Brief I,15; I,77; I,79; II,12;
II,37; III,13). Bei den Schriftstellern der früheren Zeit finde ich den Titel nicht. Ich sehe aber,
daß die Kardinäle damals den Bischöfen nachgeordnet waren, während sie ihnen heute wesentlich
übergeordnet sind. Bekannt ist ein Wort des Augustin: "Obgleich nach dem in der Kirche
gebräuchlich gewordenen Ehrennamen das Bischofsamt höher steht als das des Presbyters, so ist doch
(der Bischof) Augustin in vielen Dingen geringer als (der Presbyter) Hieronymus" (Brief 82). Hier
macht er unzweifelhaft zwischen einem Presbyter der Kirche zu Rom und anderen Presbytern keinen
Unterschied, sondern er ordnet sie alle gleichermaßen den Bischöfen nach. Das wurde so weitgehend
beobachtet, daß auf dem Konzil zu Karthago, als zwei Abgesandte des römischen Stuhls zugegen
waren, der eine ein Bischof, der andere ein Presbyter, der letztere an den untersten Platz
zurückgedrängt wurde. Aber um nicht gar zu alte Dinge durchzugehen: es gibt ein Konzil, das zu Rom
unter Gregor gehalten wurde; da haben nun die Presbyter ihren Sitz auf dem untersten Platz, und sie
unterschreiben auch für sich, die Diakonen aber haben bei der Unterschrift gar keinen Platz
(Gregor, Brief V,57a). Und ohne Zweifel hatten sie (die heutigen Kardinäle) damals keine andere
Amtspflicht, als dem Bischof bei der Verwaltung der Lehre und der Sakramente zur Seite – und nach
zustehen. Heutzutage aber hat sich ihr Los derart gewendet, daß sie zu Verwandten von Königen und
Kaisern geworden sind. Es ist auch außer Zweifel, daß sie zusammen mit ihrem Oberhaupt allmählich
gewachsen sind, bis sie zu dem heutigen Gipfel der Würde emporstiegen. Ich habe aber auch dies mit
wenigen Worten, gleichsam im Vorübergehen, berühren wollen, damit der Leser besser sieht, daß
sich der römische Stuhl, wie er heute beschaffen ist, sehr wesentlich von jenem alten
unterscheidet, den er stets als Vorwand benutzt, um sich zu schützen und zu verteidigen. Aber die
Kardinäle mögen früher gewesen sein, wie sie wollen, so haben sie doch in der Kirche keinerlei
wahres und rechtmäßiges Amt und deshalb bloß einen Schein und eine eitle Maske inne. Ja, weil
alles, was sie haben, dem kirchlichen Amte gänzlich zuwider ist, so ist ihnen notwendig
zugestoßen, was Gregor so oft schreibt: "Weinend sage ich es und seufzend tue ich es kund: da der
priesterstand innerlich zerfallen ist, so wird er auch äußerlich keinen Bestand haben können"
(Brief V,58; V,62; VI,7; V,63). Ja, es mußte sich vielmehr an ihnen erfüllen, was Maleachi von
solchen Leuten sagt: "Ihr seid von dem Wege abgetreten und ärgert viele im Gesetz und habt den
Bund Levis gebrochen, spricht der Herr. Darum habe ich auch euch gemacht, daß ihr verachtet und
unwert seid vor dem ganzen Volk ..." (Mal. 2,8f.). Nun überlasse ich es allen Frommen, darüber
nachzudenken, von welcher Art der höchste Gipfel der römischen Hierarchie ist, dem die Papisten in
gottloser Unverschämtheit ungescheut selbst das Wort Gottes unterwerfen, das doch für Himmel und
Erde, für Engel und Menschen hätte verehrungswürdig und heilig sein sollen.
Von der Macht der Kirche im Bezug auf die Glaubenssätze, und mit was für einer
zügellosen Willkür diese im Papsttum zur Verfälschung aller Reinheit der Lehre benutzt worden ist
IV,8,1 Nun folgt das dritte Hauptstück: von der Vollmacht der Kirche. Diese
tritt teils bei den einzelnen Bischöfen in Erscheinung, teils bei den Konzilien, und zwar sowohl
bei den Provinzialkonzilien als auch bei den allgemeinen. Dabei rede ich ausschließlich von der
geistlichen Vollmacht, die der Kirche eigen ist. Diese besteht nun in der Lehre, in der
Rechtsprechung oder in der Gesetzgebung. Das Lehrstück von der Lehre hat zwei Teile: es handelt von
der Autorität, Glaubenssätze aufzustellen, und von der Auslegung der Glaubenssätze. Bevor wir nun
anfangen, die einzelnen Stücke besonders zu erörtern, möchten wir den frommen Leser auffordern,
daß er daran denke, alles, was über die Vollmacht der Kirche gelehrt wird, auf das Ziel zu
beziehen, zu dem diese nach dem Zeugnis des Paulus gegeben ist; dies Ziel aber ist Erbauung und
nicht Niederreißung (2. Kor. 10,8; 13,10), und die, welche diese Vollmacht rechtmäßig ausüben,
sind nicht der Meinung, daß sie mehr seien als Diener Christi und zugleich Diener des Volkes (d.h.
der Gemeinde) in Christus. Die Erbauung der Kirche geschieht nun aber nur auf eine einzige Art und
Weise, nämlich dann, wenn die Diener selbst sich befleißigen, Christus die ihm gebührende
Autorität zu erhalten; diese aber kann nur dann unverkürzt bleiben, wenn ihm gelassen wird, was er
vom Vater empfangen hat, nämlich daß er der einzige Lehrmeister seiner Kirche ist. Denn nicht von
irgendwem anders, sondern von ihm allein steht geschrieben: "Den sollt ihr hören" (Matth.
17,5). So soll also die kirchliche Vollmacht wohl ohne Kleinlichkeit ihre Zier bekommen, aber doch
in bestimmte Grenzen eingeschlossen werden, damit sie nicht nach der Willkür der Menschen hierhin
und dorthin gezerrt werde. Hierzu wird es in höchstem Maße dienlich sein, wenn wir unser Augenmerk
darauf richten, in welcher Weise sie von den Propheten und Aposteln beschrieben wird. Denn wenn wir
es den Menschen einfach überlassen, die Macht an sich zu nehmen, die ihnen gefällt, dann sieht
jeder sofort ein, wie leicht es ist, in eine Tyrannei zu verfallen, die von der Kirche Christi weit
entfernt bleiben muß.
IV,8,2 Deshalb müssen wir hier bedenken, daß alles, was der Heilige Geist in
der Schrift den Priestern oder auch den Propheten oder den Aposteln oder den Nachfolgern der Apostel
an Autorität und Würde überträgt, voll und ganz nicht eigentlich den Menschen selbst beigelegt
wird, sondern dem Amte, dem sie vorstehen, oder, um deutlicher zu reden, dem Worte, dessen Dienst
ihnen anvertraut ist. Wenn wir sie nämlich alle der Reihe nach durchgehen, so werden wir nicht
finden, daß sie mit irgendeiner Autorität ausgestattet waren, zu lehren oder einen Spruch zu tun,
als allein im Namen des Herrn und auf Grund seines Wortes. Denn wenn sie zu ihrem Amt berufen
werden, so wird ihnen jedesmal zugleich die Verpflichtung auferlegt, nichts aus sich selbst heraus
vorzubringen, sondern aus dem Mund des Herrn heraus zu reden. Auch läßt er sie nicht eher in der
Öffentlichkeit auftreten, um vom Volke gehört zu werden, als bis er ihnen aufgetragen hat, was sie
reden sollen – damit sie nichts reden außer seinem Wort. Mose war doch der Oberste aller Propheten,
und ihn mußte man vor anderen hören; aber auch er wurde zuvor mit bestimmten Aufträgen versehen,
damit er durchaus nichts verkündigen konnte als das, was von dem Herrn kam (Ex. 3,4ff.). Als daher
das Volk seine Lehre angenommen hatte, da hieß es von ihm, es habe an Gott und an seinen Knecht
Mose geglaubt (Ex. 14,31).Auch die Autorität der Priester wurde mit schwersten Strafandrohungen
gesichert, damit sie nicht in Verachtung geriet (Deut. 17, 9-13). Zugleich aber gibt der Herr zu
erkennen, unter welcher Bedingung sie gehört werden sollten, indem er nämlich sagt, er habe mit
Levi seinen Bund gemacht, damit "das Gesetz der Wahrheit ... in seinem Munde" sei (Mal. 2,4.6).
Und kurz nachher fügt er noch zu: "Des Priesters Lippen sollen die Lehre bewahren, daß man aus
seinem Munde das Gesetz suche; denn er ist ein Bote des Herrn der Heerscharen" (Mal. 2,7; nicht
ganz Luthertext). Will also der Priester gehört werden, so muß er sich als ein Bote Gottes
erweisen, das heißt: er muß die Weisungen, die er von seinem Auftraggeber empfangen hat,
getreulich weitergeben. Und wo davon die Rede ist, daß die Priester gehört werden sollen, da wird
ausdrücklich festgesetzt, daß sie ihren Spruch "nach dem Gesetz" Gottes tun sollen (Deut.
,7,10.11).
IV,8,3 Wie es um die Vollmacht der Propheten allgemein bestellt war, das wird
bei Ezechiel trefflich beschrieben: "Du Menschenkind, spricht der Herr, ich habe dich zum Wächter
gesetzt über das Haus Israel, du sollst also aus meinem Munde das Wort hören und ihnen von mir aus
Botschaft geben" (Ez. 3,17; nicht durchweg Luthertext). Wenn er da die Weisung erhält, (das Wort)
"aus dem Munde des Herrn" zu hören – wird ihm damit nicht untersagt, aus sich selbst heraus
etwas zu ersinnen? Und wenn es dann heißt, er solle "von dem Herrn aus Botschaft geben" – was
bedeutet das anders, als so zu reden, daß er zuversichtlich zu rühmen wagt, daß es nicht sein,
sondern des Herrn Wort ist, was er vorbringt? Das nämliche steht mit anderen Worten bei Jeremia:
"Ein Prophet, der Träume hat, der erzähle Träume; wer aber mein Wort hat, der predige mein
Wort, das da wahr ist" (Jer. 23,28; Schluß nicht Luthertext). Damit gibt er unzweifelhaft allen
Propheten ein Gesetz. Und dies Gesetz ist von der Art, daß er es nicht duldet, daß einer mehr
lehrt, als ihm befohlen ist. Und alles, was nicht von ihm allein ausgegangen ist, das nennt er
nachher "Stroh" (Jer. 23,28b). Deshalb hat auch von den Propheten keiner den Mund aufgetan,
wofern nicht der Herr die Worte vorsagte. Deshalb begegnen uns bei ihnen so oft solche Wendungen wie
"das Wort des Herrn", "die Last des Herrn", "So spricht der Herr" oder "Der Mund des
Herrn hat’s geredet". Und das mit Recht: denn Jesaja rief doch aus, er habe befleckte Lippen
(Jes. 6,5), und Jeremia bekannte, er vermöge nicht zu reden, weil er noch ein Knabe sei (Jer. 1,6).
Was hätte aus des einen beflecktem, des anderen einfältigem Munde anders hervorgehen können als
Unreines und Törichtes, wenn sie ihr eigenes Wort geredet hätten? Heilige und reine Lippen aber
hatten sie, als diese anfingen, die Werkzeuge des Heiligen Geistes zu sein. Sobald die Propheten an
die heilige Verpflichtung gebunden sind, nichts von sich zu geben, als was sie empfangen haben, da
werden sie mit herrlicher Vollmacht und mit glänzenden Titeln ausgezeichnet. Denn wenn der Herr
bezeugt, daß er sie "über Völker und Königreiche" gesetzt hat, damit sie "ausreißen,
zerbrechen, zerstören und verderben ... und bauen und pflanzen" (Jer. 1,10), so fügt er gleich
auch die Ursache bei: all dies geschieht, weil er "seine Worte in ihren Mund gelegt" hat (Jer.
1,9).
IV,8,4 Und wenn man nun seinen Blick auf die Apostel richtet, so werden diese
allerdings mit vielen und herrlichen Bezeichnungen gepriesen: es heißt von ihnen, daß sie "das
Licht der Welt" und "das Salz der Erde" sind (Matth. 5,13,14), daß man sie an Christi Statt
hören soll (Luk. 10,16), daß alles, was sie auf Erden gebunden oder gelöst haben, auch im Himmel
gebunden und gelöst sein soll (Joh. 20,23; Matth. 18,18). Aber (schon) durch ihren Namen (Apostel,
Abgesandte) legen sie an den Tag, wieviel ihnen in ihrem Amte zugestanden ist: nämlich wenn sie "Apostel"
sind, so sollen sie eben nicht schwatzen, was ihnen gefällt, sondern vielmehr getreulich die
Aufträge dessen vorbringen, von dem sie "gesandt" sind! Deutlich genug sind auch Christi Worte,
mit denen er ihre Sendung umgrenzt hat: er trug ihnen doch auf, sie sollten hingehen und alle
Völker lehren, was er ihnen geboten hatte (Matth. 28,19f.). Ja, damit es niemand gestattet sei,
sich diesem Gesetz zu entziehen, so hat er es selbst auf sich genommen und sich selbst auferlegt.
"Meine Lehre", spricht er, "ist nicht mein, sondern des, der mich gesandt hat, des Vaters"
(Joh. 7,16; Schluß ist Zusatz). Er ist doch allezeit der einige, wahre Ratgeber des Vaters gewesen,
und der Vater hat ihn als Herrn und Meister über alle eingesetzt – trotzdem gibt er, weil er das
Amt der Lehrunterweisung ausübt, durch sein eigenes Beispiel allen Dienern die Weisung, welcher
Regel sie bei ihrem Lehren folgen sollen. Die Vollmacht der Kirche ist also nicht unbegrenzt,
sondern sie ist dem Worte des Herrn unterworfen und gleichsam darin eingeschlossen.
IV,8,5 Obgleich nun aber in der Kirche seit Anbeginn der Grundsatz in Geltung
war und es auch heute noch sein muß, daß die Knechte Gottes nichts lehren sollen, was sie nicht
von ihm selbst gelernt hätten, so haben sie doch solch Lernen je nach der Verschiedenheit der
Zeiten auf verschiedene Art und Weise geübt. Die Art aber, wie es heute geschieht, unterscheidet
sich sehr wesentlich von derjenigen früherer Zeiten. Zunächst gilt doch das Wort Christi, daß
niemand den Vater gesehen hat außer dem Sohne und dem, dem es der Sohn hat offenbaren wollen
(Matth. 11,27). Ist das aber wahr, so haben alle, die zur Erkenntnis Gottes gelangen wollten,
unzweifelhaft allezeit von jener ewigen Weisheit geleitet werden müssen. Denn wie hätten sie
anders die Geheimnisse Gottes innerlich erfassen oder aussprechen sollen, als unter der Unterweisung
dessen, dem allein die Verborgenheiten des Vaters offen stehen? So haben also die heiligen Menschen
von jeher Gott nicht anders erkannt, als indem sie ihn im Sohne wie in einem Spiegel anschauten.
Wenn ich das sage, so verstehe ich es so: Gott hat sich den Menschen niemals anders offenbart als
durch den Sohn, das heißt durch seine einige Weisheit, sein einiges Licht und seine einige
Wahrheit. Aus diesem Brunnquell haben Adam, Noah, Abraham, Isaak, Jakob und andere alles geschöpft,
was sie an himmlischer Lehre besaßen. Aus derselben Quelle haben auch alle Propheten entnommen, was
sie an himmlischen Offenbarungsworten von sich gegeben haben. Jedoch hat sich diese Weisheit nicht
allezeit auf eine und dieselbe Weise offenbart. Bei den Erzvätern hat sie geheime Offenbarungen
benutzt, zugleich aber zu deren Bestätigung Zeichen von solcher Art angewandt, daß es für jene
Männer durchaus keinem Zweifel mehr unterliegen konnte, daß es Gott war, der da redete. Was die
Erzväter empfangen hatten, das haben sie dann von Hand zu Hand an ihre Nachkommen überliefert;
denn Gott hatte es ihnen mit der Bestimmung anvertraut, daß sie es in dieser Weise fortpflanzten.
Die Söhne aber und Enkel wußten durch Gottes innerliche Eingebung (Deo intus dictante), daß das,
was sie vernahmen, vom Himmel und nicht von der Erde stammte.
IV,8,6 Als es aber Gott gefiel, eine deutlicher sichtbare Gestalt der Kirche
aufzurichten, da hatte er den Willen, daß sein Wort schriftlich niedergelegt und versiegelt wurde,
damit die Priester daraus entnähmen, was sie dem Volke vorbringen sollten, und damit jegliche
Lehre, die vorgetragen werden sollte, nach dieser Richtschnur geprüft würde. Wenn den Priestern
also nach der öffentlichen Kundmachung des Gesetzes die Weisung erteilt wird, sie sollten "aus
dem Munde" des Herrn lehren (Mal. 2,7), so ist der Sinn folgender: sie sollen nichts lehren, was
außerhalb der Art der Unterweisung liegt, die Gott im Gesetz beschlossen hat, oder was dieser fremd
ist. Vollends war es ihnen nicht erlaubt, etwas hinzuzufügen oder davonzutun (Deut. 4,2; 13,1).Dann
folgten die Propheten. Durch sie hat Gott zwar neue Offenbarungsworte kundgemacht, die zum Gesetz
hinzugetan werden sollten; aber diese waren doch nicht so neu, daß sie etwa nicht aus dem Gesetz
herrührten und darauf gerichtet wären. Bezüglich der Lehre waren die Propheten nämlich bloß
Ausleger des Gesetzes, und sie haben ihm nichts zugefügt als Weissagungen über zukünftige Dinge.
Mit Ausnahme dieser Weissagungen haben sie nichts vorgebracht als die reine Auslegung des Gesetzes.
Es war aber des Herrn Wohlgefallen, daß die Lehre deutlicher und weitläufiger ans Licht trat,
damit den schwachen Gewissen um so besser Genüge geschähe, und deshalb gebot er, daß auch die
Prophetien schriftlich niedergelegt wurden und als Teil seines Wortes galten. Dazu sind dann
zugleich auch die Geschichtsbücher gekommen, die ebenfalls Arbeiten von Propheten sind, aber unter
der Eingebung des Heiligen Geistes zusammengestellt. Die Psalmen rechne ich zu den Propheten, weil
ja das, was wir diesen zuschreiben, auch ihnen gemein ist. Dieses ganze Schriftengefüge, das aus
dem Gesetz, den Prophetenbüchern, den Psalmen und den Geschichtsbüchern gebildet war, war also
für das Volk des Alten Bundes das Wort Gottes, nach dessen Regel die Priester und Lehrer bis zum
Kommen Christi ihre Unterweisung ausrichten sollten, und es war ihnen nicht erlaubt, davon
abzuweichen, "weder zur Rechten noch zur Linken" (Deut. 5,29); denn ihr ganzes Amt war von der
Begrenzung umschlossen, daß sie aus Gottes Mund zum Volke sprechen sollten. Das geht aus der
wichtigen Stelle bei Maleachi hervor, an der er ihnen die Weisung gibt, des Gesetzes zu gedenken und
darauf achtzuhaben – bis zur Verkündigung des Evangeliums (Mal. 3,22 = 4,4)! Denn auf diese Weise
hält er sie von allen fremden Lehren ab und erlaubt ihnen nicht, das geringste Stücklein von dem
Wege abzuweichen, den ihnen Mose getreulich gewiesen hatte. Und das ist auch der Grund, weshalb
David die Herrlichkeit des Gesetzes so prachtvoll verkündigt und so viele Lobpreise desselben
aufführt: die Juden sollten eben nichts außerhalb des Gesetzes begehren, weil ja alle
Vollkommenheit in ihm beschlossen lag!
IV,8,7 Als aber endlich Gottes Weisheit im Fleische geoffenbart wurde, da hat
sie uns alles, was mit dem menschlichen Verstande über den himmlischen Vater begriffen werden kann
und gedacht werden soll, mit offenem Munde dargelegt. Daher haben wir jetzt, seitdem Christus, die
Sonne der Gerechtigkeit, leuchtend aufgegangen ist, den vollen Glanz der göttlichen Wahrheit, so
wie die Klarheit am Mittag zu sein pflegt, wenn auch das Licht zuvor einigermaßen verdüstert war.
Denn der Apostel wollte wahrhaftig nichts Gewöhnliches verkündigen, als er schrieb: "Nachdem
vorzeiten Gott manchmal und mancherleiweise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er
am letzten in diesen Tagen zu uns zu reden begonnen durch seinen geliebten Sohn ..." (Hebr. 1,1f.;
Schluß ungenau). Er gibt hier nämlich zu verstehen, ja, er erklärt offen, daß Gott fortan nicht
mehr, wie zuvor, bald durch den einen, bald wieder durch den anderen reden, auch nicht mehr eine
Prophetie an die andere, eine Offenbarung an die andere fügen wird, sondern vielmehr im Sohne
jedwede Unterweisung dergestalt vollendet hat, daß dies für das letzte und ewige Zeugnis von ihm
zu gelten hat. Aus diesem Grunde wird die ganze Zeit des Neuen Bundes, von da an, da uns Christus
mit der Predigt seines Evangeliums erschienen ist, bis zum Tage des Gerichtes, mit solchen
Ausdrücken bezeichnet wie "die letzte Stunde" (1. Joh. 2,18), "die letzten Zeiten" (1. Tim.
4,1; 1. Petr. 1,20) oder "die letzten Tage" (Apg. 2,17; 2. Tim. 3,1; 2. Petr. 3,3). Das
geschieht, damit wir uns mit der Vollkommenheit der Lehre Christi zufriedengeben und es lernen, uns
darüber hinaus keine neue zu ersinnen und auch keine neue anzunehmen, die sich etwa andere erdacht
haben. Deshalb hat uns der Vater nicht ohne Ursache den Sohn mit einem einzigartigen Vorrecht als
Lehrer verordnet, indem er gebietet, daß er, nicht irgendeiner von den Menschen, gehört werden
soll. Es sind zwar bloß wenige Worte, mit denen er uns die Lehrmeisterschaft des Sohnes ans Herz
gelegt hat, indem er spricht: "Den sollt ihr hören" (Matth. 17,5). Aber in diesen wenigen
Worten liegt mehr Gewicht und Kraft, als man gemeiniglich glaubt; es ist nämlich so, als wenn er
uns von allen Lehren der Menschen wegführte, uns allein vor diesen Einen stellte und uns geböte,
von ihm allein alle Lehre des Heils zu begehren, an ihm allein zu hängen, in ihm allein zu bleiben,
kurzum – wie die Worte lauten – auf seine Stimme allein zu horchen! Und wahrlich, was sollte man
noch von einem Menschen erwarten und begehren, wo sich uns doch das Wort des Lebens selber vertraut
und gegenwärtig kundgegeben hat? Ja, aller Menschen Mund muß füglich geschlossen sein, nachdem
einmal der geredet hat, in dem nach dem Willen des himmlischen Vaters "verborgen liegen" sollen
"alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis" (Kol. 2,3), und zwar dergestalt geredet hat, wie
es der Weisheit Gottes geziemte, die in keinem Stück fehlgeht, und dem Messias, von dem man die
Offenbarung aller Dinge erhoffte (Joh. 4,25), das heißt so, daß er anderen nach sich selbst nichts
mehr zu sagen übrigließ.
IV,8,8 Daher soll es als unerschütterlicher Grundsatz gelten: für Gottes
Wort, dem man in der Kirche Raum geben soll, darf nichts anderes gehalten werden, als was zunächst
in Gesetz und Propheten und alsdann in den apostolischen Schriften verfaßt ist, und es gibt in der
Kirche auch keine andere Art, rechtmäßig zu lehren, als nach der Vorschrift und Richtschnur dieses
Wortes. Daraus schließen wir auch, daß den Aposteln nichts anderes zugestanden war, als was vordem
die Propheten besessen hatten: sie sollten nämlich die überkommene Schrift auslegen und
nachweisen, daß das, was darin gelehrt wird, in Christus seine Erfüllung gefunden hat; jedoch
sollten sie dies allein vom Herrn her tun, das heißt: indem Christi Geist ihnen Weisung gab und
ihnen die Worte gewissermaßen in den Mund legte. Denn das war das Gesetz, mit dem Christus selbst
ihre Sendung bestimmte, indem er ihnen gebot, sie sollten hingehen und lehren – nicht, was sie sich
selber zufällig erdacht hatten, sondern was er ihnen aufgetragen hatte (Matth. 28,19f.). Es hätte
auch nichts deutlicher gesprochen werden können, als was er an anderer Stelle sagt: "Ihr sollt
euch nicht Rabbi nennen lassen; denn einer ist euer Meister, Christus" (Matth. 23,8). Damit dies
dann noch tiefer in ihren Herzen haftete, so wiederholte er es an derselben Stelle noch zweimal
(Matth. 23,9f.). Und weil sie in ihrer Unkundigkeit das, was sie aus dem Munde des Meisters gehört
und gelernt hatten, nicht zu fassen vermochten, so verhieß er ihnen den "Geist der Wahrheit",
von dem sie zum wahren Begreifen aller Dinge geleitet werden sollten (Joh. 14,26; 16,13). Denn man
muß gründlich auf die Begrenzung achten, die darin liegt, daß Christus dem Heiligen Geiste die
Aufgabe zuerteilte, den Jüngern einzugeben, was er sie zuvor mit seinem Munde gelehrt hatte.
IV,8,9 Deshalb läßt Petrus, der doch von seinem Meister sehr wohl darüber
belehrt war, wie weit seine Vollmacht ging, sich selber wie auch anderen nichts weiter übrig, als
daß sie die Lehre austeilten, die ihnen von Gott gegeben war. "So jemand redet", sagt er, "daß
er’s rede als Gottes Wort" (1. Petr. 4,11) – das heißt: nicht unter Zweifeln, wie ja Leute, die
ein schlechtes Gewissen haben, zu zagen pflegen, sondern vielmehr mit hoher Zuversicht, wie sie
einem Knechte Gottes geziemt, der mit festen Aufträgen versehen ist. Was heißt das aber anders,
als alle Erfindungen des menschlichen Verstandes, aus welchem Haupte sie auch schließlich
entsprungen sein mögen, fernzuhalten, damit Gottes reines Wort in der Kirche der Gläubigen gelehrt
und gelernt werde? Was heißt es anders, als die Meinungen oder vielmehr die Erdichtungen aller
Menschen, welchen Rang sie auch innehaben mögen, aus dem Wege zu räumen, damit Gottes Ratschlüsse
allein in Geltung bleiben? Das sind jene geistlichen "Waffen", die da "mächtig vor Gott"
sind, "zu zerstören Befestigungen", jene Waffen, mit denen Gottes treue Knechte "zerstören
... die Anschläge und alle Höhe, die sich erhebt wider die Erkenntnis Gottes", und mit denen sie
"gefangennehmen alle Vernunft unter den Gehorsam Christi" (2. Kor. 10,4f.). Sieh da, das ist
jene gewaltige Macht, mit der die Hirten der Kirche, was für einen Namen sie auch tragen mögen,
ausgerüstet sein müssen, damit sie nämlich auf Grund des Wortes Gottes zuversichtlich alles
wagen, seiner Majestät alle Kraft und Herrlichkeit, alle Weisheit und Hoheit dieser Welt zu weichen
und Gehorsam zu leisten zwingen, damit sie ferner, auf seine Macht gestützt, allen Menschen, vom
höchsten bis zum geringsten gebieten, Christi Haus bauen und das des Satans umstürzen, die Schafe
weiden und die Wölfe überwältigen, die Gelehrigen unterweisen und ermahnen, die Widerspenstigen
und Halsstarrigen aber strafen, schelten und unterwerfen, und damit sie binden und lösen und
schließlich auch Wetterstrahl und Donnerschlag ausgehen lassen, wenn es nötig ist, aber alles mit
dem Worte Gottes! Allerdings besteht, wie ich bereits sagte, zwischen den Aposteln und ihren
Nachfolgern der Unterschied, daß jene sichere und beglaubigte Schreiber (amanuenses) des Heiligen
Geistes waren und ihre Schriften deshalb als Offenbarungsworte Gottes zu gelten haben, diese dagegen
keine andere Aufgabe haben als zu lehren, was in der Heiligen Schrift überliefert und versiegelt
ist. Wir stellen also fest, daß es den treuen Dienern (der Kirche) nicht mehr freisteht, einen
neuen Glaubenssatz zu schmieden, sondern daß sie einfach bei der Lehre bleiben müssen, der Gott
alle ohne Ausnahme unterworfen hat. Wenn ich das sage, so will ich nicht allein zeigen, was
einzelnen Menschen, sondern auch, was der gesamten Kirche erlaubt ist. Was die einzelnen Menschen
betrifft, so war Paulus den Korinthern doch sicherlich vom Herrn als Apostel verordnet, und doch
erklärt er, daß er über ihren Glauben nicht Herr sei (2. Kor. 1,24). Wer will es nun wagen, sich
ein Herrenrecht anzumaßen, das dem Paulus nach seinem Zeugnis nicht zukam? Hätte Paulus jene
willkürliche Freiheit im Lehren anerkannt, nach der ein Hirte (Pastor) von Rechts wegen verlangen
könnte, daß ihm in allem, was er auch vorbrächte, fester Glaube beigemessen würde, so hätte er
sicherlich den nämlichen Korinthern nicht die Ordnung gegeben, daß, wenn zwei oder drei Propheten
redeten, die anderen (ihre Worte) beurteilen sollten, und daß, wenn einem, der dasäße, etwas
offenbart wäre, der erste zu schweigen hätte (1. Kor. 14,29). Denn niemandem hat er solche
Schonung gewährt, daß er seine Autorität etwa nicht dem Urteil des Wortes Gottes unterworfen
hätte! Ja, wird vielleicht jemand sagen, aber mit der gesamten Kirche ist es doch anders bestellt.
Ich antworte, daß Paulus an anderer Stelle auch diesem Zweifel entgegentritt, indem er sagt, der
Glaube komme aus dem Hören, das Hören aber aus dem Worte Gottes (Röm. 10,17). Wenn der Glaube
nämlich allein am Worte Gottes hängt, wenn er allein nach ihm schaut und auf ihm ruht – was für
ein Raum bleibt dann für das Wort der ganzen Welt? Hier kann auch niemand zweifeln, der recht
erkannt hat, was Glaube ist; denn dieser muß sich doch auf einen so festen Grund stützen, daß er
dadurch gegen den Satan und alle Listen der Hölle und gegen die ganze Welt unüberwindlich und
unerschrocken standhält. Diesen festen Grund aber werden wir einzig und allein in Gottes Wort
finden. Zudem besteht noch eine allgemeine Ursache, auf die man hier achten muß: wenn Gott dem
Menschen die Fähigkeit nimmt, ein neues Dogma vorzubringen, so geschieht das dazu, daß er allein
in der geistlichen Unterweisung unser Meister sei, wie ja er allein auch der Wahrhaftige ist (Röm.
3,4), der nicht lügen noch trügen kann. Diese Ursache hat ihre Geltung nicht weniger für die
ganze Kirche als für jeden einzelnen unter den Gläubigen.
IV,8,10 Wenn man nun aber die jetzt beschriebene Vollmacht der Kirche mit
derjenigen vergleicht, deren sich schon einige Jahrhunderte lang die geistlichen Tyrannen, die sich
"Bischöfe" und "Vorsteher in der Religion" nannten, im Volke Gottes gerühmt haben, dann
werden diese beiden keineswegs besser zueinander stimmen als Christus und Belial. Ich habe hier
nicht die Absicht auseinanderzusetzen, wie und auf wie empörende Weise sie ihre Tyrannei ausgeübt
haben; nein, ich will nur ihre Lehre wiedergeben, die sie zunächst in ihren Schriften, dann aber
auch heutzutage mit Feuer und Schwert verteidigen. Sie nehmen es zunächst als ausgemacht an, daß
ein allgemeines Konzil die wahre Darstellung (d.h. Repräsentation) der Kirche sei. Nachdem sie
diesen Grundsatz einmal angenommen haben, stellen sie dann gleichzeitig als über jeden Zweifel
erhaben den Satz auf, dergleichen Konzilien würden unmittelbar durch den Heiligen Geist regiert und
könnten deshalb nicht irren. Da sie nun aber selbst die Konzilien regieren, ja, sie (in ihre
Gewalt) einsetzen, so machen sie auf das, was nach ihrer Behauptung den Konzilien zukommt,
tatsächlich selber Anspruch. Sie wollen also, daß unser Glaube nach ihrem Gutdünken steht und
fällt, so daß also alles, was sie nach der einen oder anderen Richtung festgesetzt haben, für
unsere Herzen fest und endgültig beschlossen sein soll: wenn sie also etwas gutgeheißen haben, so
soll das gleiche auch von uns ohne jegliches Bedenken gebilligt werden, und wenn sie etwas verdammt
haben, so soll es auch für uns als verdammt gelten. Unterdessen schmieden sie nach ihrer Willkür
und unter Verachtung des Wortes Gottes Glaubenssätze zusammen und erheben dann die Forderung, man
solle diesen auf Grund der obigen Ursache Glauben beimessen. Denn es sei, so behaupten sie, nur der
ein Christ, der alle ihre Glaubenssätze, die behauptenden wie die verneinenden, mit Gewißheit
annähme, und zwar wenn nicht mit "entwickeltem", so doch mit "unentwickeltem" Glauben -
denn es liege eben bei der Kirche, neue Glaubensartikel zu machen.
IV,8,11 Wir wollen nun zunächst hören, mit welchen Beweisgründen sie es
bekräftigen, daß der Kirche eine solche Autorität gegeben sei; dann wollen wir zusehen, wieviel
ihnen das, was sie bezüglich der Kirche anführen, helfen kann. Die Kirche, so sagen sie, besitzt
herrliche Verheißungen, daß sie von Christus, ihrem Bräutigam, niemals verlassen werden, sondern
von seinem Geiste "in alle Wahrheit geleitet" werden wird (vgl. Joh. 16,13). Aber nun sind von
den Verheißungen, die sie anzuführen pflegen, viele ebensowohl jedem einzelnen Gläubigen wie der
gesamten Kirche gegeben. Denn wenn der Herr sprach: "Siehe, ich bin bei euch ... bis an der Welt
Ende" (Matth. 28,20), oder ebenso: "Ich will den Vater bitten, und er soll euch einen anderen
Tröster geben ..., den Geist der Wahrheit" (Joh. 14,16f.), so richtete er diese Worte zwar an die
zwölf Apostel, aber er gab diese Verheißung nicht nur der Zwölfzahl, sondern auch jedem einzelnen
von ihnen insonderheit, ja, in gleicher Weise auch anderen Jüngern, die er bereits angenommen hatte
oder die später noch hinzukommen sollten. Wenn die Römischen also derartige Verheißungen, die so
voll herrlichen Trostes sind, dergestalt auslegen, als ob sie keinem unter den Christenmenschen
(für sich allein) gegeben wären, sondern der gesamten Kirche insgemein – was tun sie dann anders,
als daß sie allen Christen die Zuversicht nehmen, die aus diesen Verheißungen zu ihrer Ermutigung
hätte kommen sollen? Ich bestreite nun hier nicht, daß die ganze Gemeinschaft der Gläubigen, die
doch mit einer vielfachen Mannigfaltigkeit von Gaben ausgerüstet ist, einen viel reicheren und
völligeren Schatz himmlischer Weisheit zum Geschenk erhalten hat als jeder einzelne für sich
allein; auch bin ich nicht der Meinung, daß jene Zusage allen Gläubigen miteinander in dem Sinne
gegeben sei, als ob sie alle gleichermaßen mit jenem Geist des Verstehens und der Unterweisung
begabt wären; nein, ich sage das nur, weil man den Widersachern Christi nicht erlauben darf, daß
sie die Schrift zur Verteidigung einer bösen Sache in einem ihr fremden Sinn verdrehen. Aber ich
lasse das beiseite und bekenne schlicht, wie es sich auch tatsächlich verhält, daß der Herr
immerfort den Seinen gegenwärtig ist und sie mit seinem Geist regiert. Dieser ist nun, so bekenne
ich weiter, nicht ein Geist des Irrtums, der Unwissenheit, der Lüge oder der Finsternis, sondern
ein Geist gewisser Offenbarung, ein Geist der Weisheit, der Wahrheit und des Lichtes, von dem die
Gläubigen ohne Trug lernen, was ihnen geschenkt ist (1. Kor. 2,12), das heißt: "welche da sei
die Hoffnung ihrer Berufung, und welcher sei der Reichtum seines herrlichen Erbes bei seinen
Heiligen" (Eph. 1,18). Aber da die Gläubigen in diesem Fleische bloß die "Erstlinge" und
einen gewissen Geschmack dieses Geistes empfangen – auch die, welche vor anderen mit
hervorragenderen Gnadengaben beschenkt sind -, so bleibt ihnen nichts Besseres übrig, als daß sie
sich, ihrer Schwachheit wohl bewußt, sorglich innerhalb der Grenzen des Wortes Gottes halten, damit
sie nicht, wenn sie nach ihrem eigenen Sinn allzu weit ausschweifen, alsbald vom rechten Wege
abirren, sofern sie nämlich jenes Geistes, durch dessen Unterweisung allein Wahrheit und Lüge
unterschieden werden, noch ledig sind. Denn alle bekennen mit Paulus, daß sie das Endziel noch
nicht erreicht haben (Phil. 3,12). Und deshalb streben sie mehr nach dem täglichen Fortschreiten,
als daß sie sich etwa der Vollkommenheit rühmten!
IV,8,12 Unsere Widersacher werden jedoch den Einwand machen, es komme doch
das, was stückweise jedem einzelnen unter den Heiligen zugesprochen wird, gänzlich und vollkommen
der Kirche selber zu. Obwohl dies nun einigermaßen den Schein der Wahrheit hat, so behaupte ich
doch, daß es nicht wahr ist. Zwar hat Gott die Gaben seines Geistes an jedes einzelne Glied "nach
dem Maß" (Eph. 4,7) dergestalt ausgeteilt, daß, wofern die Gaben selbst dem allgemeinen Nutzen
zugewandt werden, dem gesamten Leibe nichts Notwendiges abgeht. Aber die Reichtümer der Kirche sind
allezeit von der Art, daß noch sehr viel zu jener höchsten Vollkommenheit fehlt, die unsere
Widersacher rühmen. Und doch hat die Kirche deswegen in keinem Stück solchen Mangel, daß sie etwa
nicht allezeit soviel hätte, wie notwendig ist; denn der Herr weiß, was ihre Notdurft erfordert.
Aber um sie in der Demut und in frommer Bescheidenheit zu halten, reicht er ihr nicht mehr dar, als
ihr, wie er weiß, nützlich ist. Ich weiß, was sie auch hier gewöhnlich für einen Einwand
machen: sie sagen nämlich, die Kirche sei doch "gereinigt durch das Wasserbad im Wort" des
Lebens, auf daß sie "nicht habe einen Flecken oder Runzel" (Eph. 5,26f.), und deshalb werde sie
an anderer Stelle "ein Pfeiler und eine Grundfeste der Wahrheit" genannt (1. Tim. 3,15). Aber an
der ersteren Stelle wird mehr dargelegt, was Christus Tag für Tag an seiner Kirche wirkt, als was
er bereits vollendet hat. Denn wenn er all die Seinen von Tag zu Tag heiligt, reinigt, glättet und
von ihren Flecken säubert, so steht jedenfalls fest, daß sie noch mit allerlei Flecken und Runzeln
bedeckt sind und daß an ihrer Heiligung noch manches fehlt. Wie töricht und unglaubwürdig ist es
dann aber, die Kirche bereits durch und durch und in jeder Hinsicht für heilig und unbefleckt zu
halten, wo doch alle ihre Glieder noch befleckt und einigermaßen unrein sind! Es ist also wahr,
daß die Kirche durch Christus geheiligt ist;aber hier tritt bloß der Anfang dieser Heiligung in
die Erscheinung, ihr Ende dagegen und ihre vollkommene Erfüllung wird dann vorhanden sein, wenn sie
Christus, der Heilige der Heiligen, wahrhaft und vollkommen mit seiner Heiligkeit erfüllen wird.
Wahr ist auch, daß ihre Flecken und Runzeln getilgt sind, aber doch so, daß sie noch Tag für Tag
getilgt werden, bis Christus durch sein Kommen alles gänzlich wegnimmt, was noch übrig ist. Denn
wenn wir das nicht annehmen, so müssen wir notwendig mit den Pelagianern behaupten, die
Gerechtigkeit der Gläubigen sei schon in diesem Leben vollkommen, oder wir müssen mit den
Katharern und Donatisten dazu kommen, keinerlei Schwachheit in der Kirche zu ertragen. Die andere
Stelle (1. Tim. 3,15) hat, wie wir anderwärts gesehen haben (vgl. Kap. 2, Sektion 1), einen völlig
anderen Sinn, als sie ihr geben wollen. Paulus hat da nämlich zuvor den Timotheus belehrt und zum
rechten Amt eines Bischofs unterwiesen, und jetzt (1. Tim. 3,14f.) sagt er, er habe das zu dem Zweck
getan, daß Timotheus nun wüßte, wie er in der Kirche "wandeln" sollte. Und damit sich nun
Timotheus mit um so größerer Ehrfurcht und um so größerem Eifer dafür einsetzt, fügt Paulus
hinzu, die Kirche selbst sei "ein Pfeiler und eine Grundfeste der Wahrheit". Was sollen nun aber
diese Worte anders bedeuten, als daß in der Kirche die Wahrheit Gottes gewahrt wird, nämlich durch
das Predigtamt? So lehrt er auch an anderer Stelle, Christus habe Apostel, Hirten und Lehrer
gegeben, damit wir uns nicht mehr von jeglichem "Wind der Lehre" umtreiben oder von den Menschen
zu Narren halten lassen, sondern vielmehr, von der wahren Erkenntnis des Sohnes Gottes erleuchtet,
alle miteinander zur Einheit des Glaubens herzueilen (Eph. 4,1-11). Daß also die Wahrheit in der
Welt nicht ausgelöscht wird, sondern unversehrt erhalten bleibt, das kommt daher, daß sie zu ihrer
getreuen Hüterin die Kirche hat, durch deren Arbeit und Dienst sie getragen wird. Wenn aber diese
Wacht im prophetischen und apostolischen Amte gelegen ist, dann ergibt sich, daß sie voll und ganz
davon abhängt, ob das Wort des Herrn treu bewahrt wird und seine Reinheit behält.
IV,8,13 Damit nun die Leser besser begreifen, um welchen Angelpunkt sich
diese Frage vor allem dreht, so will ich mit wenigen Worten auseinandersetzen, was unsere
Widersacher verlangen und in was wir uns ihnen widersetzen. Wenn sie behaupten, die Kirche könne
nicht irren, so geht das auf folgendes hinaus, und sie legen es folgendermaßen aus: da die Kirche
durch den Geist Gottes geleitet wird, so kann sie mit Sicherheit ohne das Wort ihren Weg gehen;
wohin sie auch gehen mag, so kann sie nichts denken oder reden als die Wahrheit; wenn sie also
außerhalb des Wortes Gottes oder über dasselbe hinaus etwas festsetzt, so ist das für nichts
anderes anzusehen als für einen untrüglichen Offenbarungsspruch Gottes. Wenn wir ihnen nun jenen
ersten Satz zugeben, nämlich daß die Kirche in solchen Dingen, die zum Heil notwendig sind, nicht
irren kann, so ist unsere Meinung die, daß dies darum gilt, weil sie aller eigenen Weisheit den
Abschied gibt und sich vom Heiligen Geist durch das Wort Gottes unterweisen läßt. Der Unterschied
besteht also in folgendem: unsere Widersacher stellen die Autorität der Kirche außerhalb des
Wortes Gottes, wir dagegen wollen, daß sie an das Wort gebunden sei, und wir dulden es nicht, daß
sie von ihm getrennt wird. Was soll auch Verwunderliches daran sein, wenn die Braut und Schülerin
Christi ihrem Bräutigam und Meister unterstellt wird, um beständig und fleißig an seinem Munde zu
hängen? Denn in einem wohleingerichteten Hause ist es so bestellt, daß die Frau dem Gebot ihres
Mannes gehorcht, und in einer wohlgeordneten Schule herrscht die Regel, daß darin allein die
Unterweisung des Meisters gehört werde. Darum soll die Kirche nicht aus sich selbst heraus weise
sein, nicht aus sich heraus etwas denken, sondern sie soll ihrer Weisheit eine Grenze setzen, wo er
seinem Reden ein Ende gesetzt hat. Auf diese Weise wird sie auch allen Fündlein ihrer eigenen
Vernunft mit Mißtrauen begegnen, in den Dingen aber, in denen sie sich auf Gottes Wort stützt,
wird sie sich von keinem Mangel an Vertrauen und keinem Zagen ins Wanken bringen lassen, sondern sie
wird sich mit großer Gewißheit und fester Beständigkeit darauf verlassen. So wird sie auch auf
die Größe der Verheißungen, die sie besitzt, vertrauen und sie wird darin Anlaß finden, um ihren
Glauben herrlich zu erhalten, so daß sie nicht im geringsten zweifelt, daß ihr der Heilige Geist,
der beste Führer auf dem rechten Wege, allezeit zur Seite stehen wird. Aber sie wird zugleich im
Gedächtnis behalten, welchen Nutzen wir nach Gottes Willen von seinem Geiste empfangen sollen. "Der
Geist", spricht der Herr, "den ich vom Vater senden werde, der soll euch in alle Wahrheit leiten"
(Joh. 16,7.13; Anfang ungenau). Aber wie wird er das machen? "Denn er wird euch", so sagt er,
"erinnern alles des, das ich euch gesagt habe" (Joh. 14,26). Er tut uns also kund, daß wir von
seinem Geiste nichts mehr erwarten sollen, als daß er unseren Verstand erleuchte, damit wir die
Wahrheit seiner Lehre erfassen. Es ist daher sehr trefflich geredet, wenn Chrysostomus sagt: "Viele
rühmen sich des Heiligen Geistes, aber die ihre eigenen Dinge reden, die berufen sich fälschlich
auf ihn. Wie Christus nach seinem Zeugnis nicht aus sich selbst heraus redete, weil er eben aus dem
Gesetz und aus den Propheten heraus redete, so sollen wir auch nicht glauben, wenn man uns etwas
außerhalb des Evangeliums unter Berufung auf den Geist aufdrängen will. Denn wie Christus die
Erfüllung des Gesetzes und der Propheten ist, so ist der Geist die Erfüllung des Evangeliums"
(Pseudo-Chrysostomus, Predigt über den Heiligen Geist,10; vgl. Joh. 12,49f.; 14,10; Röm. 10,4).
Soweit Chrysostomus. Jetzt läßt sich ohne weiteres entnehmen, wie verkehrt unsere Widersacher
handeln, die sich des Heiligen Geistes allein zu dem Zweck rühmen, um unter seinem Namen solche
Lehren anzupreisen, die dem Worte Gottes fremd sind und außer ihm stehen, während der Heilige
Geist doch selber ein unzertrennliches Band mit dem Worte Gottes verbunden sein will und Christus
dies von ihm bezeugt, als er ihn seiner Kirche verheißt. Ja, so verhält es sich. Die maßvolle
Nüchternheit, die der Herr seiner Kirche einmal zur Vorschrift gemacht hat, will er auch fort und
fort gewahrt wissen. Er hat aber verboten, daß sie seinem Wort etwas zufügt oder etwas von ihm
wegnimmt. Das ist Gottes und des Heiligen Geistes unverletzlicher Beschluß – und den versuchen
unsere Widersacher umzustoßen, indem sie so tun, als ob die Kirche ohne das Wort vom Heiligen
Geiste regiert würde.
IV,8,14 Hier erheben sie nun abermals murrenden Einspruch: die Kirche habe
den Schriften der Apostel manches hinzufügen müssen oder die Apostel selbst seien genötigt
gewesen, hernach mündlich zu vervollständigen, was sie (in schriftlicher Form) weniger deutlich
überliefert hätten; denn Christus habe doch zu ihnen gesagt: "Ich habe euch noch viel zu sagen;
aber ihr könnet es jetzt nicht tragen" (Joh. 16,12); eben dies aber seien die Lehrsatzungen, die
ohne die Heilige Schrift, allein durch den Gebrauch und die Gewöhnung zur Annahme gekommen seien.
Aber was ist das nun für eine Unverschämtheit! Ich gebe allerdings zu: als die Jünger jenes Wort
zu hören bekamen, da waren sie noch unkundig und fast ungelehrig. Aber waren sie auch noch zu der
Zeit, als sie ihre Lehre schriftlich niederlegten, mit solcher Schwerfälligkeit behaftet, daß sie
es hernach notwendig hatten, mündlich zu vervollständigen, was sie in ihren Schriften aus
Unwissenheit ausgelassen hatten? Wenn sie aber bereits von dem Geiste der Wahrheit geleitet waren,
als sie ihre Schriften ausgaben – was stand dann im Wege, daß sie etwa nicht eine vollkommene
Erkenntnis der Lehre des Evangeliums in jenen Schriften zusammengefaßt und dann versiegelt
hinterlassen hätten? Aber wohlan, wir wollen ihnen zugeben, was sie begehren – sie sollen nur die
Dinge aufweisen, die ohne schriftliche Niederlegung offenbart werden mußten! Wenn sie nun das zu
unternehmen wagen, dann will ich ihnen mit den Worten Augustins begegnen, der da sagt: "Wo der
Herr geschwiegen hat – wer von uns will da sagen: das oder das ist es? Oder wenn er es wagt, das zu
sagen – woher will er es beweisen?" (Predigten zum Johannesevangelium 96,2). Aber was streite ich
hier um eine überflüssige Sache? Denn es weiß doch selbst ein Kind, daß uns in den apostolischen
Schriften, die jene Leute gewissermaßen verstümmelt und halbiert sein lassen wollen, die Frucht
jener Offenbarung entgegentritt, die der Herr damals (Joh. 16,12) seinen Jüngern verheißen hat.
IV,8,15 Wieso, sagen sie – hat denn Christus nicht alles, was die Kirche
lehrt und entscheidet, jeder Erörterung entzogen, indem er die Weisung gibt, man solle den, der
(ihr) zu widersprechen wagte, für einen "Heiden und Zöllner" halten (Matth. 18,17)? Zunächst:
an dieser Stelle ist keine Rede von der Lehre, sondern es empfängt nur die (kirchliche) Zuchtübung
die Sicherung ihrer Autorität zwecks Bestrafung von Vergehen, und das geschieht, damit die, die
ermahnt oder getadelt worden sind, sich nicht etwa ihrem Urteil widersetzen. Aber lassen wir das
beiseite – es ist doch sehr verwunderlich, daß diese Schwätzer so gar keine Scham haben, so daß
sie sich nicht scheuen, selbst diese Stelle zu ihrem Übermut zu benutzen. Denn was können sie
damit schließlich beweisen, als daß man die einhellige Überzeugung der Kirche nicht verachten
soll, der Kirche, die doch allein auf die Wahrheit des Wortes Gottes hin zusammenstimmt? Man muß
die Kirche hören, so sagen sie. Wer leugnet das denn? Denn die Kirche tut keinen Ausspruch als
allein aus des Herrn Wort heraus! Verlangen unsere Widersacher irgend etwas mehr, dann müssen sie
wissen, daß ihnen diese Worte Christi dabei keinen Beistand tun. Ich darf auch nicht streitsüchtig
scheinen, weil ich mit solcher Schärfe darauf bestehe, daß es der Kirche nicht erlaubt ist,
irgendeine neue Lehre zu begründen, das heißt: mehr zu lehren und als Offenbarungswort zu
überliefern, als was der Herr in seinem Wort geoffenbart hat. Denn verständige Menschen sehen
wohl, was für eine große Gefahr entsteht, wenn man den Menschen einmal soviel Recht zugestanden
hat. Sie sehen auch, was für ein großes Fenster dem Gespött und den Sticheleien der Gottlosen
aufgetan wird, wenn wir behaupten, es sei das, was Menschen für richtig gehalten haben, unter den
Christen für ein Offenbarungswort zu halten. Zudem muß man beachten, daß Christus, nach dem
Brauch seiner Zeit redend, (an der obigen Stelle, Matth. 18,17) diesen Namen ("Kirche" oder "Gemeinde")
dem (damaligen, örtlichen) Synedrium beilegt, damit seine Jünger es lernten, hernach die heiligen
Zusammenkünfte der Kirche zu ehren. So würde es denn (wenn die Widersacher mit ihrer Beziehung
dieser Stelle auf die Lehre recht hätten) dazu kommen, daß jede Stadt und jedes Dorf die gleiche
Freiheit hätte, Lehrsatzungen aufzustellen!
IV,8,16 Die Beispiele, die unsere Widersacher gebrauchen, helfen ihnen
nichts. So sagen sie, die Kindertaufe sei nicht so sehr aus einer offenen Weisung der Schrift als
aus einem Beschluß der Kirche hervorgegangen. Aber es wäre eine höchst jämmerliche Zuflucht,
wenn wir genötigt würden, uns zur Verteidigung der Kindertaufe auf die bloße Autorität der
Kirche zurückzuziehen; es wird jedoch an anderer Stelle genugsam deutlich werden, daß es sich weit
anders verhält (vgl. Kap. 16). Ebenso steht es mit ihrem Einwand: was man in der Synode von Nicäa
ausgesprochen habe, nämlich daß der Sohn gleichen Wesens mit dem Vater ist, das stehe nirgendwo in
der Schrift. Damit sprechen sie gegen die Väter eine schwere Beleidigung aus, als ob sie den Arius
ohne Grund verdammt hätten, weil er nicht auf ihre Worte hätte schwören wollen, während er doch
die ganze Lehre bekannt hätte, die in den prophetischen und apostolischen Schriften beschlossen
ist. Ich gebe zwar zu, daß sich dieser Ausdruck ("gleichen Wesens mit dem Vater") in der
Schrift nicht findet. Aber es wird doch so oft in der Schrift ausgesprochen, daß ein Gott ist, und
wiederum wird Christus so oft wahrer und ewiger Gott genannt, eins mit dem Vater; wenn nun die
Väter von Nicäa erklären, Christus sei eines Wesens mit dem Vater, was tun sie dann anders, als
daß sie den ursprünglichen Sinn der Schrift schlicht auslegen? Und dazu berichtet Theodoret, daß
Konstantin in ihrer Versammlung folgende Vorrede gehalten habe: "In Erörterungen über göttliche
Dinge hat man die Lehre des Heiligen Geistes als bindende Vorschrift; die evangelischen und
apostolischen Bücher samt den Offenbarungsworten der Propheten zeigen uns völlig klar den Sinn der
Gottheit. Deshalb wollen wir die Zwietracht ablegen und aus den Worten des Geistes die Klärung
unserer Fragen entnehmen" (Theodoret Kirchengeschichte I,7). Es war damals niemand da, der sich
diesen heiligen Ermahnungen widersetzt hätte. Niemand machte den Einwand, die Kirche könne aus dem
Ihrigen heraus etwas zufügen, der Heilige Geist habe den Aposteln nicht alles geoffenbart oder
wenigstens nicht alles auf ihre Nachfolger kommen lassen, oder sonst dergleichen. Wenn das wahr ist,
was unsere Widersacher wollen, dann hat erstens Konstantin verkehrt gehandelt, daß er die Kirche
ihrer Macht beraubt hat, zweitens war, da sich damals keiner von den Bischöfen erhob, um die Macht
der Kirche dagegen zu verteidigen, dieses Stillschweigen ein Zeichen von Treulosigkeit, und so waren
also die Bischöfe Verräter des kirchlichen Rechtes! Da aber Theodoret berichtet, daß sie das, was
der Kaiser sagte, gern angenommen haben, so steht fest, daß dieses neue Dogma damals ganz und gar
unbekannt gewesen ist.
Von den Konzilien und ihrer Autorität
IV,9,1 Selbst wenn ich nun den Römischen bezüglich der Kirche alles zugäbe,
so hätten sie auch damit für ihren Zweck noch nicht viel erreicht. Denn alles, was man von der
Kirche sagt, das übertragen sie alsbald auf die Konzilien, die nach ihrer Meinung die Kirchen
vergegenwärtigen (repraesentare). Ja, daß sie so hartnäckig um die Vollmacht der Kirche streiten,
das tun sie aus keiner anderen Absicht, als um alles und jedes, was sie dabei errungen haben, dem
römischen Papst und seinem Trabantenschwarm zu eigen zu geben. Bevor ich aber diese Frage zu
erörtern beginne, muß ich einleitend zweierlei kurz aussprechen. (1) Wenn ich hier recht scharf
sein werde, so geschieht das nicht etwa, weil ich die alten Konzilien geringer einschätze, als es
sich gebührt. Denn ich verehre sie von Herzen, und ich wünsche, daß sie bei allen Menschen die
ihnen zukommende Ehre empfangen. Aber es besteht hier ein Maß, nämlich dies, daß Christus nichts
benommen werden darf. Christi Recht ist nun aber dies, daß er in allen Konzilien die Leitung und in
solcher Würde keinen Menschen zum Mitgenossen habe. Er hat aber, so behaupte ich, nur dann die
Leitung, wenn er die ganze Versammlung mit seinem Wort und seinem Geist regiert. (2) Und dann: daß
ich den Konzilien weniger Rechte zuerkenne, als unsere Widersacher verlangen, das tue ich nicht aus
dem Grunde, daß ich etwa vor den Konzilien Angst hätte, als ob sie der Sache unserer Widersacher
Beistand gewährten, der unseren aber entgegenstünden. Denn wie wir zum vollen Beweis für unsere
Lehre und zum Umsturz des ganzen Papsttums mehr als genug mit dem Worte des Herrn ausgerüstet sind,
so daß es nicht besonders darauf ankommt, darüber hinaus etwas zu suchen, so geben uns doch, wenn
es die Sache erfordert, die alten Konzilien weitgehend Stoff an die Hand, der zu beidem genug ist.
IV,9,2 Nun wollen wir über die Sache selbst reden. Wenn man aus der Schrift
erfahren will, welche Autorität die Konzilien besitzen, so gibt es keine herrlichere Verheißung,
als sie uns in dem Wort Christi begegnet: "Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da
bin ich mitten unter ihnen" (Matth. 18,20). Freilich, das bezieht sich ebensosehr auf irgendeine
besondere (d.h. örtliche) Versammlung als auf ein allgemeines Konzil. Doch liegt der Knoten der
Frage nicht darin, sondern vielmehr in der zugefügten Bedingung, nach der Christus nur dann
inmitten des Konzils sein wird, wenn es in seinem Namen versammelt ist. Wenn sich also unsere
Widersacher auch tausendmal auf ihre Bischofskonzilien berufen, so werden sie damit wenig
vorankommen, und sie werden es erst dann zuwege bringen, daß wir ihnen glauben, was sie behaupten,
nämlich daß diese Konzilien vom Heiligen Geist regiert würden, – wenn sie uns bewiesen haben,
daß diese auch in Christi Namen versammelt werden. Denn es kann ebensogut sein, daß sich gottlose
und böse Bischöfe gegen Christus zusammenrotten, wie daß sich gute und rechtschaffene in seinem
Namen versammeln. Dafür dienen uns sehr viele Beschlüsse, die von solchen Konzilien ausgegangen
sind, zum klaren Beweis. Aber das werden wir später noch sehen. Jetzt gebe ich nur mit einem
einzigen Wort die Antwort, daß Christus nur denen etwas verheißt, die sich in seinem Namen
versammeln. Wir wollen also feststellen, was das heißt. Ich bestreite, daß sich die in Christi
Namen versammeln, die Gottes Gebot verwerfen, in dem er untersagt, daß man zu seinem Worte irgend
etwas zufüge oder etwas davon tue (Deut. 4,2; Apk. 22,18f.), die dann nach ihrem eigenen Gutdünken
das eine oder andere festsetzen, die sich mit den Offen-barungsworten der Schrift, das heißt mit
der einigen Richtschnur vollkommener Weisheit, nicht zufrieden geben und sich aus ihrem eigenen Kopf
heraus irgend etwas Neues ersinnen. Da Christus nicht verheißen hat, bei allen möglichen Konzilien
gegenwärtig zu sein, sondern vielmehr ein besonderes Kennzeichen zugefügt hat, um die wahren und
rechtmäßigen Konzilien von den anderen zu unterscheiden, so gebührt es sich jedenfalls, daß wir
diese Unterscheidung durchaus nicht vernachlässigen. Der Bund, den Gott vorzeiten mit den
levitischen Priestern geschlossen hat, bestand doch darin, daß sie ihre Unterweisung aus seinem
Munde heraus geben sollten (Mal. 2,7). Eben dies hat er allezeit von den Propheten verlangt, und wir
sehen, daß dieses Gesetz auch den Aposteln auferlegt worden ist. Die diesen Bund verletzen, die
würdigt Gott weder der Ehre des Priesteramtes noch irgendwelcher Autorität. Diesen Knoten sollen
mir die Widersacher auflösen, wenn sie meinen Glauben an Menschenmeinungen knechten wollen, die
außerhalb des Wortes Gottes stehen!
IV,9,3 Wenn nämlich unsere Widersacher der Meinung sind, die Wahrheit könne
nicht in der Kirche verbleiben, wofern sie nicht unter den Hirten ihren festen Bestand hätte, und
die Kirche selbst könne nicht bestehen, wenn sie nicht in allgemeinen Konzilien ans Licht träte,
so ist das bei weitem nicht allezeit wahr gewesen, wenn anders uns die Propheten wahrheitsgemäße
Zeugnisse über ihre Zeiten hinterlassen haben. Zur Zeit des Jesaja war in Jerusalem noch Kirche,
die Gott noch nicht verlassen hatte. Trotzdem redet er über die Hirten wie folgt: "Alle ihre
Wächter sind blind, sie wissen alle nichts; stumme Hunde sind sie, die nicht bellen können, sind
faul, liegen und schlafen gerne ... Sie, die Hirten, wissen noch verstehen nichts; ein jeglicher
sieht auf seinen Weg ..." (Jes. 56,10f.; nicht ganz Luthertext). In derselben Weise sagt Hosea:
"Der Wächter Israels mit Gott, er ist der Strick eines Vogelstellers und ein Greuel im Hause
Gottes" (Hos. 9,8; nicht Luthertext). Hier vergleicht der Prophet die "Wächter" ironisch mit
Gott und lehrt dadurch, daß ihr Vorwand, Priester zu sein, eitel ist. Auch bis in die Zeit des
Jeremia hinein währte die Kirche. Hören wir, was er von den Hirten sagt: "Beide, Propheten und
Priester gehen allesamt mit Lügen um" (Jer. 6,13). Ebenso: "Die Propheten weissagen Lüge in
meinem Namen; ich habe sie nicht gesandt und ihnen nichts befohlen" (Jer. 14,14; nicht ganz
Luthertext). Und damit wir uns mit der Aufzählung seiner Worte nicht gar zu sehr ins Weite
verlieren, lese man doch, was er im ganzen dreiundzwanzigsten und vierzigsten Kapitel geschrieben
hat. Zur gleichen Zeit fuhr Ezechiel von der anderen Seite keineswegs milder gegen die nämlichen
Leute los. "Die Propheten", sagt er, "so darin sind, haben sich gerottet, ... wie ein
brüllender Löwe, wenn er raubt ... Ihre Priester verkehren mein Gesetz freventlich und entheiligen
mein Heiligtum; sie halten unter dem Heiligen und Unheiligen keinen Unterschied ..." (Ez.
22,25f.). Dazu kommt dann das Weitere, das er in dem gleichen Sinne folgen läßt. Ähnliche Klagen
begegnen uns bei den Propheten immer wieder, so daß uns da nichts häufiger entgegentritt.
IV,9,4 Aber – so könnte jemand sagen – das mag wohl unter den Juden gegolten
haben, unsere Zeit aber ist doch von solch einem großen Übel frei. Ja, wollte Gott, es wäre so!
Der Heilige Geist aber hat angekündigt, daß es anders sein soll. Denn die Worte des Petrus sind
klar; "wie in dem alten Volke falsche Propheten gewesen sind", sagt er, "so werden auch unter
euch falsche Lehrer sein, die verderbliche Sekten neben einführen" (2. Petr. 2,1). Sieht man, wie
nach seiner Predigt die Gefahr nicht von den gewöhnlichen Leuten droht, sondern von solchen, die
sich des Titels von Lehrern und Hirten rühmen werden? Sieht man außerdem, wie oft Christus und
seine Apostel vorausgesagt haben, daß der Kirche die höchsten Gefahren von seiten ihrer Hirten
drohten (Matth. 24,11.24)? Ja, Paulus zeigt offen, daß der Antichrist seinen Sitz nirgendwo anders
als im Tempel Gottes haben wird (2. Thess. 2,4)! Damit gibt er zu erkennen, daß jene entsetzliche
Not, von der er an dieserStelle redet, nirgendwo anders herkommen wird als von solchen, die als
Hirten in der Kirche ihren Sitz haben werden. Und an anderer Stelle weist er nach, daß der Beginn
dieses großen Übels bereits (zu seiner Zeit) nahe bevorsteht. Denn in seiner Ansprache an die
Bischöfe von Ephesus sagt er: "Das weiß ich, daß nach meinem Abschied werden unter euch kommen
greuliche Wölfe, die der Herde nicht verschonen werden. Auch aus euch selbst werden aufstehen
Männer, die da verkehrte Lehren reden, die Jünger an sich zu ziehen" (Apg. 20,29f.). Wieviel
Verderbnis konnte unter den Hirten die lange Reihe der Jahre mit sich bringen, wenn sie bereits in
einem so geringen Zeitraum dermaßen entarten konnten! Und um nicht viele Blätter mit Aufzählungen
vollzuschreiben – wir werden durch Beispiele aus fast allen Jahrhunderten daran gemahnt, daß die
Wahrheit nicht allezeit im Busen der Hirten genährt wird und daß der unversehrte Bestand der
Kirche auch nicht von dem Zustande der Hirten abhängig ist. Sie sollten zwar die Verteidiger und
Hüter des kirchlichen Friedens und Heiles sein, zu deren Wahrung sie ja bestimmt sind – aber
Leisten, was man soll, und Sollen, was man nicht leistet, das sind zweierlei Dinge!
IV,9,5 Jedoch soll niemand diese unsere Worte in dem Sinne verstehen, als ob
ich die Autorität der Hirten ohne Ausnahme, ohne Überlegung und ohne jeglichen Unterschied ins
Wanken bringen wollte. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, daß man zwischen ihnen einen
Unterschied zur Geltung bringen muß, und zwar, damit wir die, die da Hirten heißen, nicht auch
gleich für solche halten! Wenn nun der Papst samt der ganzen Herde der Bischöfe Gottes Wort von
sich schütteln und nach ihrer Willkür alles umstürzen und verkehren, so handeln sie aus keiner
anderen Ursache heraus, als eben weil sie als Hirten bezeichnet werden; unterdessen aber bemühen
sie sich noch, uns zu überzeugen, daß sie des Lichtes der Wahrheit nicht verlustig gehen könnten,
daß der Geist Gottes unablässig unter ihnen wohne und daß die Kirche in ihnen ihren Bestand habe
und mit ihnen sterbe! Als ob der Herr keine Gerichte mehr hätte, um heutzutage mit der gleichen Art
von Strafe gegen die Welt vorzugehen, mit der er einst die Undankbarkeit des alten Volkes gerächt
hat, nämlich die Hirten mit Blindheit und Verstumpfung zu schlagen (Sach. 11,17)! Auch begreifen
diese Menschen in ihrer furchtbaren Torheit nicht, daß sie das gleiche Liedlein singen, das einst
die im Munde geführt haben, die mit dem Worte Gottes Krieg führten. Denn als sich die Feinde
Jeremias gegen die Wahrheit rüsteten, da taten sie es mit den Worten: "Kommt, lasset uns wider
Jeremia ratschlagen; denn dem Priester kann das Gesetz nicht entfallen noch der Rat dem Weisen, noch
das Wort dem Propheten" (Jer. 18,18; nicht Luthertext).
IV,9,6 Von hier aus läßt sich auch auf den anderen Punkt, der die
allgemeinen Konzilien betrifft, leicht eine Antwort geben. Daß die Juden unter den Propheten wahre
Kirche gehabt haben, das läßt sich nicht leugnen. Was für eine Gestalt der Kirche aber wäre in
die Erscheinung getreten, wenn man damals aus den Priestern ein allgemeines Konzil versammelt
hätte? Wir hören doch, was Gott nicht einem oder zweien von ihnen, sondern dem gesamten Stande
ansagt. So: "Die Priester werden bestürzt und die Propheten erschrocken sein" (Jer. 4,9). Oder
ebenso: "Es wird weder Gesetz bei den Priestern noch Rat bei den Alten mehr sein" (Ez. 7,26).
Oder endlich: "Darum soll euer Gesicht zur Nacht und euer Wahrsagen zur Finsternis werden. Die
Sonne soll über den Propheten untergehen und der Tag über ihnen finster werden" (Micha 3,6).
Nun, was für ein Geist hätte wohl in ihrer Versammlung die Leitung gehabt, wenn sie zu jener Zeit
alle an einem Ort zusammengekommen wären? Dafür haben wir ein ausgezeichnetes Beispiel an jenem
Konzil, das Ahab (1. Kön. 22) zusammenberief. Da waren vierhundert Propheten zugegen. Aber weil sie
mit keinem anderen Willen zusammengekommen waren als allein, um dem gottlosen König zu schmeicheln,
so wurde von dem Herrn der Satan ausgesandt, damit erein Geist der Lüge sei in ihrer aller Munde
(1. Kön. 22,22). Da wurde denn die Wahrheit mit den Stimmen aller verdammt, und Micha wurde als
Ketzer verurteilt, geschlagen und in das Gefängnis geworfen. Ebenso ist es dem Jeremia widerfahren,
ebenso auch anderen Propheten.
IV,9,7 Aber ein Beispiel, das denkwürdiger ist als die anderen, mag statt
aller anderen genug sein. Was sollte man an dem Konzil, das die Hohenpriester und Pharisäer in
Jerusalem gegen Christus zusammenberiefen (Joh. 11,47), noch zu wünschen übrig finden – wenigstens
was die äußere Erscheinung anbetrifft? Denn wenn damals in Jerusalem keine Kirche gewesen wäre,
so hätte Christus nie und nimmer an den Opfern und anderen Zeremonien teilgenommen. Es fand eine
feierliche Einberufung statt, der Hohepriester hatte die Leitung, der gesamte Priesterstand saß
dabei – und doch wurde Christus da verurteilt und seine Lehre aus dem Wege geräumt! Diese Tatsache
ist ein Beweis dafür, daß die Kirche keineswegs in dieses Konzil eingeschlossen gewesen ist. Aber,
so könnte jemand einwenden, es besteht doch keine Gefahr, daß uns etwas Derartiges widerfährt!
Wer hat uns das bewiesen? Denn wenn man in so wichtiger Sache allzu sorglos ist, so macht man sich
immerhin der Fahrlässigkeit schuldig. Ja, der Heilige Geist weissagt doch durch den Mund des Paulus
mit ausdrücklichen Worten, daß ein Abfall kommen wird (2. Thess. 2,3), und solcher Abfall kann
nicht kommen, wofern nicht die Hirten Gott zuerst verlassen. Wenn es so steht, weshalb sind wir denn
hier zu unserem eigenen Verderben mit Willen blind? Es ist also unter keinen Umständen zuzugeben,
daß die Kirche auf der Versammlung der Hirten beruhe; denn der Herr hat nirgendwo verheißen, daß
diese allezeit gut sein werden, wohl aber angekündigt, daß sie zu Zeiten böse sein sollen. Wo er
uns aber auf eine Gefahr aufmerksam macht, da tut er es, um uns vorsichtiger zu machen.
IV,9,8 Wieso nun, wird man sagen, sollen denn die Konzilien bei ihren
Beschlußfassungen gar keine Autorität haben? Aber gewiß doch! Denn es geht mir hier nicht darum,
daß alle Konzilien verdammt, alle ihre Verhandlungsergebnisse umgestoßen und, wie man sagt, mit
einem Federstrich ungültig gemacht werden sollten. Aber, so wird man sagen, du setzest ihnen doch
allen sehr enge Schranken, so daß es nun jeder frei in der Hand hat, das, was die Konzilien
beschlossen haben, anzunehmen oder zu verwerfen. Durchaus nicht! Aber sooft man den Beschluß
irgendeines Konzils vorbringt, möchte ich, daß man zunächst gründlich erwägt, zu welcher Zeit
es gehalten worden ist, aus welchem Grunde und mit welcher Absicht man es gehalten hat und was für
Leute dabei waren. Alsdann soll man, das möchte ich weiter, den Gegenstand, um den es sich handelt,
nach dem Richtmaß der Schrift prüfen, und das soll in der Weise vor sich gehen, daß die
Entscheidung des Konzils ihr Gewicht hat und als vorläufiges Urteil (plaeiudicium) gilt, aber doch
die Prüfung, von der ich sprach, nicht hindert. Wenn doch alle das Verfahren beobachteten, das
Augustin im dritten Buche (seiner Schrift) gegen Maximinus vorzeichnet! Er will nämlich diesen
Ketzer, der über die Beschlüsse der Synoden Streit führt, kurz zum Schweigen bringen, und deshalb
sagt er: "Weder darf ich dir die Synode von Nicäa, noch darfst du mir die Synode von Ariminum
(359) vorhalten, um etwa damit ein Vorurteil zu fällen. Ich bin nicht durch die Autorität der
letzteren, du nicht durch die der ersteren gebunden. Nein, es soll Sache gegen Sache, Angelegenheit
gegen Angelegenheit, Begründung gegen Begründung streiten, und zwar auf Grund der mit Autorität
ausgerüsteten Aussagen der Schrift, die also nicht der einzelne für sich allein hat, sondern die
uns beiden gemeinsam sind" (Gegen Maximinus, Buch II,14,3).Wenn man es so machte, dann würde es
dazu kommen, daß die Konzilien die ihnen gebührende Majestät erhielten, die Schrift aber
unterdessen an einem höheren Platz stünde und den Vorrang hätte, so daß es nichts gäbe, das
ihrer Richtschnur nicht unterworfen würde. So nehmen wir die alten Synoden, wie die zu Nicäa, zu
Konstantinopel, die erste Synode zu Ephesus, die Synode von Chalcedon und ähnliche, die zur
Widerlegung von Irrtümern gehalten worden sind, gern an, wir verehren sie als heilig, soweit es die
Glaubenssätze betrifft; denn sie enthalten nichts als eine reine und ursprüngliche Auslegung der
Schrift, die die heiligen Väter in geistlicher Weisheit dazu angewendet haben, die Feinde der
Religion, die sich damals erhoben hatten, zu überwinden. Auch in manchen späteren Synoden sehen
wir wahren Eifer der Frömmigkeit aufleuchten, dazu auch unverkennbare Zeichen von Verstand,
Gelehrsamkeit und Weisheit. Aber wie die Dinge im allgemeinen schlimmer zu werden und in Verfall zu
geraten pflegen, so kann man auch aus den späteren Konzilien ersehen, wie sehr die Kirche allgemach
von der Lauterkeit jenes goldenen Zeitalters abgekommen ist. Ich zweifle nun nicht daran, daß die
Konzilien auch in diesen verdorbeneren Zeiten ihre besser gearteten Bischöfe gehabt haben. Aber mit
diesen Konzilien ist eben das vorgegangen, wovon in den römischen Senatsbeschlüssen die Senatoren
selbst klagen, daß es nicht recht geschehe. Denn da man die Stimmen zählt und nicht wägt, so ist
notwendig häufiger der bessere Teil von dem größeren überstimmt worden. Auf jeden Fall haben
diese Konzilien viele gottlose Meinungen vorgebracht. Es ist auch hier nicht nötig, Beispiele zu
sammeln; denn das würde viel zu weit führen, und andere haben es auch so gründlich besorgt, daß
man nicht mehr viel zufügen kann.
IV,9,9 Was soll ich weiter aufzählen, wie Konzilien mit Konzilien im Streite
gelegen haben? Es besteht auch kein Grund, daß mir jemand murrend den Einwurf macht, von diesen
Konzilien, die miteinander im Widerspruch stehen, sei eben das eine oder das andere nicht
rechtmäßig. Denn woher sollen wir darüber eine Meinung gewinnen? Doch daher, wenn ich mich nicht
täusche, daß wir auf Grund der Schrift zu dem Urteil kommen, daß die Beschlüsse des betreffenden
Konzils nicht rechtgläubig sind. Denn das ist das einzige sichere Gesetz für eine solche
Unterscheidung. Es ist jetzt ungefähr neunhundert Jahre her, daß die Synode zu Konstantinopel
(754), die unter dem Kaiser Leo zusammenberufen worden war, den Beschluß faßte, es sollten die in
den Kirchengebäuden aufgestellten Bilder umgeworfen und zerbrochen werden. Kurz nachher beschloß
das Konzil zu Nicäa (787), das Irene jenem ersten Konzil zum Trotz einberufen hatte, die Bilder
sollten wiederhergestellt werden. Welches von den beiden sollen wir nun als rechtmäßig anerkennen?
Im allgemeinen hat sich das letztere durchgesetzt, das den Bildern in den Kirchengebäuden einen
Platz gegeben hat. Augustin dagegen erklärt, daß dies nicht geschehen kann ohne die unmittelbarste
Gefahr der Abgötterei! Und Epiphanius, der zu noch früherer Zeit lebte, redet noch viel schärfer:
er lehrt nämlich, es sei frevlerisch und ein Greuel, daß man in der Kirche von Christen Bilder
anschauen sollte. Wenn nun diese Männer, die so geredet haben, heute noch lebten – würden die wohl
jenes Konzil anerkennen? Wenn nun die Geschichtsschreiber die Wahrheit berichten und wenn man den
niedergelegten Verhandlungsergebnissen selber Glauben schenkt, so hat man auf dieser Synode nicht
nur die Bilder selbst, sondern auch ihre Verehrung anerkannt. Es liegt aber auf der Hand, daß ein
solcher Beschluß vom Satan stammt! Was sollen wir aber dazu sagen, daß diese Männer durch ihre
Verkehrung und Zerreißung der ganzen Schrift offen zu erkennen geben, daß sie sich über sie
lustig machen? Eben dies aber habe ich oben (vgl. Buch I, Kap. 11) mehr als zureichend deutlich
gemacht. Wie dem auch sei, wir werden zwischen den einander widersprechenden und verschieden
lehrenden Synoden, deren es viele gegebenhat, nur dann unterscheiden können, wenn wir sie alle mit
jener Waage der Menschen und Engel nachprüfen, von der ich gesprochen habe, nämlich mit dem Wort
des Herrn. So nehmen wir die Synode zu Chalcedon an und verwerfen die zweite Synode zu Ephesus, weil
in dieser die Gottlosigkeit des Eutyches bestätigt wurde, die jene andere (die Synode zu Chalcedon)
verdammt hat. Das Urteil über diese Sache haben die heiligen Männer ausschließlich auf Grund der
Schrift gefällt, und wir folgen ihnen in unserem Urteilen dergestalt, daß Gottes Wort, das ihnen
vorangeleuchtet hat, auch uns nun voranleuchtet. Nun sollen die Römischen hingehen und nach ihrer
Gewohnheit den Anspruch erheben, an ihre Konzilien sei der Heilige Geist geheftet und festgebunden!
IV,9,10 Allerdings bleibt auch bei jenen alten, reineren Konzilien noch
manches mit Recht auszusetzen, sei es, weil die sonst gelehrten und verständigen Männer, die
damals dabei waren, infolge ihrer vielseitigen Inanspruchnahme durch die gegenwärtigen
Angelegenheiten vieles andere nicht vorhersahen, sei es, weil sie bei ihrer Beschäftigung mit
schwereren und ernsteren Dingen manche Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung
beiseiteließen, sei es, weil sie einfach als Menschen durch Unkundigkeit getäuscht werden konnten,
oder sei es auch, weil sie sich aus allzu großer innerer Bewegung heraus dann und wann zu
vorschnellem Handeln hinreißen ließen. Das letztere scheint das schwerste von allem zu sein, und
dafür gibt es ein hervorragendes Beispiel bei der Synode zu Nicäa (325), deren Würde, wie sie es
verdiente, einhellig mit höchster Ehrerbietung anerkannt worden ist. Da war doch der wichtigste
Artikel unseres Glaubens in Gefahr, da war Arius, der Feind, zum Kampfe gerüstet zugegen, und man
mußte mit ihm handgemein werden; in solcher Lage aber kam es in höchstem Maße auf die Eintracht
derer an, die in der Bereitschaft gekommen waren, den Irrtum des Arius zu bekämpfen; aber obwohl es
so stand, so vergaßen diese doch sorglos diese großen Gefahren, ja, sie ließen geradezu allen
Ernst, alle Bescheidenheit und alle Menschlichkeit fahren, sie schlugen sich den Kampf, den sie
unmittelbar zu führen hatten – gerade als ob sie mit der festen Absicht hergekommen wären, dem
Arius zu Gefallen zu sein! -, aus dem Kopf und begannen, sich über inneren Streitigkeiten zu
entzweien und die Feder, die sie gegen Arius hätten zücken sollen, wider sich selbst zu richten;
schändliche Beschuldigungen gab es zu hören, Anklageschriften flogen daher, und die Streitereien
hätten wohl kein Ende gefunden, ehe sich diese Männer gegenseitig durch Verwundungen
niedergestreckt hätten, wenn sich nicht der Kaiser Konstantin ins Mittel gelegt hätte, der
erklärte, die Untersuchung über ihren Lebenswandel sei eine Sache, die über seine Zuständigkeit
hinausginge, und solche Ungezügeltheit mehr mit Lobworten als mit Tadel züchtigte. In wievieler
Hinsicht sind aller Wahrscheinlichkeit nach auch die anderen Konzilien, die später gefolgt sind,
ausgeglitten! Das bedarf auch keines langen Nachweises; denn wenn jemand die Akten durchliest, so
wird er da viele Schwachheiten bemerken – um kein schlimmeres Wort zu gebrauchen!
IV,9,11 Auch der römische Bischof Leo (I.) trägt kein Bedenken, der Synode
von Chalcedon Ehrsucht und unberatene Leichtfertigkeit vorzuwerfen, obwohl er zugibt, daß sie in
den Glaubenssätzen rechtgläubig war. Er leugnet zwar nicht, daß sie rechtmäßig ist, aber er
behauptet offen, daß sie hat irren können. Vielleicht komme ich jemandem töricht vor, daß ich
Mühe daran wende, derartige Irrtümer aufzuweisen, wo doch unsere Widersacher zugeben, daß die
Konzilien in solchen Dingen irren können, die zum Heil nicht notwendig sind. Aber diese Mühe ist
doch nicht überflüssig. Denn unsere Widersacher machen zwar mit Worten gezwungenermaßen jenes
Zugeständnis; da sie uns aber trotzdem den Beschluß aller Konzilien in jeder beliebigen Sache und
ohne jeden Unterschied als Offenbarungswort des Heiligen Geistes aufdringen, so fordern sie eben
mehr, als sie sich im Anfang herausgenommen haben. Was behaupten sie aber mit dieser Handlungsweise
anders,als daß die Konzilien nicht irren können oder daß es, wofern sie irren, doch unerlaubt
ist, die Wahrheit zu sehen oder den Irrtümern nicht zuzustimmen? Ich habe nun nichts anderes im
Sinne, als daß man eben aus solchen Irrtümern folgern kann: der Heilige Geist hat die im übrigen
frommen und heiligen Synoden zwar regiert, aber doch so, daß er es, damit wir unser Vertrauen nicht
gar zu sehr auf Menschen setzen, wohl zuließ, daß ihnen ab und an etwas Menschliches widerfuhr.
Diese Ansicht ist viel besser als die des Gregor von Nazianz, er habe noch nie gesehen, daß ein
Konzil gut ausgegangen sei (Brief 130). Denn wenn jemand behauptet, sie seien alle ohne Ausnahme
übel ausgegangen, so läßt er ihnen nicht viel Autorität übrig. Die Provinzialkonzilien noch
besonders zu erwähnen, ist nicht mehr erforderlich; denn von den allgemeinen her läßt sich leicht
ein Urteil darüber gewinnen, wieviel Autorität sie haben dürfen, um Glaubensartikel aufzustellen
und irgendeine ihnen gut scheinende Art der Lehre anzunehmen.
IV,9,12 Aber wenn unsere Römischen den Eindruck gewinnen, daß ihnen bei der
Verteidigung ihrer Sache alle Stützen, die in vernünftigen Beweisen bestehen könnten,
dahinsinken, dann ziehen sie sich auf eine äußerste, jämmerliche Ausflucht zurück: sie erklären
selbst, wenn sie nach Verstand und Rat ganz dumm, nach Herz und Willen ganz nichtsnutzig wären, so
bliebe doch das Wort des Herrn bestehen, das uns gebietet, den Oberen zu gehorchen (Hebr. 13,17).
Aber steht es denn so? Was soll denn geschehen, wenn ich behaupte, daß Menschen, die von solcher
Art sind, gar keine Oberen sind? Denn sie dürfen sich nicht mehr anmaßen, als Josua besessen hat,
der doch ein Prophet des Herrn und dazu ein ausgezeichneter Hirte war. Hören wir aber, mit was für
Worten er von dem Herrn in sein Amt eingeführt wird! "Laß das Buch dieses Gesetzes", so
spricht der Herr, "nicht von deinem Munde kommen, sondern betrachte es Tag und Nacht. Weiche nicht
davon, weder zur Rechten noch zur Linken. Dann wirst du deinen Weg recht richten und ihn verstehen"
(Jos. 1,8.7; Schluß nicht Luthertext). "Geistliche Obere" sollen also für uns diejenigen sein,
die vom Gesetz des Herrn weder nach der einen noch nach der anderen Richtung abweichen. Wenn wir
aber die Lehre aller beliebigen Hirten ohne Zögern annehmen sollen – was hat es dann für einen
Zweck gehabt, daß wir so oft und so nachdrücklich von des Herrn Stimme ermahnt werden, nicht auf
die Rede der falschen Propheten zu hören? "Höret nicht", so spricht er durch Jeremia, "auf
die Worte der Propheten, die euch weissagen; denn sie lehren euch Trug und nicht aus des Herrn Munde"
(Jer. 23,16; nicht Luthertext). Oder ebenso: "Sehet euch vor vor den falschen Propheten, die in
Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe" (Matth. 7,15). Sollten wir
unterschiedslos die Lehre aller Hirten annehmen, so wäre es auch umsonst, daß uns Johannes mahnt,
die Geister zu prüfen, "ob sie aus Gott sind" (1. Joh. 4,1). Von dieser Prüfung werden nicht
einmal die Engel ausgenommen, geschweige denn der Satan mit seinen Lügen. Was bedeutet es aber,
wenn uns gesagt wird: "Wenn aber ein Blinder den anderen leitet, so werden sie beide in die Grube
fallen" (Matth. 15,14)? Gibt uns dies Wort nicht genugsam zu erkennen, daß eben viel daran liegt,
was für Hirten man hört, und daß man nicht unbedacht alle hören soll? Deshalb haben sie auch
keinen Anlaß, uns mit ihren Titeln zu schrecken, um uns in die Mitgenossenschaft an ihrer Blindheit
hineinzuziehen; denn wir sehen auf der anderen Seite, daß der Herr besondere Sorgfalt daran wendet,
uns Furcht davor einzujagen, daß wir uns von einem fremden Irrtum leiten lassen, unter was für
einem Decknamen er auch verborgen sein mag! Denn wenn Christi (obige) Antwort (Matth. 15,14) wahr
ist, dann können jedwede blinden Führer, seien sie nun Vorsteher oder Oberste oder Päpste
genannt, nichts anderes fertigbringen, als ihre Mitgenossen mit sich in den gleichen Abgrund
hineinzustürzen. Deshalb sollen uns keine Namen vonKonzilien, Hirten oder Bischöfen – die man ja
ebenso gut fälschlich vorwenden wie in Wahrheit führen kann – daran hindern, daß wir uns von den
Beweisen warnen lassen, die uns Worte wie Tatsachen bieten, und alle Geister aller Menschen nach der
Richtschnur des göttlichen Wortes prüfen, um festzustellen, ob sie aus Gott sind.
IV,9,13 Da wir nun bewiesen haben, daß der Kirche nicht die Vollmacht
gegeben ist, eine neue Lehre aufzurichten, so wollen wir jetzt von der Vollmacht sprechen, die ihr
die Römischen bei der Auslegung der Schrift beimessen. Wir geben gewiß gerne zu, daß, falls über
irgendeinen Glaubenssatz ein Streit vorkommt, kein besseres und zuverlässigeres Mittel dagegen
besteht, als wenn eine Synode von wahren Bischöfen zusammentritt, damit auf ihr der strittige
Glaubenssatz gründlich erörtert wird. Denn (1) eine solche Entscheidung, zu der sich die Hirten
der Kirchen nach Anrufung des Geistes Christi alle miteinander einmütig zusammentun, wird viel mehr
Gewicht haben, als wenn jemand für sich allein zu Hause eine Entscheidung aufsetzte und sie dem
Volke vortrüge oder auch einige wenige amtlose Leute eine zusammenstellten. Ferner (2): wenn die
Bischöfe an einem Ort versammelt sind, so können sie mit größerer Leichtigkeit gemeinschaftlich
erwägen, was gelehrt werden soll und in welcher Gestalt, damit die Verschiedenheit kein Ärgernis
erzeugt. Und (3) drittens: dies ist das Verfahren, das Paulus für die Beurteilung von Lehren
vorschreibt. Denn indem er die Beurteilung den einzelnen Kirchen zuerkennt (1. Kor. 14,29), macht er
deutlich, welche Ordnung des Vorgehens in schwereren Fällen eintreten soll: da sollen nämlich die
Kirchen miteinander gemeinsam das Urteil in die Hand nehmen. Und das Empfinden der Frömmigkeit
selbst weist uns den Weg: wenn jemand die Kirche durch ein ungewohntes Dogma in Verwirrung bringt
und wenn die Verhältnisse dahin kommen, daß die Gefahr einer einigermaßen ernsten Zwistigkeit
besteht, so sollen die Kirchen zunächst zusammenkommen, dann sollen sie die vorgelegte Frage
prüfen, und schließlich sollen sie nach Abhaltung einer gehörigen Besprechung die aus der Schrift
genommene Entscheidung vorbringen, damit diese im Volke (d.h. in der Gemeinde) die Unsicherheit
behebt und nichtsnutzigen, parteisüchtigen Leuten den Mund stopft, so daß sie nicht mehr
weiterzugehen wagen. So wurde nach dem Auftreten des Arius die Synode von Nicäa einberufen, die mit
ihrer Autorität die frevlerischen Anschläge dieses gottlosen Menschen zerstörte, in den Kirchen,
die er in Unruhe versetzt hatte, den Frieden wiederherstellte und Christi ewige Gottheit gegen sein
gotteslästerliches Dogma behauptete. Als dann hernach Eunomius und Macedonius neue Wirren erregten,
da hat man das gleiche Mittel dagegen angewandt und ist ihrem Aberwitz durch die Synode von
Konstantinopel entgegengetreten. Auf dem Konzil zu Ephesus hat man die Gottlosigkeit des Nestorius
zu Boden geschlagen. Kurz, dies war von Anfang an in der Kirche die gewohnte Weise, die Einheit
aufrechtzuerhalten, so oft der Satan etwas ins Werk zu setzen begann. Aber wir müssen bedenken,
daß man nicht in allen Jahrhunderten und an allen Orten solche Männer findet wie Athanasius,
Basilius, Kyrill und andere Verteidiger der wahren Lehre, die der Herr damals erweckt hat. Ja, wir
wollen daran denken, was auf der zweiten Synode zu Ephesus sich zugetragen hat: da setzte sich die
Ketzerei des Eutyches durch, Flavian, ein Mann heiligen Angedenkens, wurde mit einer Anzahl frommer
Männer in die Verbannung geschickt, und noch viele Schandtaten dieser Art hat man beschlossen! Das
kam eben daher, daß dort Dioskur, ein parteisüchtiger und ganz übelgesinnter Mann, die Leitung
hatte, nicht aber der Geist des Herrn! Aber, so wird man einwerfen, da war doch nicht die Kirche.
Das gebe ich zu. Ich stelle nämlich grundsätzlich fest: die Wahrheit geht in der Kirche nicht
davon unter, daß sie wohl auch einmal von einem Konzil unterdrückt wird, sondern sie wird von dem
Herrn wunderbar erhalten, so daß sie zuihrer Zeit wieder hervorbricht und den Sieg behält. Dagegen
bestreite ich, daß es fort und fort so wäre, daß die Auslegung der Schrift, die durch die
Abstimmung eines Konzils angenommen ist, die wahre und sichere darstellte.
IV,9,14 Wenn dagegen die Römischen lehren, daß die Vollmacht zur Auslegung
der Schrift bei den Konzilien liegt und zwar ohne Berufungsmöglichkeit, so haben sie damit etwas
anderes im Auge (als es soeben ausgeführt wurde). Denn sie mißbrauchen diese Behauptung als
Deckfarbe, um alles, was in den Konzilien beschlossen worden ist, als Auslegung der Schrift zu
bezeichnen. Nun findet man vom Fegefeuer, von der Fürbitte der Heiligen, von der Ohrenbeichte und
dergleichen in der Schrift nicht eine einzige Silbe. Weil das nun aber alles durch die Autorität
der Kirche festgelegt, das heißt, um richtiger zu reden, durch Ansicht und Übung in Aufnahme
gekommen ist, so soll man jedes von diesen Lehrstücken als Auslegung der Schrift gelten lassen! Und
nicht nur dies, nein, wenn ein Konzil einen Beschluß gegen den Widerspruch der Schrift gefaßt hat,
so soll er doch den Namen einer "Auslegung" führen! Christus gebietet, daß alle aus dem Kelch
trinken, den er im Abendmahle darreicht (Matth. 26,26) – das Konzil von Konstanz dagegen verbot, ihn
dem Volke zu reichen, sondern wollte, daß nur der Priester daraus tränke! Was in dieser Weise in
genauem Gegensatz zur Einsetzung Christi steht, das soll nach dem Willen der Römischen für deren
Auslegung gehalten werden. Paulus nennt das Verbot des Ehestandes eine "Gleisnerei" böser
Geister (1. Tim. 4,1f.), und an anderer Stelle macht der Heilige Geist kund, daß der Ehestand bei
allen Ständen heilig und ehrbar ist (Hebr. 13,4). Daß aber die Römischen hernach den Priestern
die Ehe verboten haben, das wollen sie für die wahre und ursprüngliche Auslegung der Schrift
gehalten wissen, obwohl sich nichts erdenken läßt, das der Schrift fremder wäre. Wagt jemand
dagegen zu mucksen, so wird er als Ketzer beurteilt werden; denn gegen die Bestimmung der Kirche
gibt es keine Berufung, und es ist Sünde, an der von ihr gegebenen Auslegung zu zweifeln (und sich
zu fragen), ob sie auch wahr sei. Wozu soll ich gegen eine solche Unverschämtheit mit scharfen
Worten vorgehen? Es heißt doch bereits gewonnen zu haben, wenn man sie nachgewiesen hat! Die
Römischen sprechen in ihrer Lehre auch von einer Vollmacht (der Kirche), die Schrift zu
bestätigen; aber das lasse ich mit voller Überlegung beiseite. Denn wenn man auf diese Weise die
Offenbarungsworte Gottes der Prüfung von Menschen unterwirft, so daß sie also deshalb ihre
Gültigkeit hätten, weil sie den Menschen behagten, so ist das eine Gotteslästerung, die der
Erwähnung nicht wert ist; auch habe ich diesen Punkt bereits oben (vgl. Buch I, Kapitel 7)
berührt. Ich möchte den Römischen nur eine einzige Frage stellen: wenn die Autorität der Schrift
auf die Billigung durch die Kirche gegründet ist – von welchem Konzil wollen sie dann einen
diesbezüglichen Beschluß anführen? Ich denke, sie haben keinen! Weshalb ließ sich denn Arius in
Nicäa durch Zeugnisse überwinden, die man aus dem Evangelium des Johannes angeführt hatte? Denn
nach der Lehre der Römischen stand es ihm frei zu widersprechen, weil keine Anerkennung (dieses
Evangeliums) durch ein allgemeines Konzil vorangegangen war. Sie berufen sich auf eine alte Liste,
die man Kanon nennt, und sie sagen, dieser sei aus einer Entscheidung der Kirche hervorgegangen.
Aber ich frage wiederum: in welchem Konzil ist denn dieser Kanon aufgestellt worden? Da müssen sie
verstummen. Allerdings wäre ich außerdem begierig zu erfahren, was für ein Kanon das denn nach
ihrer Ansicht gewesen ist. Denn ich bemerke, daß dies unter den Alten sehr wenig festgestanden hat.
Wenn das Geltung haben soll, was Hieronymus sagt, so müssen die Makkabäerbücher, das Buch Tobias,
Jesus Sirach und dergleichen unter die Apokryphen verwiesen werden – aber das unterstehen sich doch
die Römischen in keiner Weise zu tun!
Von der gesetzgebenden Gewalt der Kirche, in welcher der Papst samt den Seinen die
Seelen einer grausamen Tyrannei und Quälerei unterworfen hat
IV,10,1 Es folgt nun der zweite Teil (der Kirchengewalt, vgl. Kap. 8, Sektion
1 am Anfang), der nach dem Willen der Papisten in der Gesetzgebung bestehen soll. Das ist nun ein
Quell, aus dem unzählige menschliche Überlieferungen entsprungen sind – lauter Stricke, um die
armen Seelen damit zu erwürgen! Denn die Papisten haben sich ebensowenig wie die Schriftgelehrten
und Pharisäer gescheut, anderen Leuten Lasten auf die Schultern zu legen, die sie selbst nicht mit
dem Finger hätten anrühren wollen (Matth. 23,4). Ich habe an anderer Stelle bereits dargelegt, was
für eine grausame Quälerei ihre Bestimmungen über die Ohrenbeichte darstellen. In anderen
Gesetzen tritt nicht eine derartige Gewalttätigkeit zutage; aber auch die, die von allen am
erträglichsten erscheinen, üben einen tyrannischen Druck auf die Gewissen aus. Ich schweige noch
davon, daß sie die Verehrung Gottes verfälschen und Gott selber, der doch der einige Gesetzgeber
ist, seines Rechtes berauben. Diese Vollmacht müssen wir nun behandeln (und es ist dabei die
Frage), ob die Kirche das Recht hat, mit ihren Gesetzen die Gewissen zu binden. Bei dieser
Erörterung wird die bürgerliche (politische) Ordnung nicht berührt, sondern es geht
ausschließlich darum, daß Gott nach der von ihm vorgeschriebenen Richtschnur recht verehrt werde
und uns die geistliche Freiheit, die sich auf Gott bezieht, unverkürzt erhalten bleibe. Es hat sich
nun die Gewohnheit durchgesetzt, daß man unter dem Begriff "menschliche Überlieferungen" alle
jene Bestimmungen versteht, die im Bezug auf die Verehrung Gottes außerhalb seines Wortes von
Menschen ausgegangen sind. Gegen diese haben wir zu kämpfen, nicht aber gegen die heiligen und
nützlichen Ordnungen der Kirche, die zur Aufrechterhaltung der Zucht, der Ehrbarkeit oder des
Friedens dienen. Unser Kampf hat aber das Ziel, daß jene ungemessene und barbarische Herrschaft
gebrochen werde, die sich Leute, die für Hirten der Kirche gehalten werden wollen, tatsächlich
aber die erbarmungslosesten Marterknechte sind, über die Seelen anmaßen. Denn sie behaupten von
den Gesetzen, die sie machen, sie seien "geistlich" und hätten auf die Seelen Bezug, erklären
auch, sie seien zum ewigen Leben notwendig. So aber geschieht dem Reiche Christi, wie ich oben kurz
aussprach, Gewalt, so wird die Freiheit, die er selbst den Gewissen der Gläubigen geschenkt hat,
ganz und gar unterdrückt und vernichtet. Ich schweige hier davon, mit was für einer Gottlosigkeit
sie die Beobachtung ihrer Gesetze als unverbrüchliche Forderung vertreten, indem sie nämlich
lehren, man solle in ihr die Vergebung der Sünden, die Gerechtigkeit und das Heil suchen, und indem
sie die ganze Summe der Religion und Frömmigkeit in sie hineinlegen. Ich behaupte dies eine: man
darf den Gewissen in solchen Dingen, in denen sie durch Christus frei gemacht werden, keinerlei
Zwang auferlegen – sie können doch auch, wie wir oben dargelegt haben, nur dann bei Gott ausruhen,
wenn sie solcher Freiheit teilhaftig geworden sind! Wollen sie die Gnade behalten, die sie einmal in
Christus erlangt haben, so müssen sie auch den als den einigen König anerkennen, der ihr Befreier
ist, nämlich Christus, und von dem einen Gesetz der Freiheit regiert werden; keine Knechtschaft
darf sie mehr festhalten, und keine Fesseln dürfen sie mehr binden!
IV,10,2 Nun tun zwar diese Solons (Gesetzgeber), als ob ihre Ordnungen "Gesetze
der Freiheit", als ob sie ein "sanftes Joch", eine "leichte Last" wären – aber wer sollte
nicht sehen, daß das lauter Lügen sind? Sie selbst empfinden freilich die Schwere ihrer Gesetze
nicht; denn sie haben ja Gottes Furcht von sich geworfen und verachten nun sorglos und wacker sowohl
ihre eigenen als auch die göttlichen Gesetze. Die Menschen aber, die einigermaßen von der Sorge um
das Heil berührt sind, die kommen bei weitem nicht zu der Meinung, frei zu sein, solange sie von
diesen Stricken festgehalten werden. Wir sehen doch, mit wieviel Vorsicht Paulus in diesem Stück
gewandelt ist, so daß er es nicht einmal in einer einzigen Sache gewagt hat, den anderen "einen
Strick um den Hals zu werfen" (1. Kor. 7,35). Und das nicht ohne Ursache; denn er sah sicherlich
voraus, was für eine schwere Verwundung man den Gewissen beibringen würde, wenn man ihnen
zwangsweise solche Dinge auferlegen wollte, in denen ihnen der Herr Freiheit gelassen hat. Dagegen
kann man kaum die Ordnungen aufzählen, die die Römischen mit höchstem Ernst durch Androhung des
ewigen Todes bekräftigt haben und die sie mit äußerster Strenge als zum Heil notwendig fordern.
Und darunter sind sehr viele äußerst schwer, alle zusammen aber, wenn man sie auf einen Haufen
zusammenbringt, unmöglich zu halten – so groß ist die Masse! Wie soll es also geschehen, daß
Menschen, auf denen eine so große, schwere Last ruht, nicht in die schlimmste Angst und Schrecknis
verstrickt werden und sich daran zerreiben? Ich habe also hier die Absicht, mich gegen Satzungen von
dieser Art zu wenden, die man dazu gemacht hat, um die Seelen innerlich vor Gott zu binden und ihnen
heilige Scheu einzujagen, als ob man Vorschriften über Dinge gäbe, die zum Heil notwendig sind.
IV,10,3 Diese Frage bereitet nun vielen Leuten deshalb große
Schwierigkeiten, weil sie zwischen dem "äußeren" Rechtsbereich – wie man ihn nennt – und dem
des Gewissens nicht scharf genug unterscheiden. Zudem wird die Verlegenheit noch dadurch
vergrößert, daß wir nach dem Gebot des Paulus der Obrigkeit nicht allein aus Furcht vor der
Strafe gehorchen sollen, sondern auch "um des Gewissens willen" (Röm. 13,1.5). Daraus folgt (so
meint man), daß unser Gewissen auch an die bürgerlichen Gesetze gebunden ist. Wenn es sich so
verhielte, so würde alles, was wir im vorigen Kapitel) gesagt haben und was wir noch von dem
geistlichen Regiment ausführen werden, in sich zusammenfallen. Um diesen Knoten aufzulösen, ist es
zunächst von Nutzen, festzustellen, was eigentlich das Gewissen ist. Die Beschreibung dieses
Begriffs entnehmen wir der (sprachlichen) Wurzel des Wortes. Die Menschen erlangen ja durch Verstand
und Einsicht eine Erkenntnis der Dinge; man sagt also: sie wissen das und das, und daraus wird dann
auch das Wort Wissenschaft abgeleitet. Nun haben sie aber auch ein Empfinden des göttlichen
Gerichts, das wie ein Zeuge stets bei ihnen steht, sie ihre Sünde nicht verhehlen läßt, sondern
sie als Schuldige vor Gottes Richterstuhl zieht. Dies Empfinden heißt Gewissen (conscientia =
Mitwissen!). Es ist also gewissermaßen etwas, das mitten zwischen Gott und dem Menschen steht; denn
es läßt nicht zu, daß der Mensch das, was er doch weiß, in sich selbst unterdrückt, sondern es
bedrängt ihn so lange, bis er sich schuldig bekennt. – Das meint Paulus mit seiner Lehre, das
Gewissen lege zugleich mit dem Menschen Zeugnis ab, und zwar wenn die Gedanken sich untereinander
vor Gottes Gericht verklagen oder entschuldigen (Röm. 2,15f.). Diebloße Erkenntnis könnte im
Menschen gewissermaßen verschlossen (und daher unwirksam, verborgen) bleiben. Da ist denn dies
Empfinden, das den Menschen vor Gottes Gericht stellt, gleichsam ein ihm bei gegebener Wächter,
damit nichts im Finsteren begraben bleibt. Daher auch das alte Sprichwort: das Gewissen ist wie
tausend Zeugen. Aus dem gleichen Grunde setzt auch Petrus das Zeugnis eines guten Gewissens vor Gott
der Ruhe unseres Herzens gleich, wenn wir in der Gewißheit um die Gnade Christi unerschrocken vor
Gott hintreten (1. Petr. 3,21). Auch wenn der Verfasser des Hebräerbriefs davon spricht, daß
Menschen "kein Gewissen mehr hätten von den Sünden" (Hebr. 10,2), so meint er damit: wir sind
befreit und losgesprochen, so daß die Sünde uns nicht mehr weiter bedrängt.
IV,10,4 Wie sich also unsere Werke auf die Menschen beziehen, so bezieht sich
das Gewissen auf Gott. Ein gutes Gewissen ist also nichts anderes als die innere Lauterkeit des
Herzens. In diesem Sinne schreibt Paulus: "Die Hauptsumme des Gesetzes ist Liebe ... von gutem
Gewissen und von ungeheucheltem Glauben" (1. Tim. 1,5). In dem gleichen Kapitel zeigt er etwas
nachher, wie sehr das Gewissen von dem bloßen Wissen unterschieden ist: er redet (1. Tim. 1,19) von
einigen, "die am Glauben Schiffbruch erlitten haben", und erklärt, sie hätten das Gewissen "von
sich gestoßen". Mit diesen Worten macht er ja deutlich, daß das Gewissen ein lebendiger Trieb
ist, Gott zu dienen, und ein lauteres Streben nach frommem und heiligem Leben. Zuweilen wird das
Gewissen auch auf die Menschen bezogen; so, wenn Paulus bei Lukas bezeugt, er habe sich Mühe
gegeben, "zu haben ein unverletzt Gewissen allenthalben, gegen Gott und die Menschen" (Apg.
24,16). Aber das ist deshalb so gesagt, weil die Früchte des guten Gewissens auch bis zu den
Menschen hin strömen und dringen. Im eigentlichen Sinne aber sieht das Gewissen allein auf Gott,
wie ich bereits sagte. So sagen wir auch, ein Gesetz "binde" das Gewissen, wenn es den Menschen
stracks verpflichtet, ohne den Blick auf Menschen und ohne Rücksicht auf sie. Zum Beispiel: Gott
hat uns nicht nur geboten, unser Herz keusch und von aller Lust rein zu erhalten, sondern er hat
auch alle schandbaren Worte und alle äußere Üppigkeit verboten. Zum Halten dieses Gebots ist mein
Gewissen verpflichtet – auch wenn in der Welt kein einziger Mensch leben würde. Wer also in seinem
Verhalten zuchtlos ist, der sündigt nicht nur insofern, als er den Brüdern ein schlechtes Vorbild
gibt, sondern er hat auch ein schuldverhaftetes Gewissen vor Gott. Anders ist es aber mit dem
bestellt, was an sich ein "Mittelding" ist. Wir müssen davon abstehen, wenn daraus ein Anstoß
erwächst – aber mit freiem Gewissen! In diesem Sinne spricht Paulus von dem Fleisch, das den
Götzen geweiht war; er sagt: "Wenn dir aber jemand Bedenken einflößt, so rühre das Fleisch nur
ja nicht an, und zwar um des Gewissens willen. Ich sage aber vom Gewissen nicht deiner selbst,
sondern des anderen" (1. Kor. 10,28f.; Vers 28 summarisch). Der Gläubige würde also sündigen,
wenn er trotz vorheriger Warnung solches Fleisch doch äße. Aber wenn er auch nach Gottes Gebot aus
Rücksicht auf den Bruder solche Enthaltsamkeit üben muß, so hört er deshalb doch nicht auf, die
Freiheit seines Gewissens zu wahren. Wir sehen also, wie ein solches Gesetz das äußere Werk
bindet, aber das Gewissen doch frei läßt.
IV,10,5 Jetzt wollen wir wieder auf die menschlichen Gesetze zurückkommen.
Wenn sie zu dem Zweck gegeben sind, uns heilige Scheu einzuflößen, als ob ihre Einhaltung an und
für sich notwendig sei, dann behaupten wir, daß den Gewissen etwas auferlegt wird, das sich nicht
gehört. Denn unser Gewissen hat es eben nicht mit den Menschen, sondern allein mit Gott zu tun.
Dahin gehörtauch die gebräuchliche Unterscheidung zwischen dem irdischen Rechtsbereich und dem des
Gewissens. Als der ganze Erdkreis in die dichteste Finsternis der Unwissenheit gehüllt war, da
blieb doch der kleine Lichtstrahl übrig, daß man erkannt hat, daß das Gewissen der Menschen
höher steht als alle menschlichen Urteile. Allerdings hat man das, was man mit einem Wort zugab,
nachher tatsächlich wieder umgestoßen, aber Gott hatte doch den Willen, daß selbst damals
irgendein Zeugnis der christlichen Freiheit bestand, um die Gewissen von der Tyrannei der Menschen
loszumachen. Aber noch ist jene Schwierigkeit nicht gelöst, die sich aus den Worten des Paulus
(Röm. 13,1.5) ergibt. Denn wenn wir den Obrigkeiten nicht allein aus Furcht vor der Strafe, sondern
"um des Gewissens willen" gehorchen sollen, so scheint sich daraus zu ergeben, daß die Gesetze
der Obrigkeiten auch über das Gewissen herrschen. Ist das aber wahr, so muß man das gleiche auch
von den kirchlichen Gesetzen sagen. Ich antworte, daß man hier zunächst zwischen Allgemeinem und
Besonderem unterscheiden muß. Denn obwohl die einzelnen Gesetze das Gewissen nicht berühren, so
sind wir doch an Gottes allgemeines Gebot gebunden, das uns die Autorität der Obrigkeit als etwas
Wichtiges anbefiehlt. Eben um diesen Angelpunkt dreht sich die Erörterung des Paulus: da die
Obrigkeiten von Gott geordnet sind, so sollen wir ihnen Ehre erweisen (Röm. 13,1). Indessen lehrt
er durchaus nicht, daß sich die Gesetze, die sie geben, auf die innere Leitung der Seele beziehen;
denn er hebt allenthalben sowohl die Verehrung Gottes als auch die geistliche Regel zum gerechten
Leben über jegliche Satzungen der Menschen hinaus. Auch ist hier noch ein Zweites erwähnenswert,
das allerdings von dem Obigen abhängt: obwohl die menschlichen Gesetze, ob sie nun von der
Obrigkeit oder von der Kirche gegeben werden, notwendig zu halten sind – ich rede von den guten und
gerechten Gesetzen -, so binden sie doch das Gewissen nicht an und für sich, und zwar deshalb
nicht, weil alle und jede Notwendigkeit, sie zu halten, auf ein allgemeines Ziel gerichtet ist,
nicht aber in den Dingen liegt, die da geboten werden. Weit entfernt von dieser Gruppe sind aber
solche Gesetze, die eine neue Form der Verehrung Gottes vorschreiben und einen Zwang mit Bezug auf
Dinge aufrichten, die frei sind.
IV,10,6 Eben von dieser Art aber sind die Gesetze, die heutzutage im Papsttum
als Kirchensatzungen bezeichnet werden und die man den Leuten als wahren und notwendigen
Gottesdienst aufdrängt. Und so unzählbar wie sie sind, so zahllose Fesseln sind sie auch, um die
Seelen darin zu fangen und zu verstricken. Wir haben nun freilich manches davon bereits bei der
Auslegung des Gesetzes (Buch II, Kapitel 7 und 8) berührt; weil aber diese Stelle für eine
gehörige Behandlung der geeignetere Ort war, so will ich mich jetzt bemühen, den ganzen
wesentlichen Inhalt in möglichst guter Ordnung zusammenzufassen. Und weil wir von der Tyrannei, die
sich die falschen Bischöfe anmaßen, um willkürlich zu lehren, was ihnen paßt, bereits soeben
gesprochen haben, soweit es ausreichend zu sein schien, so werde ich diesen ganzen Teil
beiseitelassen und mich hier nur mit der Vollmacht zur Gesetzgebung befassen, die sie zu haben
behaupten. Wenn also unsere falschen Bischöfe die Gewissen mit neuen Gesetzen beschweren, so tun
sie das unter dem Vorwand, sie seien eben von dem Herrn als geistliche Gesetzgeber eingesetzt, und
zwar, weil ihnen die Regierung der Kirche anbefohlen sei. Deshalb behaupten sie, alles, was sie
gebieten oder vorschreiben, dasmüßte das Christenvolk notwendig innehalten; wer es aber verletze,
der sei eines doppelten Ungehorsams schuldig, weil er sich ja gegen Gott und die Kirche auflehne.
Freilich, wenn sie wahre Bischöfe wären, dann würde ich ihnen in diesem Stück wohl einige
Autorität zuerkennen – nicht soviel, wie sie für sich verlangen, sondern soviel, wie erforderlich
ist, um die Ordnung der Kirche gehörig zu regeln. Nun aber, wo sie nichts weniger sind als das,
für das sie gehalten werden wollen, so können sie sich nicht das geringste herausnehmen, ohne
damit über das Maß hinauszugehen. Aber weil wir auch das bereits an anderer Stelle gesehen haben,
so wollen wir ihnen für den Augenblick zugeben, daß ihnen alle Vollmacht, die die wahren Bischöfe
besitzen, mit Recht zukommt. Trotzdem bestreite ich, daß sie deshalb den Gläubigen als Gesetzgeber
aufgelegt wären, die aus sich selbst heraus eine Regel für das Leben vorschreiben oder das ihnen
anvertraute Volk zwangsweise an ihre Satzungen binden könnten. Wenn ich das sage, so ist meine
Meinung die, daß es ihnen in keiner Weise zusteht, etwas, das sie sich aus sich selbst ohne Gottes
Wort ausgedacht haben, der Kirche als Befehl aufzutragen, und zwar so, als ob es sich dabei um etwas
(zum Heile) Notwendiges handelte. Da dies Recht den Aposteln unbekannt gewesen und den Dienern der
Kirche so oft durch den Mund des Herrn abgesprochen worden ist, so wundere ich mich, wieso sie es
doch gewagt haben, es ohne das Beispiel der Apostel und gegen Gottes offenbares Verbot an sich zu
reißen, und wieso sie es noch heute zu verteidigen wagen.
IV,10,7 Was zur vollkommenen Regel für ein rechtes Leben gehörte, das hat
der Herr voll und ganz in seinem Gesetz zusammengefaßt, und zwar so, daß er den Menschen nichts
übriggelassen hat, was sie etwa zu jener Hauptsumme hinzufügen könnten. Und das hat er erstens zu
dem Zweck getan, daß er von uns für den alleinigen Meister und Regierer unseres Lebens gehalten
werde, weil ja alle Rechtschaffenheit des Wandels darin besteht, daß alle unsere Werke nach seinem
Willen wie nach einer Richtschnur ausgerichtet werden. Zum zweiten hat er es getan, um uns zu
bezeugen, daß er von uns nichts dringlicher verlangt als Gehorsam. In diesem Sinne sagt Jakobus:
"Wer seinen Bruder richtet, der ist nicht ein Täter des Gesetzes, sondern ein Richter. Es ist ein
einiger Gesetzgeber, der kann selig machen und verdammen" (Jak. 4,11f.; Vers 11 nicht ganz
Luthertext). Da hören wir, daß Gott es sich allein als etwas ihm Eigenes vorbehält, uns durch den
Befehl und die Gesetze seines Wortes zu regieren. Das nämliche war zuvor auch von Jesaja gesagt
worden, wenn auch etwas dunkler: "Der Herr ist unser König, der Herr ist unser Gesetzgeber, der
Herr ist unser Richter, der hilft uns" (Jes. 33,22; nicht ganz Luthertext). Unzweifelhaft wird an
beiden Stellen gezeigt, daß der die Entscheidung über Leben und Tod hat, der das Recht über die
Seele besitzt. Ja, Jakobus spricht das klar aus. Dies Recht kann sich nun aber keiner von den
Menschen nehmen. Also muß Gott als der einige König der Seelen anerkannt werden, bei dem allein
die Gewalt liegt, selig zu machen oder verlorengehen zu lassen, oder, wie jene Worte des Jesaja
lauten, als König, Richter, Gesetzgeber und Retter. Deshalb fordert Petrus die Hirten, indem er sie
an ihre Pflicht gemahnt, dazu auf, sie sollten die Herde so weiden, daß sie keine Herrschaft über
den "Klerus" übten – ein Begriff, mit dem er das Erbteil Gottes, das heißt das Volk der
Gläubigen, bezeichnet (1. Petr. 5,2f.). Wenn wir das recht erwägen, daß es unzulässig ist, etwas
auf einen Menschen zu übertragen, was sich Gott ganz allein zueignet, dann werden wir auch
begreifen, daß damit alle Vollmacht abgeschnitten ist, die jene Leute beanspruchen, die sich dazu
aufwerfen wollen, in der Kirche etwas ohne Gottes Wort zu befehlen.
IV,10,8 Die ganze Angelegenheit hängt also von dem Grundsatz ab: wenn Gott
der einige Gesetzgeber ist, so steht es dem Menschen nicht zu, sich diese Ehre herauszunehmen. Ist
es aber so, dann muß man zugleich jene beiden oben festgestellten Ursachen im Gedächtnis halten,
warum sich denn Gott dieses Recht ganz allein zueignet. Die erste Ursache ist nun die: sein Wille
soll für uns die vollkommene Richtschnur aller Gerechtigkeit und Heiligkeit sein, und so soll also
in dessen Erkenntnis das vollkommene Wissen um das rechte Leben liegen. Und die zweite Ursache: Er
allein soll, wo man nach der Weise fragt, ihn gebührend und rechtschaffen zu verehren, die
Befehlsgewalt über unsere Seelen haben, so daß wir also ihm Gehorsam leisten und an seinem Willen
hängen sollen. Wenn wir diese beiden Ursachen ins Auge gefaßt haben, dann werden wir leicht ein
Urteil darüber gewinnen, welche Ordnungen von Menschen dem Worte des Herrn zuwiderlaufen. Von
dieser Art sind nun alle, von denen man vorgibt, sie gehörten zur wahren Verehrung Gottes, und zu
deren Innehaltung die Gewissen gezwungen werden, als ob sie notwendig beobachtet werden müßten.
Wir wollen also daran denken, daß auf dieser Waagschale alle menschlichen Gesetze gewogen werden
müssen, wenn wir eine sichere Regel haben wollen, die uns niemals abirren läßt. Unter Berufung
auf die erstgenannte Ursache führt Paulus im Briefe an die Kolosser seinen Streit gegen die
falschen Apostel, die die Kirchen mit neuen Lasten zu bedrücken trachteten (Kol. 2, S). Die zweite
verwendet er mehr im Galaterbrief, und zwar in ähnlicher Sache. Im Kolosserbrief führt er also
folgendes aus: eine Unterweisung über die wahre Verehrung Gottes sollen wir nicht von Menschen
begehren, weil uns der Herr getreulich und vollkömmlich darüber belehrt hat, wie er verehrt werden
soll. Um dies nachzuweisen, erklärt Paulus im ersten Kapitel (des Briefes), im Evangelium sei alle
Weisheit verfaßt, kraft deren der Mensch Gottes in Christus vollkommen gemacht würde (Kol. 1,28).
Im Anfang des zweiten Kapitels sagt er, daß in Christus "verborgen liegen alle Schätze der
Weisheit und der Erkenntnis" (Kol. 2,3). Von da aus kommt er dann hernach zu dem Ergebnis, die
Gläubigen sollten sich in acht nehmen, daß sie nicht durch eitle Weltweisheit "nach der Menschen"
"Satzungen" von der Herde Christi weggeführt würden (Kol. 2,8). Und am Schluß dieses Kapitels
verurteilt er mit noch größerer Freimütigkeit alle "selbsterwählte Geistlichkeit", das
heißt jeglichen ersonnenen Gottesdienst, den sich die Menschen selbst ausdenken oder von anderen
übernehmen, dazu auch alle Vorschriften über die Verehrung Gottes, die sie aus sich heraus
aufzustellen wagen (Kol. 2,16-23). So ergibt sich also für uns: gottlos sind alle Satzungen, von
denen man vorgibt, in ihrer Beobachtung sei der Dienst Gottes gelegen. Die Stellen aber, an denen
Paulus im Galaterbrief darauf dringt, daß man den Gewissen, die doch von Gott allein regiert werden
sollen, keinen Strick umlegen darf, sind deutlich genug; sie finden sich vornehmlich im fünften
Kapitel des Briefes (Gal. 5,1-12). Es mag daher genügen, sie genannt zu haben.
IV,10,9 Weil aber die ganze Angelegenheit durch Beispiele besser deutlich
werden wird, so ist es, bevor wir weitergehen, wohl angebracht, diese Lehre auf unsere Zeiten
anzuwenden. Die sogenannten "kirchlichen" Satzungen, mit denen der Papst samt den Seinen die
Kirche beschwert, sind nach unserer Behauptung verderblich und gottlos; unsere Widersacher dagegen
erklären, sie seien heilig und heilbringend. Diese Satzungen zerfallen nun allgemein in zwei
Gruppen: die einen betreffen nämlich Zeremonien und gottesdienstliche Gebräuche, die anderen
beziehen sich mehr auf die (kirchliche) Zucht. Besteht nun also eine gerechte Ursache, die uns
bewegen muß, gegen beide anzugehen? Wahrhaftig eine gerechtere, als wir wohl möchten! Zunächst:
erklären die Urheber dieser Satzungen nicht selbst mit deutlichen Worten, daß in ihnen sozusagen
der eigentliche Kern der Verehrung Gottes beschlossen liege? Was für einem Zweck sollen denn ihre
Zeremonien anders dienen, als daß Gott durch sie verehrt werde? Und zwar geschieht das nicht allein
aus dem "Irrtum der unerfahrenen Menge" heraus, sondern mit Zustimmung derer, die das Lehramt
innehaben! Ich befasse mich hier noch nicht mit den groben Abscheulichkeiten, mit denen sie jegliche
Frömmigkeit zunichte zu machen unternommen haben – aber sie würden nicht so tun, als ob es ein so
grausiges Verbrechen wäre, sich gegen irgendein noch so geringfügiges Gesetzlein vergangen zu
haben, wenn sie eben nicht die Verehrung Gottes ihren Hirngespinsten unterordneten! Paulus hat doch
gelehrt, es sei nicht tragbar, daß man die rechtmäßige Art und Weise der Verehrung Gottes dem
Gutdünken der Menschen unterwerfe. Was für eine Sünde soll aber dann darin liegen, wenn wir
heutzutage das, was er für untragbar erklärt hat, tatsächlich nicht ertragen können? Vor allem
gar dann, wenn diese Leute gebieten, man solle Gott nach den "Elementen" (Luther: "Satzungen")
dieser Welt verehren, während doch Paulus bezeugt, daß dies Christus zuwider ist (Kol. 2,20)! Auf
der anderen Seite ist sehr wohl bekannt, mit welch scharfem Zwang sie die Gewissen daran binden,
alles zu halten, was sie gebieten. Wenn wir hier Einspruch erheben, so haben wir gemeinsame Sache
mit Paulus, der es auf keinerlei Weise duldet, daß die gläubigen Gewissen unter die Knechtschaft
der Menschen gebracht werden (Gal. 5,1).
IV,10,10 Dazu kommt dann noch das Allerschlimmste: hat man einmal
angefangen, die Religion durch dergleichen eitle Hirngespinste bestimmt sein zu lassen, so ergibt
sich aus dieser Verkehrtheit sogleich auch die andere entsetzliche Verzerrung, die Christus den
Pharisäern vorgeworfen hat, nämlich daß Gottes Gebot um der Satzungen der Menschen willen seine
Geltung einbüßt (Matth. 15,3). Ich will gegen unsere gegenwärtigen Gesetzgeber nicht mit meinen
eigenen Worten streiten – sie sollen wahrhaftig gewonnen haben, wenn sie es auf irgendeine Weise
fertigbringen, sich von dieser Anklage Christi zu reinigen! Aber wie sollten sie sich zu
entschuldigen vermögen? Bei ihnen gilt es doch als eine unendlich größere Sünde, wenn einer am
Ende des Jahres die Ohrenbeichte unterlassen, als wenn er das ganze Jahr hindurch den schandbarsten
Lebenswandel geführt hat! Sie halten es doch für unvergleichlich frevelhafter, wenn man am Freitag
die Zunge mit einem geringen Geschmäcklein von Fleisch hat in Berührung kommen lassen, als wenn
man den ganzen Leib alle Tage lang mit Hurerei verunreinigt hat! Es gilt bei ihnen als ganz
wesentlich schlimmer, wenn man an einem Tage, der wer weiß welchem unbedeutenden Heiligen geweiht
ist, die Hand an ein ehrliches Stück Arbeit gelegt hat, als wenn man immerfort alle Glieder mit den
übelsten Bubenstücken beschäftigt gehalten! Wenn ein Priester durch eine rechtmäßige Ehe
gebunden wird, so halten sie das für viel, viel "sündhafter", als wenn er sich in
tausendfältigen Ehebruchverstrickt! Wenn man eine zugesagte Wallfahrt nicht vollbracht hat, so soll
das unendlich schlimmer sein, als wenn man bei allen Versprechungen das gegebene Wort bricht! Wenn
man für den verschwenderischen und ebenso überflüssigen wie nutzlosen Prunk der Kirchengebäude
kein Geld vergeudet hat, so gilt das als ungleich größere "Sünde", als wenn man die Armen in
ihrer allerschlimmsten Not im Stich gelassen hat. Viel, viel frevelhafter soll es sein, wenn man an
einem Götzenbild ohne Ehrenbezeigung vorbeigegangen ist, als wenn man jegliche Art von Menschen
schmählich behandelt hat! Unendlich schlimmer soll es sein, wenn man zu bestimmten Stunden nicht
langatmige Worte ohne Sinn und Verstand dahergemurmelt hat, als wenn man in seinem Herzen niemals
ein rechtes Gebet gesprochen! Wenn das nicht heißt, Gottes Gebote um der eigenen "Aufsätze"
willen ungültig machen (Matth. 15,3) – was dann? Wo sie doch die Beobachtung der Gebote Gottes
bloß kühl und nur, um der Pflicht zu genügen, den Leuten anbefehlen – nichtsdestoweniger aber auf
den strengen Gehorsam gegenüber ihren eigenen Satzungen mit Eifer und ängstlichem Nachdruck
dringen, als ob diese alle Kraft der Frömmigkeit in sich beschlössen. Wo sie die Übertretung des
göttlichen Gesetzes bloß mit geringfügigen Strafgenugtuungen ahnden, selbst den mindesten
Verstoß gegen ein einziges ihrer eigenen Dekrete dagegen mit keiner leichteren Strafe rächen als
mit Kerker, Verbannung, Feuer und Schwert! Wer Gott verachtet – gegen den sind sie nicht so streng
und unerbittlich; wer aber sie verachtet, den verfolgen sie mit unversöhnlichem Haß bis zum
äußersten. Und alle, deren Einfältigkeit sie gefangenhalten, unterweisen sie derart, daß sie es
mit mehr Gleichmut ansehen würden, wenn Gottes gesamtes Gesetz umgestoßen, als wenn ein
Tüttelchen an den Geboten – wie sie sagen: – der "Kirche" verletzt würde. Zunächst liegt
schon ein schweres Vergehen darin, daß man sich um ganz geringer und, wenn man bei Gottes Urteil
stehenbleibt, freigelassener Dinge willen gegenseitig verachtet, verurteilt und verwirft. Als ob das
nun aber noch nicht übel genug wäre, so legt man jetzt jenen "wertlosen Elementen dieser Welt",
wie sie Paulus im Galaterbrief nennt (Gal. 4,9; Luther: "Satzungen"), mehr Gewicht bei als den
himmlischen Offenbarungsworten Gottes. Und so kommt es dazu: wer im Ehebruch beinahe freigesprochen
wird, der wird über Essen und Trinken verurteilt, wem die Hure verstattet wird, dem versagt man ein
Eheweib! Soweit bringt man es nämlich mit jenem pflichtvergessenen "Gehorsam", der von Gott je
mehr abweicht, je mehr er sich den Menschen zuwendet.
IV,10,11 Es gibt noch zwei weitere, nicht geringe Mängel, die wir an diesen
Satzungen mißbilligen. Erstens, daß sie zu einem großen Teil nutzlose, zuweilen auch närrische
Verhaltungsweisen vorschreiben, und zweitens, daß durch ihre unermeßliche Menge die frommen
Gewissen bedrückt werden und nun in eine gewisse Art von Judentum zurückgefallen, dermaßen an
Schatten hängen, daß sie nicht zu Christus kommen können. (1.) Daß ich diese Satzungen "närrisch"
und "nutzlos" nenne, das wird, so weiß ich wohl, der Klugheit des Fleisches nicht einleuchten,
die vielmehr solches Gefallen daran findet, daß man der Meinung ist, die Kirche würde ganz und gar
verunstaltet, wenn man sie abschaffte. Aber das ist es eben, was Paulus schreibt: sie "haben einen
Schein der Weisheit durch selbsterwählte Geistlichkeit und Demut" und dadurch, daß sie durch
ihre Härte zur Zähmung des Fleisches imstande zu sein scheinen (Kol. 2,23). Wahrhaftig eine sehr
heilsame Mahnung, die uns nie aus dem Sinn kommen darf! Die menschlichen Satzungen, so sagt also
Paulus, betrügen unter dem Schein der Weisheit. Woher haben sie denn diese Deckfarbe? Ja, eben
daher, daß sie von Menschen ersonnen sind! Die menschliche Vernunft erkennt in ihnen ihr eigenes
Werk wieder, und was sie dergestalt wiedererkannt hat, das nimmt sie bereitwilliger anals alles, was
ihrer Eitelkeit weniger entsprechen möchte, und sei es auch das allerbeste. Und dann scheinen diese
Satzungen auch geeignete Übungen zur Demut zu sein, weil sie den Verstand der Menschen unter ihrem
Joch zu Boden gedrückt halten – und das ist dann das zweite, das ihnen Empfehlung verschafft!
Endlich hat es den Anschein, als ob sie den Zweck hätten, die Lüste des Fleisches in Schranken zu
halten und das Fleisch durch die Härte der (von ihnen geforderten) Enthaltsamkeit zu unterjochen,
und deshalb scheinen sie verständig ausgedacht zu sein. Was sagt nun aber Paulus zu alledem? Reißt
er den Satzungen etwa jene Masken herunter, damit schlichte Leute nicht durch solchen falschen
Vorwand betrogen werden? Nein, er ist der Überzeugung, daß zur Ablehnung seine Erklärung genügt,
diese Satzungen seien von Menschen ausgeklügelt (Kol. 2,22), und deshalb übergeht er das alles,
als ob er es für nichts achtete, ohne Widerlegung. Ja, weil er wußte, daß in der Kirche jeglicher
ersonnene Gottesdienst verdammt und den Gläubigen um so mehr verdächtig ist, je mehr er der
menschlichen Vernunft behagt, weil er wußte, daß jenes falsche Bild äußerlicher Demut so wenig
mit wahrer Demut zu schaffen hat, daß sie leicht voneinander zu unterscheiden sind, und da er
endlich wußte, daß jene (durch die "Satzungen" bewirkte) Erziehung nicht höher zu achten ist
als eine leibliche Übung, so hatte er den Willen, daß eben das, um des willen die menschlichen
Satzungen bei einfältigen Leuten angepriesen werden, für die Gläubigen zu deren Widerlegung
dienen soll.
IV,10,12 So wird heutzutage von dem Schaubild der Zeremonien nicht nur das
ungelehrte Volk wundersam gefangengenommen, sondern auch sonst jedermann, so sehr er auch von der
Weltklugheit aufgeblasen sein mag. Heuchler aber und närrische Weiblein sind der Meinung,
Köstlicheres und Besseres ließe sich nichts erdenken. Wer dagegen tiefer nachforscht und
wahrheitsgemäßer nach der Regel der Frömmigkeit erwägt, was eigentlich die Zeremonien in solcher
Anzahl und Gestalt für einen Wert haben, der wird verstehen, daß sie erstens lauter Possenzeug
sind, weil sie ja keinerlei Nutzen haben, und zweitens Gaukeleien, weil sie die Augen der Zuschauer
mit eitlem Prunk betrügen. Ich rede von solchen Zeremonien, unter denen nach der Meinung der
römischen Lehrmeister große Geheimnisse verborgen liegen, die aber nach unserer Erfahrung nichts
anderes sind als lauter Spott und Hohn. Es ist auch kein Wunder, daß die Urheber dieser Zeremonien
darauf verfallen sind, sich selbst wie auch andere mit wertlosen Albernheiten zu Narren zu halten;
denn sie haben sich teils an den Phantastereien der Heiden ein Beispiel genommen, teils haben sie
wie die Affen ohne Besinnung die alten Gebräuche des mosaischen Gesetzes nachgeahmt, die mit uns
ebensowenig zu tun hatten wie Tieropfer und anderes dergleichen. Wahrhaftig, selbst wenn es sonst
kein Beweisstück mehr gäbe, so würde doch niemand, der bei gesunden Sinnen ist, von solch einem
schlecht zusammengerührten Gemisch irgend etwas Gutes erwarten. Auch führen es einem die Tatsachen
selbst klar vor Augen, daß sehr viele Zeremonien keine andere Verwendung haben, als das Volk zu
verblüffen, statt es zu unterweisen. So legen die Heuchler auch diesen neueren Rechtssatzungen, die
doch die kirchliche Zucht mehr verkehren als erhalten, großes Gewicht bei; wenn sie aber jemand
genauer bei Licht besieht, so wird er finden, daß sie nichts sind als ein schattenhaftes,
flüchtiges Trugbild von Zucht!
IV,10,13 (2.) Und dann, um auf das Zweite einzugehen, wer sieht denn nicht,
daß die Satzungen dadurch, daß man eine auf die andere gehäuft hat, dermaßen überhandgenommen
haben, daß sie für die christliche Kirche auf keinerlei Weise mehr zu ertragen sind? Von hier aus
ist es dazu gekommen, daß in den Zeremonien wer weiß was für ein Judentum in die Erscheinung
tritt und manche Verhaltungsmaßregeln für fromme Gemüter eine schlimme Quälerei mit sich
bringen. Augustin beklagte es, daß (schon) zu seiner Zeit unter Beiseitelassen der Gebote Gottes
alles von soviel Halsstarrigkeit erfüllt war, daß einer, der im Laufe seiner Taufwoche die Erde
mit dem nackten Fuße berührt hatte, schärfer gestraft wurde als jemand, der seinen Verstand mit
Trunkenheit ersäuft hatte. Er klagte, daß die Kirche, die doch nach dem Willen der Barmherzigkeit
Gottes frei sein sollte, dermaßen bedrücke würde, daß die Lage der Juden erträglicher gewesen
wäre (Brief 55, an Januarius). Mit was für Klagen würde wohl dieser heilige Mann, wenn er zu
unseren Zeiten lebte, die Knechtschaft beweinen, die heutzutage besteht? Denn die Zahl der Satzungen
ist heute zehnmal größer, und jedes einzelne Pünktchen wird hundertmal schärfer verlangt als
dazumal. So pflegt es zu gehen: wo einmal diese verdrehten Gesetzgeber die Herrschaft gewonnen
haben, da machen sie mit Gebieten und Verbieten kein Ende, bis sie es zur äußersten
Eigensinnigkeit gebracht haben. Das hat Paulus trefflich angekündigt, wenn er sagt: "So ihr denn
nun abgestorben seid ... der Welt, was lasset ihr euch denn fangen mit Satzungen, als lebtet ihr
noch ... ? Du sollst ... das nicht essen, du sollst das nicht kosten, du sollst das nicht anrühren"
(Kol. 2,20f.; nicht ganz Luthertext). Denn das Wort haptesthai bedeutet sowohl "essen" (wie
Calvin übersetzt), als auch "angreifen" (wie Luther übersetzt), und es wird also hier ohne
Zweifel in der ersten Bedeutung gebraucht, damit keine überflüssige Wiederholung eintritt (das
letzte Wort heißt "anrühren"!) Hier beschreibe er also sehr fein das Vorgehen der falschen
Apostel. Den Anfang machen sie mit dem Aberglauben, indem sie nicht nur verbieten zu "essen",
sondern auch ein wenig zu versuchen. Haben sie das erreicht, so verbieten sie gleich auch das "Kosten".
Nachdem ihnen dann auch dies zugestanden ist, behaupten sie, es sei nicht zulässig, die Speise auch
nur mit dem Finger "anzurühren".
IV,10,14 Mit gutem Recht tadeln wir heute an den Menschensatzungen diese
Tyrannei, durch die es dazu gekommen ist, daß die armen Gewissen durch unzählige Gebote und durch
deren übertriebene Durchsetzung furchtbar gequält werden. Von den Rechtssatzungen, die sich auf
die Kirchenzucht beziehen, war bereits an anderer Stelle dir Rede. Was soll ich von den Zeremonien
sagen, mit denen man es fertiggebracht hat, daß Christus halb begraben worden ist und wir nun
wieder zu den jüdischen Abbildern zurückgekehrt sind? "Christus, unser Herr", sagt Augustin,
"hat die Gemeinschaft des Neuen Volkes durch Sakramente geknüpft, die der Zahl nach sehr wenige,
der Bedeutung nach ganz herrlich und sehr leicht einzuhalten sind" (Brief 54, an Januarius). Wie
weit die Vielzahl und Mannigfaltigkeit der Gebräuche, in die wir heutzutage die Kirche verstrickt
sehen, von dieser Einfachheit entfernt ist, das läßt sich nicht genugsam aussagen. Ich weiß wohl,
mit was für einem Kunstgriff manche spitzfindige Leute diese Verkehrtheit beschönigen. Sie
behaupten, unter uns gäbe es sehr viele Leute, die ebenso unkundig wären, wie es damals im Volke
Israel der Fall gewesen sei; diese Kinderzucht sei nun um solcher Leute willen eingerichtet, und die
Stärkeren, die sie wohl entbehren konnten, dürften sie doch nicht vernachlässigen, weil sie doch
sähen, daß sie für die schwachen Brüder von Nutzen sei! Ich entgegne: wir wissen sehr wohl, was
man der Schwachheit der Brüder schuldig ist, aber wir behaupten auf der anderen Seite, daß den
Schwachen nicht auf die Weise gedient wird, daß man sie unter großen Haufen von Zeremonien
verschüttet. Nicht umsonst hat Gott zwischen uns und dem Volke des Alten Bundes den Unterschied
festgelegt, daß er dies in kindlicher Weise unter Zeichen und Abbildern hat erziehen wollen, uns
dagegen einfacher, ohne eine so große äußere Zurüstung. Wie ein Kind, so sagt Paulus, von dem
Zuchtmeister je nach der seinem Alter entsprechenden Fassungskraft regiert und in Bewahrung gehalten
wird, so sind auch die Juden unter dem Gesetz bewahrt worden (Gal. 4,1-3). Wir dagegen sind
Erwachsenen ähnlich, die, von Vormundschaft und fremder Pflege befreit, die kindlichen
Anfangsgründe nicht mehr nötig haben. Der Herr sah sicherlich voraus, welcher Art dasVolk sein
würde, das in seiner Kirche lebte, und auf welche Weise es regiert werden müßte. Trotzdem hat er
in der eben ausgeführten Weise zwischen uns und den Juden einen Unterschied gemacht. Es ist also
ein törichtes Vorgehen, wenn wir für die Unerfahrenen sorgen wollen, indem wir das Judentum
wiederaufrichten, das doch Christus abgetan hat. Diese Ungleichartigkeit, die zwischen dem alten und
dem neuen Volke (Gottes) besteht, hat Christus auch mit seinen eigenen Worten aufgezeigt, indem er
zu dem samaritischen Weibe sagte, die Zeit sei gekommen, wo die "wahrhaftigen Anbeter" "im
Geist und in der Wahrheit" Gott anbeteten (Joh. 4,23). Das war gewiß allezeit geschehen; aber die
neuen "Anbeter" unterscheiden sich darin von den alten, daß die geistliche Anbetung Gottes
unter Mose mit vielen Zeremonien umschattet und gewissermaßen in sie eingewickelt war, während
diese jetzt abgetan sind und Gott schlichter angebetet wird. Wer also diese Ungleichartigkeit
verwischt, der stürzt die Ordnung um, die Christus eingesetzt und bekräftigt hat. Soll man nun
also, so wird man fragen, den unkundigeren Leuten keinerlei Zeremonien geben, um ihrer
Unerfahrenheit zu Hilfe zu kommen? Das behaupte ich nicht; denn ich bin der Meinung, daß ihnen eine
solche Art von Hilfeleistung allgemein von Nutzen ist. Ich kämpfe hier nur darum, daß man dabei in
einer Weise verfahre, die Christus in helles Licht stellt, nicht aber ihn verdunkelt. Uns sind von
Gott wenige und sehr leicht auszuübende Zeremonien gegeben, und zwar dazu, daß sie uns auf den
gegenwärtigen Christus weisen. Den Juden dagegen waren mehr gegeben: sie sollten eben Abbilder des
nicht Gegenwärtigen (Christus) sein! Daß ich von Christus sage, er sei bei den Juden "nicht
gegenwärtig" gewesen, das bezieht sich nicht auf seine Kraft, sondern auf die Art und Weise, wie
er sich darstellte. Damit nun also Maß gehalten wird, ist es erforderlich, daß in der Zahl der
Zeremonien jene enge Begrenztheit, in ihrer Übung jene leichte Ausführbarkeit und in ihrer
Bedeutung jene Würde gewahrt bleibt, die zugleich in der Klarheit besteht. Daß dies tatsächlich
nicht geschehen ist — wozu soll man das noch aussprechen? Es steht ja jedermann vor Augen!
IV,10,15 Ich übergehe hier, mit was für verderblichen Meinungen die Sinne
der Menschen erfüllt werden, (wenn man ihnen z.B. beibringt), die Zeremonien seien Opfer, mit denen
man Gott einen rechten Dienst darbrächte, kraft deren die Sünden sühnend getilgt würden und der
Mensch Gerechtigkeit und Heil erlangte. Gewiß werden unsere Widersacher bestreiten, daß gute Dinge
durch dergleichen von außen hinzukommende Irrtümer verdorben werden könnten; man könnte, so
werden sie sagen, auch bei den von Gott gebotenen Werken in diesem Stück nicht weniger in Sünde
verfallen. Trotzdem ist es doch noch empörender, daß man Werken, die man aufs Geratewohl nach
menschlichem Gutdünken ersonnen hat, soviel Ehre zuerkennt, daß man glaubt, sich damit das ewige
Leben verdienen zu können. Denn die von Gott befohlenen Werke empfangen deshalb eine Belohnung,
weil der Gesetzgeber selbst im Blick auf den (in ihnen zutage tretenden) Gehorsam Wohlgefallen an
ihnen hat. Sie empfangen ihren Wert also nicht aus eigener Würdigkeit oder eigenem Verdienst,
sondern vielmehr daraus, daß Gott unseren Gehorsam ihm gegenüber so hoch achtet. Ich rede hier von
der Vollkommenheit der Werke, die von Gott geboten, nicht von der, die vom Menschen geleistet wird.
Auch die Werke des Gesetzes, die wir tun, haben nämlich allein aus Gottes unverdienter
Freundlichkeit etwas Wohlgefälliges an sich, und zwar deshalb, weil der in ihnen liegende Gehorsam
schwach und stückweise ist. Aber weil es hier nicht um eine Erörterung darüber geht, was die
Werke ohne Christus für eine Bedeutung haben, so wollen wir diese Frage beiseitelassen. Da-gegen
wiederhole ich das, was zu der hier in Frage stehenden Erörterung gehört, noch einmal: alles, was
die Werke an empfehlender Wirkung besitzen, das haben sie mit Rücksicht auf den Gehorsam, den Gott
allein in Betracht zieht. Das bezeugt er durch den Propheten, wenn er spricht: "Ich habe keine
Weisungen gegeben über Brandopfer und andere Opfer, sondern ich habe euch allein geboten, daß ihr
meiner Stimme gehorcht" (Jer. 7,22f.; summarisch), von den selbsterdachten Werken aber sagt er an
anderer Stelle: "Ihr zählet Geld dar, aber nicht für Brot" (Jes. 55,2; ungenau), oder ebenso:
"Vergebens ehren sie mich nach Menschengeboten" (Jes. 29,13; Matth. 15,9; ungenau). Unsere
Widersacher werden es also auf keinerlei Weise beschönigen können, daß sie es dulden, wie das
arme Volk in solchem äußerlichen Possenzeug die Gerechtigkeit sucht, um sie Gott entgegenzuhalten
und um damit vor dem himmlischen Richterstuhl zu bestehen. Außerdem: ist das nicht ein Fehler, der
Spott und Hohn verdiente, daß man den Leuten unverstandene Zeremonien gleich einer
Schaubühnenvorstellung oder einer Zauberbeschwörung vor Augen führt? Denn es ist doch gewiß,
daß alle Zeremonien verderbt und schädlich sind, wenn die Menschen dadurch nicht zu Christus
geführt werden. Die Zeremonien aber, die unter dem Papsttum im Gebrauch sind, die werden von der
Lehre getrennt, so daß sie die Menschen bei Zeichen festhalten, die jeglicher Bedeutung entbehren.
Und schließlich: der Bauch ist ein erfindungsreicher Kunstmeister, und es liegt auf der Hand, daß
viele Zeremonien von habgierigen Priestern erfunden worden sind, sie sollen eben Netze sein, mit
denen man Geld fangen will! Diese Zeremonien mögen ihren Ursprung haben, wo sie wollen, so sind sie
jedenfalls alle dermaßen an schnöden Gelderwerb preisgegeben, daß es not tut, einen guten Teil
von ihnen abzuschaffen, wenn wir dafür sorgen wollen, daß in der Kirche kein unheiliger,
heiligtumsschänderischer Schacher getrieben wird.
IV,10,16 Es mag vielleicht so scheinen, als ob ich hier keine dauernd
gültige Lehre von den menschlichen Satzungen vortrüge, weil ja diese Ausführungen ganz und gar
auf unsere Zeit zugeschnitten sind. Tatsächlich aber ist nichts gesagt worden, was nicht für alle
Zeiten von Nutzen sein wird. Denn jedesmal, wenn der Aberglaube aufkommt, daß die Menschen Gott mit
ihren eigenen Hirngespinsten verehren wollen, da entarten auch alle Gesetze, die man zu diesem Zweck
erläßt, sogleich zu solchen groben Mißbräuchen. Denn wenn Gott droht, er wolle die, die ihn nach
Menschenlehren verehren, mit Blindheit und Abstumpfung schlagen (Jes. 29,13f.), so kündigt er
diesen Fluch nicht der einen oder anderen Zeit, sondern allen Jahrhunderten an. Diese Verblendung
hat fort und fort zur Folge, daß die Menschen, die soviel Warnungen Gottes beiseitegeschoben haben
und sich aus freien Stücken in diese verderblichen Stricke verfangen, keinerlei Widersinn mehr
scheuen. Wenn man nun unter Beiseitelassen aller (derzeitigen) Umstände wissen will, welches zu
allen Zeiten die menschlichen Satzungen sind, die von der Kirche verworfen und von allen Frommen
abgelehnt werden müssen, dann soll dazu die oben bereits aufgestellte, sichere und klare
Begriffsbestimmung dienen: Solche menschlichen Satzungen sind sämtliche Gesetze, die die Menschen
ohne Gottes Wort zu dem Zweck erlassen haben, entweder eine Art und Weise der Verehrung Gottes
vorzuschreiben oder die Gewissen durch heilige Scheu zu binden, als ob sich die gegebenen
Vorschriften auf heilsnotwendige Dinge bezögen. Wenn dann zu einem von diesen beiden oder zu beiden
noch andere Fehler kommen, nämlich daß diese Satzungen durch ihre Menge die Klarheit des
Evangeliums verdunkeln, daß sie nichts aufbauen, sondern eher nutzlose und spielerische
Beschäftigungen sind als wahrhafte Übungen der Frömmigkeit, daß sie der Habsucht und schnödem
Gewinn dienen, daß sie viel zu schwer innezuhalten, daß sie mit üblem Aberglauben besudelt sind -
wennalso dergleichen Fehler hinzukommen, so werden sie uns dazu behilflich sein, daß wir um so
leichter merken, wieviel Verkehrtes in diesen Satzungen liegt.
IV,10,17 Ich höre nun wohl, was unsere Widersacher zu ihrer Verteidigung
entgegnen: sie sagen, ihre Satzungen stammten gar nicht von ihnen selbst, sondern von Gott. Denn die
Kirche werde ja, damit sie nicht irren könne, vom Heiligen Geiste regiert; seine Autorität aber
liege nun bei ihr. Haben sie das durchgesetzt, dann wird daraus gleich die Folgerung gezogen, ihre
Satzungen seien Offenbarungen des Heiligen Geistes, die man nur aus Gottlosigkeit und unter
Verachtung Gottes geringschätzen könnte. Und damit sie nicht den Eindruck erwecken, als ob sie
etwas ohne gewichtige Gewährsmänner unternähmen, so wollen sie, daß man ihnen glaubt, ein
wesentlicher Teil ihrer Satzungen sei von den Aposteln ausgegangen. Sie behaupten, es werde bereits
durch ein einziges Beispiel genugsam dargetan, wie die Apostel in anderen Fällen gehandelt hätten,
nämlich durch jenen Vorgang damals, als sie, zu einem Konzil versammelt, auf Beschluß dieses
Konzils allen Heiden die Botschaft zukommen ließen, sie sollten "sich enthalten vom Götzenopfer
und vom Blut und vom Erstickten ..." (Apg. 15,20.29). Wir haben nun schon an anderer Stelle
dargelegt, wie unberechtigt sie für sich den Titel "Kirche" erlügen, um sich damit zu rühmen.
Was nun aber die jetzt zur Verhandlung stehende Sache betrifft: wenn wir alle Masken und
Scheinfarben wegreißen und wahrhaft auf das achten, dem in erster Linie unsere Sorge gelten muß
und das uns auch am allermeisten angeht, wenn wir nämlich darauf achten, was für eine Kirche
Christus haben will, damit wir uns nach seiner Regel richten und verhalten, so werden wir leicht zu
der festen Überzeugung kommen: das ist nicht die Kirche, die unter Außerachtlassung aller Grenzen
des Wortes Gottes in Übermut und Willkür neue Gesetze aufstellt! Der Kirche ist doch einmal das
Gesetz gegeben worden: "Alles, was ich dir gebiete, das sollst du halten, daß du darnach tust. Du
sollst nichts dazutun noch davontun" (Deut. 13,1; eigentlich alles in der Mehrzahl) – und bleibt
dies Gesetz nicht ewig bestehen? An anderer Stelle heißt es: "Tue zu dem Wort des Herrn nichts
hinzu und tue nichts davon, auf daß er dich nicht strafe und du werdest lügenhaft erfunden"
(Spr. 30,6; Anfang ungenau). Da nun unsere Widersacher nicht leugnen können, daß dies Wort der
Kirche gesagt ist, was behaupten sie dann anders als die Widerspenstigkeit der Kirche, wenn sie
rühmen, sie habe es nach derartigen Verboten nichtsdestoweniger gewagt, der Unterweisung Gottes aus
dem Ihrigen heraus etwas zuzufügen oder beizumischen. Es sei aber ferne, daß wir zu ihren Lügen,
mit denen sie der Kirche solche Schmach antun, unsererseits Ja sagten; nein, wir sollen erkennen,
daß der Name "Kirche" fälschlich vorgewendet wird, so oft man sich (verteidigend) um diese
Willkür der menschlichen Vermessenheit bemüht, die sich nicht innerhalb der Gebote Gottes halten
kann, sondern frech losspringt und ihren eigenen Erfindungen zueilt. An den (obigen) Worten, in
denen der gesamten Kirche verboten wird, zu Gottes Wort, wenn es sich um die Verehrung des Herrn und
seine heilsamen Weisungen handelt, etwas zuzufügen oder etwas davonzutun, ist nichts verhüllt,
nichts dunkel, nichts zweideutig. Ja, wird man sagen, aber das ist nur vom Gesetz gesagt, und diesem
sind doch die Worte der Propheten und die ganze Austeilung des Evangeliums gefolgt! Das gebe ich
freilich zu, und ich füge gleich noch an: Prophetenworte und Evangelium sind vielmehr Erfüllung
des Gesetzes als etwa Zusatz oder Verkürzung. Wenn nun aber der Herr, obwohl der Dienst des Mose
unter sehr vielen Hüllen sozusagen im Dunkeln lag, trotzdem nicht duldet, daß etwas dazugetan oder
davon weggenommen wird, bis er durch seine Knechte, die Propheten, und schließlich durch seinen
geliebten Sohn eine deutlichere Unterweisung ausgehen läßt – warum sollen wir dann nicht dafür
halten, daß es uns noch viel schärfer untersagt ist, zum Gesetz, zu den Propheten, zu den Psalmen
und zum Evangelium noch etwas hinzuzufügen? Der Herr, der schon längst erklärt hat, daß er durch
nichts so sehr beleidigt wird, als wenn man ihn nach Menschenfündlein verehrt, er ist sich selbst
nicht untreu geworden. Daher auch jene herrlichen Worte bei den Propheten, die uns immerfort in den
Ohren klingen sollten. So: "Ich habe euren Vätern des Tages, da ich sie aus Ägyptenland führte,
weder gesagt noch geboten von Brandopfern und anderen Opfern; sondern dies gebot ich ihnen und
sprach: Gehorchet meinem Wort, so will ich euer Gott sein und ihr sollt mein Volk sein; und wandelt
auf allen Wegen, die ich euch gebiete ..." (Jer. 7,22f.). Oder ebenso: "Ich habe euren Vätern
stets bezeugt und gesagt: Gehorchet meiner Stimme!" (Jer. 11,7; nicht ganz Luthertext). Dazu
kommen andere Worte gleicher Art; herrlich vor anderen aber ist dies: "Meinst du, daß der Herr
Lust habe am Brandopfer und Opfer und nicht vielmehr daran, daß man seiner Stimme gehorche? Siehe,
Gehorsam ist besser denn Opfer und Aufmerken besser denn das Fett von Widdern. Denn Ungehorsam ist
eine Zaubereisünde, und Widerstreben ist Abgötterei ..." (1. Sam. 15,22f.; nicht ganz
Luthertext). Wenn man also irgendwelche Menschenfündlein in diesem Stück mit der Autorität der
"Kirche" verteidigt, so läßt sich sofort beweisen, daß sie der Kirche zu Unrecht beigemessen
werden, weil sie ja von der Sünde der Gottlosigkeit nicht freizusprechen sind.
IV,10,18 Aus diesem Grunde gehen wir auf diese Tyrannei menschlicher
Satzungen, die uns unter dem Namen der "Kirche" hochfahrend aufgedrungen wird, unbefangen vor.
Denn es ist nicht so, wie unsere Widersacher es unbillig erlügen, um uns verhaßt zu machen: wir
treiben nicht etwa mit der Kirche Spott, sondern wir zollen ihr das Lob des Gehorsams – und ein
größeres Lob kennt sie nicht! vielmehr tun unsere Widersacher der Kirche bitteres Unrecht; denn
sie stellen sie als widerspenstig gegen ihren Herrn dar, indem sie so tun, als ob sie weiter
gegangen wäre, als es ihr durch des Herrn Wort erlaubt war. Ich will noch davon schweigen, was für
eine augenfällige Unverschämtheit, verknüpft mit einer ebensolchen Niederträchtigkeit, es ist,
wenn man immerfort von der "Gewalt der Kirche" ein großes Geschrei macht, unterdessen aber
davon schweigt, was der Kirche von dem Herrn aufgetragen und welchen Gehorsam sie der Weisung des
Herrn schuldig ist. Wenn wir aber, wie es billig ist, den Willen haben, mit der Kirche in Eintracht
zu leben, dann gehört dazu vielmehr dies, daß wir darauf sehen und uns daran erinnern, was uns und
der Kirche von dem Herrn vorgeschrieben wird, damit wir ihm in einer Eintracht gehorchen! Denn es
steht außer Zweifel, daß wir mit der Kirche aufs beste in Eintracht leben werden, wenn wir uns dem
Herrn in allen Dingen gehorsam erweisen. Wenn unsere Widersacher nun aber den Ursprung der
Satzungen, von denen die Kirche bislang unterdrückt worden ist, auf die Apostel zurückführen, so
ist das eitel Betrug. Denn die ganze Lehre der Apostel geht darauf aus, daß die Gewissen nicht mit
neuen Aufsätzen beschwert werden und die Verehrung Gottes nicht durch unsere Fündlein besudelt
wird. Zudem: wenn man den Geschichtsbüchern und den alten Urkunden einige Glaubwürdigkeit
beimessen muß, so ist den Aposteln das, was unsere Widersacher ihnen beilegen, nicht nur unbekannt,
sondern unerhört gewesen. Die Papisten sollen auch nicht schwatzen, sehr viele Lehren der Apostel
seien eben durch Übung und Gewohnheit zur Annahme gelangt, während sie schriftlich nicht
überliefert wären; das seien nämlich jene, die sie, als Christus noch lebte, noch nicht zu
begreifen vermocht, nach seiner Himmelfahrt aber durch Offenbarung des Heiligen Geistes gelernt
hätten, von der Auslegung der hier herangezogenen Stelle (Joh. 16,12f.) haben wir bereits
anderwärts gesprochen (Kap. 8, Sektion 8 und 13). Für die jetzt zur Erörterung stehende Sache
genügt dies:unsere Widersacher machen sich ja wahrhaftig selber lächerlich, indem sie aus jenen
gewaltigen Geheimnissen, die den Aposteln so lange Zeit hindurch unbekannt gewesen sein sollen,
teils jüdische oder heidnische Gebräuche machen – wo doch die einen bei den Juden, die anderen bei
den Heiden schon lange vorher bekanntgemacht waren -, teils auch närrische Gebärden und sinnlose
Zeremonien, die alberne Priester, die von Tuten und Blasen keine Ahnung haben, durchaus nach allen
Regeln der Kunst zu üben vermögen, ja, die gar Kinder und Narren so geschickt nachmachen, daß man
den Eindruck gewinnen könnte, es gäbe gar keine geeigneteren Meister zu solchen heiligen
Handlungen! Selbst wenn es keine Geschichtsbücher gäbe, so würden verständige Leute doch aus den
Tatsachen selbst heraus zu dem Urteil gelangen, daß ein so großer Haufen von Zeremonien und
Gebräuchen nicht auf einmal in der Kirche eingerissen ist, sondern sich nach und nach
eingeschlichen hat. Denn nachdem die heiligeren Bischöfe, die den Aposteln der Zeit nach am
nächsten standen, bereits einige Einrichtungen getroffen hatten, die sich auf Ordnung und Zucht
bezogen, sind dann hernach, einer nach dem anderen, Leute gefolgt, die nicht besonnen genug, dazu
auch gar zu vorwitzig und leidenschaftlich waren, und die haben nun, je später sie auftraten, in um
so törichterer Eifersucht mit ihren (jeweiligen) Vorgängern gewetteifert, um ihnen nur ja nicht in
der Ausklügelung von Neuerungen nachzustehen. Und weil die Gefahr bestand, daß ihre Fündlein in
kurzer Zeit in Abgang gerieten, während sie doch aus ihnen bei den Nachkommen Ruhm zu erlangen
trachteten – so waren sie in der Forderung nach Beobachtung ihrer Fündlein viel schärfer. Diese
verkehrte Nacheiferung hat uns einen guten Teil jener Gebräuche eingetragen, die uns die Papisten
als apostolisch verkaufen wollen. Eben das bezeugen auch die Geschichtsbücher.
IV,10,19 Aber wenn wir von allen Zeremonien ein Register zusammenstellen
wollten, so würden wir gar zu sehr ins Weite geraten. Um das zu vermeiden, wollen wir uns mit einem
einzigen Beispiel begnügen. In der Bedienung des Heiligen Abendmahls bestand unter den Aposteln
große Einfachheit. Ihre nächsten Nachfolger haben zum Preis der Würde des Geheimnisses
(Sakraments) einiges hinzugefügt, das nicht zu mißbilligen wäre. Aber hernach sind jene
närrischen Nachmacher dazugekommen, die nach und nach die verschiedenartigen Stückchen
zusammengeflickt und uns die Gewandung des Priesters, die wir in der Messe zu sehen bekommen, dazu
auch den heutigen Altarschmuck, die heutzutage üblichen Gebärden und den ganzen Packen von
unnützen Dingen zusammengestellt haben. Jedoch werden unsere Widersacher den Einwand machen, es
habe in alter Zeit die Überzeugung bestanden, daß alles, was in der gesamten Kirche in voller
Einmütigkeit geschähe, von den Aposteln selbst ausgegangen sei. Dafür ziehen sie Augustin als
Zeugen heran. Ich werde dagegen nirgendwo anders her als eben aus den Worten Augustins die
Widerlegung vorbringen. "Was auf dem ganzen Erdkreis gehalten wird", sagt er, "das läßt sich
als von den Aposteln selbst oder von den allgemeinen Konzilien, deren Autorität in der Kirche sehr
heilsam ist, festgesetzt erkennen: so zum Beispiel, daß das Leiden, die Auferstehung und
Himmelfahrt des Herrn sowie die Ankunft des Heiligen Geistes mit jährlich wiederkehrenden Festen
gefeiert werden, dazu kommt auch, was sonst in dieser Art vorgekommen ist, wenn es von der ganzen
Kirche gehalten wird, soweit sie sich auch ausbreitet" (Brief 54, an Januarius). Wer sollte, da
Augustin nur so wenige Beispiele aufzählt, nicht bemerken, daß er den Wunsch gehabt hat, die
damals üblichen Bräuche, und zwar nur jene einfachen, an Zahl geringen und schlichten, in welche
die Ordnung der Kirche nützlicherweise verfaßt ist, auf Gewährsmänner zurückzuführen, die
Glauben und Ehrfurcht verdienten? Wie weit aber ist das von dem entfernt, was die römischen Meister
erzwingen wollen, nämlich daß es bei ihnen keine geringe Zeremonie geben soll, die nicht als
apostolisch gelten müßte!
IV,10,20 Um es nicht zu lang zu machen, will ich nur ein einziges Beispiel
vorbringen. Wenn jemand die Römischen fragt, woher sie ihr "Weihwasser" hätten, so antworten
sie sogleich: von den Aposteln. Als ob die Geschichtsbücher dieses Fündlein nicht ich weiß nicht
was für einem Bischof von Rom zuschrieben, der, wenn er die Apostel zu Rate gezogen hätte, die
Taufe sicherlich nie und nimmer mit solchem ihr fremden und unangebrachten Merkzeichen besudelt
hätte. Allerdings ist es mir auch nicht wahrscheinlich, daß dieser Weiheakt (mit dem Wasser)
bereits zu so alter Zeit entstanden ist, wie man es in den Geschichtsbüchern darstellt. Denn
Augustin sagt, zu seiner Zeit hätten einige Kirchen den nach Christi Vorbild geschehenden
feierlichen Brauch der Fußwaschung vermieden, damit es nicht den Anschein hätte, als gehörte
dieser zur Taufe (Brief 55, an Januarius); damit aber zeigt er mittelbar, daß es damals keinerlei
Waschung gab, die mit der Taufe irgendeine Ähnlichkeit gehabt hätte. Wie dem auch sei, so werde
ich jedenfalls unter keinen Umständen zugeben, daß es aus apostolischem Geiste hervorgegangen sei,
daß man die Taufe vermittelst eines tagtäglich wiederkehrenden Zeichens ins Gedächtnis
zurückruft und sie dadurch gewissermaßen wiederholt. Ich bekümmere mich auch nicht darum, daß
der nämliche Augustin an anderer Stelle auch selbst manche anderen Dinge den Aposteln zuschreibt.
Denn er hat nichts als Vermutungen, und deshalb darf man auf ihrer Grundlage in so wichtiger Sache
kein Urteil fällen. Und schließlich: selbst wenn wir zugeben, die von ihm erwähnten Gebräuche
rührten aus der Zeit der Apostel her, so besteht doch noch ein großer Unterschied, ob man
irgendeine Übung für die Frömmigkeit einrichtet, die die Gläubigen mit freiem Gewissen
ausführen, aber auch, wenn die Ausübung ihnen keinen Segen trägt, unterlassen können, oder ob
man ein Gesetz aufstellt, das die Gewissen in Knechtschaft verstricken soll. Mag nun aber der, von
dem diese Gebräuche ausgegangen sind, sein, wer er will, so sehen wir doch nun, daß sie in einen
so schweren Mißbrauch verfallen sind, und deshalb steht nichts im Wege, daß wir sie, ohne ihrem
Urheber damit Schande zu tun, abschaffen; denn sie haben nie und nimmer eine solche Empfehlung
bekommen, daß sie etwa fort und fort unberührt weiterbestehen müßten!
IV,10,21 Auch hilft es unseren Widersachern nicht viel, daß sie als Vorwand
zur Beschönigung ihrer Tyrannei das Beispiel der Apostel anführen. Die Apostel und Ältesten der
ersten Kirche, so sagen sie, haben doch außerhalb der Anweisung Christi mit bindender Wirkung einen
Beschluß ausgehen lassen, kraft dessen sie allen Heiden geboten, sie sollten sich des
Götzenopfers, des Erstickten und des Blutes enthalten (Apg. 15,20). Wenn ihnen das erlaubt war,
warum sollten nicht auch ihre Nachfolger das Recht haben, ihnen das gleiche nachzutun, so oft die
Verhältnisse es erfordern? Ach, wenn sie ihnen sonst stets in anderen Dingen und dann auch ebenso
in dieser Sache nachfolgen wollten! Denn ich behaupte, daß die Apostel in diesem Fall gar nichts
Neues eingerichtet oder beschlossen haben, und ich kann das auch leicht mit starken Gründen
beweisen. Denn Petrus erklärt in diesem Konzil, man versuche Gott, wenn man den Jüngern ein Joch
auf den Nacken legte (Apg. 15,10); gibt er also hernach seine Zustimmung dazu, daß man ihnen doch
ein Joch auferlegt, so wirft er selbst seine Meinung über den Haufen. Tatsächlich aber würde
ihnen ein solches Joch aufgelegt, wenn die Apostel aus eigener Autorität beschlössen, man müsse
den Heiden verbieten, Götzenopfer, Blut und Ersticktes anzurühren! Nun bleibt aber noch das
Bedenken bestehen, daß sie trotzdem ein Verbot auszusprechen scheinen. Aber das wird leicht behoben
werden, wenn man auf den Sinn dieses Beschlusses genauer sein Augenmerk richtet; denn der
Reihenfolge nach das erste und der Bedeutung nach das wichtigste Hauptstück diesesBeschlusses ist
doch dies, man müsse den Heiden ihre Freiheit lassen, dürfe sie nicht verwirren und ihnen wegen
der Gebräuche des Gesetzes keine Beschwernis bereiten (Apg. 15,19.24.28). Bis dahin steht der
Beschluß glänzend auf unserer Seite. Die Ausnahme, die aber dann gleich folgt (Apg. 15,20.29), ist
nun nicht ein neues Gesetz, das die Apostel gegeben hätten, sondern ein göttliches und ewiges
Gebot Gottes, nämlich daß wir die Liebe nicht verletzen sollen, und ebensowenig benimmt sie jener
Freiheit auch nur ein Pünktlein, sondern macht die Heiden nur darauf aufmerksam, auf welche Weise
sie sich den Brüdern anpassen sollen, um ihre Freiheit nicht dahin zu mißbrauchen, daß sie den
Brüdern einen Anstoß bereite. So ist nun also dies der zweite Hauptpunkt dieses Beschlusses: die
Heiden sollen ihre Freiheit gebrauchen, ohne damit jemand zu Schaden und ohne den Brüdern einen
Anstoß zu geben. Ja, wird man sagen, aber sie geben doch eine ganz bestimmte Vorschrift! Gewiß,
soweit es für die damalige Zeit nützlich war, lehren sie nämlich und machen sie deutlich, mit
welchen Dingen die Heiden bei ihren Brüdern solches Ärgernis erregen könnten, und zwar geschieht
das, damit sie sich vor diesen Dingen in acht nehmen; dagegen ist es nicht so, als ob sie zu dem
ewigen Gesetz Gottes, das uns verbietet, den Brüdern Anstoß zu geben, aus dem Eigenen heraus etwas
Neues hinzufügten.
IV,10,22 Es ist so, wie wenn treue Hirten, die einer noch nicht recht
geordneten Kirche vorstehen, all den Ihrigen die Weisung geben, am Freitage nicht öffentlich
Fleisch zu essen, an den Festtagen nicht öffentlich zu arbeiten und ähnliches, bis daß die
Schwachen, mit denen sie zusammenleben, herangewachsen sind. Denn diese Dinge sind zwar, wenn man
den Aberglauben beiseiteläßt, an und für sich "Mitteldinge"; sobald aber ein Anstoß für die
Brüder hinzukommt, kann man sie nicht treiben, ohne sich zu versündigen. Die Zeiten sind aber
derart, daß die Gläubigen ihren schwachen Brüdern diesen Anblick nicht vor Augen führen dürfen,
ohne ihr Gewissen dadurch aufs schwerste zu verletzen. Wer wird nun – er sei denn ein Lästerer -
behaupten wollen, hier würde ein neues Gesetz gemacht, während doch solche Männer (die derartige
Verbote aussprechen) unzweifelhaft bloß Anstöße verhindern wollen, die von dem Herrn
ausdrücklich genug untersagt sind? Nichts mehr läßt sich auch von den Aposteln behaupten; denn
wenn diese den Anlaß für Anstöße aus dem Wege räumten, so hatten sie damit doch nichts anderes
im Sinne, als auf das göttliche Gesetz Nachdruck zu legen, das uns die Vermeidung von Ärgernissen
gebietet. Es ist, als wenn sie gesagt hätten: Es ist Gottes Gebot, daß ihr den schwachen Bruder
nicht verletzt; ihr könnt nun aber das, was den Abgöttern geopfert ist, das Erstickte und das Blut
nicht essen, ohne daß daran die schwachen Brüder Anstoß nehmen; wir gebieten euch also in dem
Worte des Herrn, daß ihr nicht unter solchem Ärgernis esset. Dafür, daß eben dies die Absicht
der Apostel gewesen ist, ist Paulus der beste Zeuge; denn er schreibt unzweifelhaft allein auf Grund
der Entscheidung jenes Konzils: "Von dem Götzenopfer aber wissen wir ..., daß ein Götze nichts
sei ... Etliche aber machen sich noch ein Gewissen über dem Götzen und essen’s für
Götzenopfer; damit wird ihr Gewissen, weil es so schwach ist, befleckt ... Sehet ... zu, daß ...
eure Freiheit nicht gerate zu einem Anstoß der Schwachen!" (1. Kor. 8,1.4.7.9; fast ganz
Luthertext). Wer das recht erwogen hat, dem wird man dann weiter nichts vormachen können, wie es
die Leute tun, die sich zur Beschönigung ihrer Tyrannei auf die Apostel berufen, als ob diese mit
ihrem Beschluß angefangen hätten, die Freiheit der Kirche zu brechen. Aber damit unsere
Widersacher nicht darum herumkommen, mit ihrem eigenen Zugeständnis diese Lösung zu bekräftigen,
so sollen sie mir doch antworten, mit welchem Recht sie eben jenen Beschluß abzuschaffen gewagt
haben! Sie haben es doch deshalb getan, weil von jenen Ärgernissen und Entzweiungen, denen die
Apostel hatten begegnen wollen, weiter keine Gefahr mehr drohte, und weil sie wußten, daß ein
Gesetz nach seiner Absicht beurteilt werden muß. Da also dies Gesetz mit Rücksicht auf die Liebe
erlassen worden ist, so wird in ihm nur soviel geboten, wie die Liebe erfordert. Wenn sie nun
zugeben, daß es keine andere Übertretung dieses Gesetzes gibt als die Verletzung der Liebe,
weshalb erkennen sie dann nicht zugleich an, daß es eben nicht ein selbstersonnener Zusatz zu
Gottes Gesetz ist, sondern vielmehr eine saubere und einfache Anwendung desselben auf die Zeiten und
Sitten, für die es bestimmt war?
IV,10,23 Aber die Papisten behaupten, daß wir solchen (kirchlichen)
Gesetzen, und mögen sie auch hundertmal unbillig und ungerecht für uns sein, dennoch ohne Ausnahme
zu gehorchen haben. Sie sagen, es handle sich hier nicht darum, daß wir zu Irrtümern unsere
Zustimmung geben, sondern nur darum, daß wir als Untertanen die harten Befehle unserer Oberen
durchführen sollten, da es nicht unsere Sache sei, uns ihnen zu entziehen. Aber auch hier kommt uns
der Herr aufs beste mit der Wahrheit seines Wortes zu Hilfe und rettet uns aus solcher Knechtschaft
in die Freiheit, die er uns mit seinem heiligen Blute erworben hat (1. Kor. 7,23), dessen Wohltat er
uns in seinem Worte mehr als einmal versiegelt. Denn es handelt sich nicht – wie unsere Widersacher
in ihrer Bosheit vorgeben – bloß darum, daß wir an unserem Leibe einige schwere Bedrückung
ertragen sollen, nein, es geht darum, daß unsere Gewissen ihrer Freiheit, das heißt der Wohltat
des Blutes Christi, beraubt werden und knechtisch gequält werden sollen! Aber ich will auch das
beiseitelassen, als ob es wenig zur Sache täte. Wieviel aber macht es nach unserer Meinung aus,
daß dem Herrn sein Reich entrissen wird, das er mit solcher Strenge für sich in Anspruch nimmt?
Tatsächlich wird ihm aber das Reich geraubt, so oft man ihn nach den Gesetzen menschlicher
Fündlein verehrt; denn er will allein als Gesetzgeber für die Verehrung gelten, die man ihm
erweist. Damit nun aber niemand meint, das sei eine unwesentliche Sache, so wollen wir hören, welch
hohen Wert ihr der Herr beimißt. "Darum", spricht er, "daß mich dies Volk fürchtet nach
Menschengebot und Menschenlehren, siehe, so will ich es bestürzt machen mit einem gewaltigen und
erstaunlichen Wunder; denn seinen Weisen wird die Weisheit entfallen, und von den Ältesten soll der
Verstand weichen" (Jes. 29,13f.; nicht Luthertext). An anderer Stelle heißt es: "Vergeblich
dienen sie mir, dieweil sie lehren solche Lehren, die nichts denn Menschengebote sind" (Matth.
15,9). Und in der Tat wird die Ursache für das ganze Unheil, daß die Kinder Israel sich mit
vielfältiger Abgötterei besudelt haben, dieser unsauberen Vermischung zugeschrieben, die dadurch
entstand, daß sie Gottes Gebote übertraten und sich neue Gottesdienste zusammenschmiedeten. Daher
berichtet auch die heilige Geschichte, daß die neu hinzugekommenen Einwohner, die der König von
Babel herangeführt hatte, um Samaria zu bevölkern, von wilden Tieren zerrissen und gefressen
worden seien, und zwar deshalb, weil sie die Rechte und Satzungen "des Gottes im Lande" nicht
gekannt hätten. Selbst wenn sie bei den Zeremonien nichts versehen hätten, so wäre Gott doch das
inhaltlose Gepränge nicht wohlgefällig gewesen; aber er hat unterdessen nicht davon abgesehen, die
Schändung seiner Verehrung zu strafen, weil die Menschen selbsterdachte Dinge aufbrachten, die mit
seinem Worte nichts zu tun hatten. Deshalb heißt es hernach, sie hätten, durch diese Bestrafung
erschreckt, die im Gesetz vorgeschriebenen Gebräuche angenommen; aber weil sie Gott noch nicht rein
verehrten, so wird zweimal wiederholt, sie hätten Gott verehrt und doch auch wieder nicht verehrt
(1. Kön. 17,24f.32f.41). Daraus entnehmen wir, daß die Ehrfurcht, die ihm erzeigt wird, zum Teil
darin besteht, daß wir bei seiner Verehrung einfältig dem folgen, was er uns gebietet, undkeine
eigenen Erfindungen hineinmengen. Deshalb werden auch die gottesfürchtigen Könige häufiger darum
gelobt, weil sie nach allen Geboten gehandelt hätten und weder zur Rechten noch zur Linken
abgewichen wären (2. Kön. 22,1f.; 1. Kön. 15,11; 22,43; 2. Kön. 12,3; 14,3; 15,3; 15,34; 18,3).
Ich gehe noch weiter: selbst wenn in einer vom Menschen ersonnenen Gottesverehrung keine
offenkundige Gottlosigkeit zutage tritt, so wird sie vom Heiligen Geiste doch streng verurteilt,
weil man von Gottes Gebot abgewichen ist. Der Altar des Ahas, dessen Vorbild von Samaria
herbeigebracht war, konnte den Eindruck erwecken, als ob er den Zierat des Tempels vermehrte; denn
Ahas hatte die Absicht, auf ihm Gott allein Opfer darzubringen, und das konnte er hier glanzvoller
tun als auf dem ersten, althergebrachten Altar; trotzdem aber sehen wir, daß der Heilige Geist
diese Vermessenheit verflucht, und zwar aus keiner anderen Ursache, als weil Menschenfündlein bei
der Verehrung Gottes unreine Verderbnisse darstellen (2. Kön. 16,10-18). Und je klarer uns der
Wille Gottes offenbart ist, desto weniger ist die Frechheit zu entschuldigen, hier irgend etwas zu
versuchen. Deshalb wird die Schuld des Manasse verdientermaßen durch den Umstand schwerer gemacht,
daß er in Jerusalem einen neuen Altar aufgerichtet hatte, während doch Gott von der Stadt gesagt
hatte: "Ich will meinen Namen zu Jerusalem setzen" (2. Kön. 21,3f.). Denn jetzt bedeutete ja
seine Tat geradezu eine vorsätzliche Schmähung der Autorität Gottes.
IV,10,24 Viele verwundern sich, warum denn der Herr so scharf droht, er
wolle dem Volke, von dem er nach Menschengeboten verehrt würde, erstaunliche Dinge zufügen (Jes.
29,13f.), und warum er kundmacht, es sei umsonst, wenn man ihm nach Menschensatzungen diene (Matth.
15,9). Aber wenn diese Leute ihr Augenmerk darauf richteten, was es bedeutet, in Sachen der
Religion, das heißt der himmlischen Weisheit, allein an Gottes Mund zu hängen, so würden sie
zugleich sehen, daß keine geringfügige Ursache besteht, weshalb der Herr dergleichen verkehrte "Dienste",
die ihm nach der Willkür der menschlichen Vernunft geleistet werden, dermaßen verabscheut. Denn
obgleich die Menschen, die solchen Gesetzen für die Verehrung Gottes Folge leisten, in diesem ihrem
Gehorsam einen gewissen Schein von Demut haben, so sind sie doch vor Gott keineswegs demütig, weil
sie ihm ja die gleichen Gesetze vorschreiben, die sie selber innehalten. Das ist aber der Grund,
weshalb Paulus will, daß wir uns so fleißig davor hüten, uns von den Überlieferungen der
Menschen betrügen zu lassen (Kol. 2,4) und von jener "selbsterwählten Geistlichkeit", wie er
sie nennt, das heißt also von dem eigenwilligen und abseits von Gottes Unterweisung durch Menschen
ausgeklügelten Gottesdienst. So ist es in der Tat: sowohl unsere eigene als aller Menschen Weisheit
muß uns zur Torheit werden, damit wir ihn allein weise sein lassen! Diesen Weg halten die aber in
keiner Weise inne, die sich ihm mit frommen Übungen, die nach menschlichem Gutdünken ausgedacht
sind, angenehm zu machen trachten und ihm gleichsam wider seinen Willen den verkehrten Gehorsam
aufdrängen, der (tatsächlich) Menschen geleistet wird. So ist es früher manche Jahrhunderte lang
und auch noch zu unseren Zeiten geschehen, und so geschieht es auch heute noch an jenen Orten, da
man den Befehl des Geschöpfs höher achtet als den des Schöpfers, an jenen Orten, wo die Religion
- wenn dergleichen trotz allem noch Religion genannt zu werden verdient – mit vielfältigerem und
närrischerem Aberglauben verunreinigt ist als je irgendein Heidentum. Denn was sollte der Sinn der
Menschen anders hervorbringen können als lauter fleischliche, törichte Dinge, die wahrhaftig das
Ebenbild ihrer Urheber darstellen?
IV,10,25 Die Schutzmeister solcher abergläubischen Gebräuche berufen sich
auch darauf, daß Samuel in Rama geopfert habe und daß dies, obwohl es gegen das Gesetz geschehen
sei, doch Gottes Wohlgefallen gefunden habe (1. Sam. 7,17). Da ist nun die Lösung leicht: es
handelt sich hier nicht um einen zweiten Altar, den er im Gegensatz zu dem einzig rechtmäßigen
aufgerichtet hätte, sondern er hat, da für die Bundeslade noch keine Stätte verordnet war, die
Stadt, in der er wohnte, für die Opfer bestimmt als die dazu am besten geeignete. Jedenfalls hatte
der heilige Prophet nicht im Sinn, im Bezug auf die heiligen Handlungen irgendeine Neuerung
einzuführen, wo doch Gott so streng verbot, etwas zuzufügen oder abzustreichen. Was nun das
Beispiel des Manoah betrifft, so behaupte ich, daß es sich da um etwas Außerordentliches und
Einzigartiges gehandelt hat (Richt. 13,19). Manoah brachte als ein amtloser Mann Gott ein Opfer dar,
und das geschah nicht ohne Gottes Billigung, weil er es eben nicht aus einer unüberlegten Regung
seines Herzens heraus unternahm, sondern auf einen himmlischen Antrieb hin. Wie sehr aber Gott
verabscheut, was die Sterblichen aus sich selbst ausklügeln, um ihn zu verehren, dafür dient uns
ein anderer als augenfälliger Beweis, der nicht niedriger steht als Manoah, nämlich Gideon, dessen
Ephod nicht nur ihm selbst und seiner Familie, fondern dem ganzen Volke zum Verderben geworden ist
(Richt. 8,27). Kurzum, jegliches fremde Fündlein, mit dem die Menschen Gott zu verehren begehren,
ist nichts anderes als eine Befleckung der wahren Heiligkeit.
IV,10,26 Weshalb, so fragen unsere Widersacher, wollte denn Christus, daß
jene unerträglichen Lasten, welche die Schriftgelehrten und Pharisäer den Leuten aufbanden, doch
getragen würden (Matth. 23,3)? Ja (antworte ich), warum hat denn der nämliche Christus an anderer
Stelle verlangt, man solle sich vor dem Sauerteig der Pharisäer in acht nehmen (Matth. 16,6)? Und
dabei versteht er nach der Erläuterung des Evangelisten Matthäus unter "Sauerteig" alles, was
die Pharisäer der Reinheit des Wortes Gottes an eigener Lehre beimischten (Matth. 16,12). Was
wollen wir Deutlicheres, als daß er uns befiehlt, ihre ganze Lehre zu meiden und uns vor ihr zu
hüten? Von daher wird es uns völlig gewiß, daß der Herr auch an der anderen Stelle (Matth. 23,3)
nicht gewollt hat, daß die Gewissen der Seinigen mit den eigenen Satzungen der Pharisäer gepeinigt
würden. Auch die Worte selbst ergeben, wenn man ihnen nur nicht Gewalt antut, nichts dergleichen.
Denn da hatte der Herr im Sinn, gegen die Sitten der Pharisäer mit bitterer Schärfe loszufahren;
dabei lehrte er nun aber seine Zuhörer von vornherein einfach, sie sollten, obwohl sie an dem
Lebenswandel der Pharisäer nichts zu sehen bekamen, dem sie etwa hätten folgen sollen, doch nicht
davon ablassen, das zu tun, was diese mit dem Wort lehrten, wenn sie "auf Moses Stuhl" saßen,
das heißt, wenn sie dasaßen, um das Gesetz auszulegen. Er wollte also nichts anderes als von
vornherein verhüten, daß das Volk durch das schlechte Beispiel derer, die es lehrten, zur
Verachtung der Lehre selbst verleitet würde. Aber weil sich manche Leute mit Gründen nicht im
mindesten bewegen lassen, sondern immer nach einer Autorität fragen, so will ich noch Worte
Augustins folgen lassen, in denen voll und ganz das gleiche gesagt wird. "Die Herde des Herrn",
sagt er, "hat zu ihren Vorstehern teils Kinder (Gottes), teils Mietlinge. Die Vorsteher, die
Kinder sind, die sind die wahren Hirten; vernehmet aber, daß auch die Mietlinge notwendig sind,
viele nämlich in der Kirche predigen Christus und jagen dabei nach irdischen Vorteilen; durch sie
nun kommt die Stimme Christi zu Gehör, und die Schafe folgen nicht dem Mietling, sondern dem
Hirten- durch den Mietling! Höret nun, wie die Mietlinge von dem Herrn selbst gekennzeichnet
werden. ‘Auf Mose’s Stuhl’, spricht er, ‘sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer; was sie
sagen, das tut, was sie aber tun, das tut nicht.’ Was hat er damit andersgesagt als: höret durch
die Mietlinge die Stimme des Hirten? Denn wenn sie auf dem ‘Stuhl’ sitzen, so lehren sie Gottes
Gesetz; also lehrt Gott durch sie. Wenn sie aber ihre eigenen Dinge lehren wollen, so hört nicht
darauf und tut nicht danach" (Predigten zum Johannesevangelium 46,5f.). So Augustin.
IV,10,27 Es gibt nun aber viele unerfahrene Leute, die, wenn sie hören,
daß durch die menschlichen Satzungen die Gewissen der Menschen gottlos gebunden werden und Gott
vergebens verehrt wird, mit dem gleichen Zuge auch alle Gesetze durchstreichen, durch welche die
Ordnung der Kirche geregelt wird. Es ist also angebracht, daß wir auch ihrem Irrtum hier
entgegentreten. Man kann hier sicherlich überaus leicht ausgleiten und sich täuschen; denn es
tritt nicht gleich auf den ersten Blick klar zutage, was für ein großer Unterschied zwischen jenen
Menschensatzungen und den rechten kirchlichen Ordnungen besteht. Ich werde aber die ganze Sache mit
wenigen Worten so deutlich auseinandersetzen, daß sich keiner mehr von der Ähnlichkeit betrügen
läßt. Da müssen wir zunächst dies wissen: wenn wir sehen, daß in jeglicher Gemeinschaft von
Menschen eine bestimmte öffentliche Gewalt erforderlich ist, die in der Lage sein soll, den
gemeinen Frieden zu fördern und die Eintracht aufrechtzuerhalten, und wenn wir sehen, daß bei
allem Handeln stets ein gewisser Brauch herrscht, den nicht zu verschmähen der öffentlichen
Ehrbarkeit und auch geradezu der Menschlichkeit dienlich ist, so muß es in besonderer Weise in den
Kirchen so gehalten werden, die einerseits bei einer gutgeregelten Ordnung aller Dinge aufs beste
erhalten bleiben, andererseits aber ohne Eintracht durchaus nicht bestehen können. Wenn wir also
wollen, daß für das Wohlbestehen der Kirche gut gesorgt werde, so muß mit höchstem Eifer darauf
Nachdruck gelegt werden, daß es nach der Anweisung des Paulus geht: "Lasset alles ehrbar und
ordentlich zugehen" (1. Kor. 14,40). Da aber die Sitten der Menschen so verschieden, ihre Gemüter
so vielartig und ihre Urteile und Einfälle so widersprechend sind, so ist keine öffentliche Gewalt
stark genug, wenn sie nicht durch bestimmte Gesetze geregelt ist, und es kann auch kein Brauch
irgendwelcher Art ohne eine festgelegte Form aufrechterhalten werden. Die Gesetze also, die dazu
dienen, wollen wir so wenig verurteilen, daß wir vielmehr behaupten, daß mit ihrer Abschaffung die
Kirchen von ihren Muskeln losgelöst und gänzlich verunstaltet und zerrüttet werden. Denn was
Paulus fordert, nämlich daß "alles ehrbar und ordentlich zugehe", das läßt sich nicht
festhalten, wenn Ordnung und Ehrbarkeit nicht dadurch Bestand haben, daß man Regeln hinzufügt, die
dann gleich Bändern wirken. Nur muß man bei solchen Regeln stets die Bedingung machen: sie dürfen
nicht für heilsnotwendig gehalten werden und dementsprechend die Gewissen mit heiliger Scheu
binden, ebenso dürfen sie nicht auf die Verehrung Gottes bezogen werden, und deshalb darf die
Frömmigkeit nicht auf ihnen beruhen.
IV,10,28 Wir haben also ein sehr gutes und höchst zuverlässiges
Kennzeichen, das den Unterschied aufzeigt zwischen jenen gottlosen Satzungen, mit denen, wie bereits
ausgeführt, die Religion verdunkelt wird und die Gewissen zu Fall gebracht werden, und den
rechtmäßigen Lebensregeln der Kirche; (dies gewinnen wir) wenn wir bedenken, daß die letzteren
stets einer von den beiden folgenden Aufgaben dienen sollen oder auch beiden zugleich, erstens soll
bei der heiligen Versammlung der Frommen alles ehrbar und mit der gebührenden Würde zugehen, und
zweitens soll die Gemeinschaft der Menschen selbst gleichsam durch Bande der Menschlichkeit und des
Maßhaltens in Ordnung gehalten werden. Sobald man nämlich einmal begreift, daß ein Gesetz um der
öffentlichen Ehrbarkeit willen ge-geben ist, da ist auch schon der Aberglaube behoben, in den
solche Leute verfallen, die die Verehrung Gottes nach menschlichen Fündlein bemessen. Und wiederum,
wo man erkennt, daß das Gesetz dem gemeinen Nutzen dienen soll, da ist jener falsche Wahn von
Verbindlichkeit und Notwendigkeit hinfällig geworden, der den Gewissen einen ungeheuren Schrecken
einjagte, weil sie meinten, solche Satzungen seien zum Heil notwendig. Denn es wird hier nichts
gesucht, als daß die Liebe unter uns durch gemeinsame Dienstleistung gefördert werde. Es ist aber
angebracht, daß wir noch deutlicher umschreiben, was unter jener "Ehrbarkeit" die uns Paulus
anbefiehlt, und ebenso unter jener "Ordnung" verstanden ist (1. Kor. 14,40). Die "Ehrbarkeit"
dient nun folgendem Zweck: einerseits sollen wir, indem fromme Gebräuche zur Anwendung kommen, um
den heiligen Dingen Ehrfurcht zu verschaffen, durch derartige Hilfsmittel zur Frömmigkeit
aufgemuntert werden, andererseits sollen dabei auch Bescheidenheit und Ernst, die bei allen
ehrenhaften Verrichtungen zu sehen sein müssen, in höchstem Maße ans Licht treten. Bei der "Ordnung"
ist das erste dies, daß die, die zu leiten haben, die Regel und das Gesetz für eine gute
Regierungsführung kennen, das Volk aber, das regiert wird, sich an den Gehorsam gegen Gott und an
die rechte Zucht gewöhnt. Das zweite ist, daß durch einen wohlgeordneten Zustand der Kirche für
Frieden und Ruhe gesorgt wird.
IV,10,29 "Ehrbarkeit" werden wir also nicht das nennen, was nichts als
eitle Ergötzlichkeit in sich trägt; ein Beispiel dafür sehen wir etwa in jenem schauspielartigen
Gepränge, das die Papisten bei ihren heiligen Handlungen entfalten, in denen nichts in die
Erscheinung tritt als die nutzlose Maske der Zierlichkeit und ein Prunk, der keine Frucht trägt.
Nein, "Ehrbarkeit" soll für uns das sein, was der Ehrfurcht vor den heiligen Geheimnissen in
solcher Weise dient, daß es eine geeignete Übung zur Frömmigkeit darstellt, oder was wenigstens
zu einer Ausschmückung beiträgt, die zu der betreffenden Handlung paßt, und zwar nicht ohne
Frucht, sondern um die Gläubigen daran zu mahnen, mit wieviel Bescheidenheit, heiliger Scheu und
Ehrerbietung sie die heiligen Dinge behandeln sollen. Um nun aber Übungen der Frömmigkeit zu sein,
müssen uns die Zeremonien geraden Weges zu Christus hinführen. Und ebenso werden wir unter "Ordnung"
nicht jenes läppische Gepränge verstehen, das nichts als eitlen Glanz besitzt, sondern vielmehr
eine solche Regelung, die alle Verwirrung, Barbarei und Widerspenstigkeit, allen Zank und Streit
behebt. Für die erste Gruppe (also für Einrichtungen, die der "Ehrbarkeit" dienen) gibt es
Beispiele bei Paulus; so z.B. daß mit dem heiligen Abendmahl des Herrn nicht unheilige Gastmähler
vermengt werden dürfen und daß die Frauen nur verhüllt in der Öffentlichkeit erscheinen sollen
(1. Kor. 11,21.5). Sehr viele andere Beispiele dafür haben wir im täglichen Gebrauch; dazu gehört
es, daß wir beim Beten die Knie beugen und das Haupt entblößen, daß wir die Sakramente des Herrn
nicht unordentlich, sondern mit einer gewissen Würde austeilen, daß wir beim Begräbnis der
Verstorbenen eine gewisse Ehrbarkeit walten lassen – und was sonst noch dazu kommt. Zu der zweiten
Gruppe (also zu den Satzungen, die der "Ordnung" dienen) gehört es, daß für die öffentlichen
Gebete, Predigten und heiligen Handlungen bestimmte Stunden festgesetzt sind, daß bei den Predigten
Stille und Schweigen herrscht, daß bestimmte Plätze vorhanden sind, daß man Gesänge anstimmt,
daß für die Feier des Herrnmahles bestimmte Tage vorher festgelegt werden; hierher gehört es
auch, daß Paulus das Lehren der Frauen in der Kirche verbietet (1. Kor. 14,34), und ähnliches
mehr. Vor allem aber ist hier das zu nennen, was die Zucht erhält, wie der kirchliche Unterricht,
die Kirchenzucht, der Bann, das Fasten und was sonst in dieser Art noch aufzuzählen wäre.So lassen
sich alle kirchlichen Satzungen, die wir als heilig und heilsam annehmen, in zwei Hauptstücken
zusammenfassen: die einen beziehen sich nämlich auf Gebräuche und Zeremonien, die anderen auf die
Zucht und den Frieden.
IV,10,30 Aber es besteht hier die Gefahr, daß auf der einen Seite die
falschen Bischöfe aus unseren Ausführungen einen Vorwand nehmen, um ihre gottlosen, tyrannischen
Gesetze zu entschuldigen, auf der anderen Seite aber einige gar zu furchtsame Menschen stehen, die,
durch die früheren Mißstände gewarnt, nun keinem einzigen Gesetz mehr Raum geben wollen, selbst
wenn es noch so heilig wäre. Angesichts dieser Gefahr ist es angebracht, hier zu bezeugen, daß ich
nur solche menschlichen Satzungen gutheiße, die auf Gottes Autorität gegründet, aus der Schrift
entnommen und deshalb voll und ganz göttlich sind. Als Beispiel will ich das Kniebeugen nehmen, das
ja stattfindet, wenn feierliche Gebete gehalten werden. Die Frage ist nun, ob das eine menschliche
Überlieferung ist, die jedermann verwerfen oder unterlassen darf. Ich behaupte: es ist menschlich,
aber so, daß es zugleich göttlich ist. von Gott kommt es, sofern es ein Stück jener "Ehrbarkeit"
ist, für die wir, wie uns der Apostel anbefiehlt, sorgen und die wir innehalten sollen (1. Kor.
14,40). Von den Menschen kommt es, sofern es im besonderen aufzeigt, was (von dem Apostel) im
allgemeinen mehr angedeutet als dargelegt worden war. Von diesem einen Beispiel aus läßt sich
ermessen, wie wir über diese ganze Gruppe zu urteilen haben: (1.) Da der Herr die ganze Hauptsumme
der wahren Gerechtigkeit und alle Stücke der Verehrung seines gottheitlichen Wesens, dazu
überhaupt alles, was zum Heil notwendig war, in seinen heiligen Offenbarungsworten getreulich
zusammengefaßt und auch deutlich ausgelegt hat, so ist in diesen Dingen er allein als Meister zu
hören. (2.) Weil er nun aber in der äußeren Zuchtübung und den Zeremonien nicht im einzelnen hat
vorschreiben wollen, was wir da zu befolgen haben – er sah eben vor, daß dies von den
Zeitumständen abhängig wäre, und war nicht des Urteils, daß eine und dieselbe Form für alle
Zeiten passend wäre -, so müssen wir hier zu den allgemeinen Regeln unsere Zuflucht nehmen, die er
uns gegeben hat, damit nach ihnen alles ausgerichtet werde, was die Notdurft der Kirche je an
Vorschriften für "Ordnung" und "Ehrbarkeit" erforderlich machen wird. (3.) Und
schließlich: er hat ja deshalb nichts Ausdrückliches vorgeschrieben, weil diese Dinge nicht
heilsnotwendig sind und weil sie je nach den Sitten des einzelnen Volkes und der einzelnen Zeit in
verschiedener Weise zur Auferbauung der Kirche angewendet werden müssen; daher wird es am Platze
sein, je wie es der Nutzen der Kirche erfordert, sowohl im Gebrauch befindliche Einrichtungen
abzuändern oder abzutun, als auch neue zu schaffen. Ich gebe zwar zu, daß man nicht unüberlegt,
auch nicht immer wieder und auch nicht aus geringfügigen Ursachen zur Neuerung greifen darf. Aber
was Schaden bringt oder was erbaut, das wird die Liebe am besten beurteilen; wenn wir sie unsere
Meisterin sein lassen, so wird alles gut stehen.
IV,10,31 Nun ist es aber die Pflicht des christlichen Volkes, das, was nach
dieser Richtschnur eingerichtet ist, zwar mit freiem Gewissen und ohne allen Aberglauben, aber doch
mit frommer und gehorsamswilliger Neigung innezuhalten, es nicht verächtlich zu behandeln und nicht
mit lässiger Nichtachtung zu übergehen. So wenig kann die Rede davon sein, daß es sie etwa aus
Aufgeblasenheit oder Widerspenstigkeit offen verletzen dürfte! Wieso kann nun aber, so wird man
fragen, bei solcher Ehrerbietung und Behütsamkeit von einer Freiheit des Gewissens die Rede sein?
Ja, allerdings! Sie wird herrlich bestehen, wenn wir in Betracht ziehen, daß es sich hier nicht um
unveränderliche, ewige Festsetzungen handelt, an die wir gebunden wären, sondern um äußerliche
Übungen der menschlichen Schwachheit, die wir zwar nicht alle nötig haben, aber doch alle
ausführen, weil wir es einer dem anderen schuldig sind, untereinander die Liebe zu pflegen. Das
läßt sich an den weiter oben aufgeführten Beispielen erkennen, wieso, besteht die Religion etwa
in dem Kopftuch der Frau, so daß es eine Sünde wäre, wenn sie mit bloßem Haupte ausginge? Ist
jenes Gebot von dem Stillschweigen der Frau (in der Gemeinde) etwa heilig, so daß man es nicht
verletzen kann, ohne die schlimmste Missetat zu begehen? Steckt etwa im Kniebeugen (beim Beten) oder
im Begräbnis der Leichname ein Geheimnis, so daß man es nicht ohne Sünde unterlassen könnte?
Durchaus nicht! Denn wenn eine Frau, um ihrem Nächsten zu helfen, so große Eile nötig hat, daß
sie infolgedessen ihr Haupt nicht verhüllen kann, dann tut sie keine Sünde, wenn sie mit
unverschleiertem Haupte herzueilt. Auch gibt es Gelegenheiten, wo ihr das Reden nicht weniger
ansteht als sonstwo das Schweigen. Nichts verbietet auch, daß einer, der durch Krankheit verhindert
ist, die Knie zu beugen, stehend betet. Und endlich: es ist besser, einen Verstorbenen frühzeitig
zu begraben, als daß man, wenn kein Leichenkleid vorhanden ist oder keine Leute da sind, um ihn zu
geleiten, solange wartet, bis er unbeerdigt in Verwesung übergeht. Nichtsdestoweniger aber steht es
mit diesen Dingen so, daß uns die Landesgewohnheit, die bestehenden Einrichtungen und schließlich
das menschliche Empfinden und die Regel der Bescheidenheit schon in den Sinn geben, was zu tun oder
zu meiden ist. Hat da nun einer durch Unklugheit oder Vergeßlichkeit etwas verkehrt gemacht, so ist
damit kein Verbrechen begangen, ist es aber aus Verachtung (der Ordnung) geschehen, so ist die
(darin zutage tretende) Widerspenstigkeit zu mißbilligen. Ebenso macht es nichts aus, welches die
(für den Gottesdienst vorgesehenen) Tage und Stunden sind, wie der Aufbau der Plätze (in der
Kirche) sich gestaltet, und welche Psalmen an den einzelnen Tagen gesungen werden sollen. Daß
dagegen (überhaupt) bestimmte Tage und festgesetzte Stunden bestehen, daß ein Raum vorhanden ist,
um alle aufzunehmen, das ist erforderlich, wenn man irgendwie auf die Erhaltung des Friedens Bedacht
nimmt. Denn zu was für großen Streitigkeiten würde die Verwirrung in diesen Dingen den Keim
bilden, wenn jeder nach seinem Geschmack ändern dürfte, was doch dem gemeinsamen Wohlbestehen
dienen soll! Denn wenn man die Dinge gleichsam in die Mitte stellt und sie dem Gutdünken des
einzelnen überläßt, dann wird es nie und nimmer vorkommen, daß allen das gleiche zusagt. Wenn
nun jemand Widerrede erhebt und hier klüger sein will, als es sich gehört, dann soll er selber
zusehen, auf welche Art er dem Herrn seinen Eigensinn wohlgefällig macht! Uns aber soll das Wort
des Paulus genug sein, wir hätten nicht die Gepflogenheit zu streiten, und die Kirchen Gottes auch
nicht (1. Kor. 11,16).
IV,10,32 Man muß sich nun aber mit höchstem Eifer darum bemühen, daß
sich nicht ein Irrtum einschleicht, der diesen reinen Gebrauch (der kirchlichen Satzungen) vergiftet
und verfinstert. Das wird aber erreicht werden, wenn alle bestehenden Satzungen einen offenkundigen
Nutzen an den Tag legen, wenn sie nur sehr sparsam zugelassen werden, vor allem aber, wenn die
Unterweisung eines treuen Hirten dazukommt und allen verkehrten Meinungen den Zugang von vornherein
verschließt. Diese Erkenntnis aber bewirkt, daß jeder in allen diesen Dingen seine Freiheit
behält, und daß trotzdem jeder freiwillig seiner Freiheit einen gewissen Zwang auferlegt, sofern
es jene "Ehrbarkeit", von der wir sprachen, oder auch das Bedachtnehmen auf die Liebe erfordert.
Ferner wird jene Einsicht zur Folge haben, daß wir bei der Beobachtung dieser Dinge ohne allen
Aberglauben handeln und sie auch nicht gar zu eigensinnig von anderen verlangen, daß wir einen
Gottesdienst nicht etwa um der Fülle der Zeremonien willen für besser halten und daß nicht eine
Kirche die andere wegen der Verschiedenheit der äußeren Ordnung geringschätzt. Und endlich wird
solche Erkenntnis dafür sorgen, daß wir unshier kein ewiges Gesetz aufrichten, sondern die ganze
Übung solcher Gebräuche und auch ihren Zweck auf die Erbauung der Kirche beziehen und es für den
Fall, daß sie es erheischt, ohne Anstoß ertragen, daß nicht nur das eine oder andere verändert
wird, sondern auch alle Gebräuche, die zuvor bei uns in Übung standen, abgetan werden. Denn daß
die Zeitumstände es mit sich bringen können, daß manche Gebräuche, die im übrigen nicht gottlos
oder unziemlich waren, abgeschafft werden müssen, weil die Verhältnisse es erheischen, – dafür
ist unsere Zeit ein wirksamer Beweis. Denn bei der großen Blindheit und Unwissenheit der
vergangenen Zeit haben die Kirchen früher in solch verkehrtem Wahn und so hartnäckigem Eifer an
den Zeremonien gehangen, daß sie kaum genugsam von dem ungeheuerlichen Aberglauben gereinigt werden
konnten, ohne daß viele Zeremonien abgeschafft wurden, die in alter Zeit vielleicht nicht ohne
Grund eingerichtet worden waren und an und für sich keine Gottlosigkeit erkennen ließen.
Von der Rechtsprechung der Kirche und deren Mißbrauch, wie er im Papsttum zu sehen
ist
IV,11,1 Jetzt bleibt noch das dritte Stück der Kirchengewalt übrig, und
zwar das, das bei einem wohlgeordneten Stand der Kirche das wichtigste ist: es liegt, wie wir
bereits sagten, in der Rechtsprechung. Nun bezieht sich die gesamte kirchliche Rechtsprechung auf
die Sittenzucht, von der wir bald noch zu reden haben werden. Wie nämlich keine Stadt und kein Dorf
ohne Obrigkeit und öffentliches Regiment bestehen kann, so bedarf auch die Kirche Gottes, wie ich
bereits dargelegt habe, aber jetzt abermals zu wiederholen genötigt bin, gewissermaßen ihres
geistlichen Regiments, das aber von dem bürgerlichen völlig unterschieden ist und es keineswegs
behindert oder schwächt, sondern ihm vielmehr wesentliche Hilfe und Förderung schafft. Diese
kirchliche Rechtsprechungsgewalt wird also in ihrem wesentlichen Inhalt nichts anderes sein als eine
Ordnung, die dazu eingerichtet ist, das geistliche Regiment zu erhalten. Zu diesem Zweck hat man in
der Kirche von Anfang an richterliche Behörden eingerichtet, um die Sittenzucht zu üben, gegen
Laster strafend vorzugehen und das Amt der Schlüssel zu verwalten. Diesen Stand (d.h. die
Ältesten) hat Paulus im (ersten) Korintherbrief im Auge, indem er von "Regierern" spricht (1.
Kor. 12,28). Und das gleiche meint er im Römerbrief, wenn er sagt: "Regiert jemand, so sei er
sorgfältig" (Röm. 12,8). Denn er redet da nicht die Obrigkeiten an – christliche Obrigkeiten gab
es damals nicht -, sondern die, welche den "Hirten" zum Zweck des geistlichen Regiments der
Kirche beigeordnet waren. Auch im (ersten) Brief an Timotheus spricht er von zweierlei Ältesten,
solchen, "die da arbeiten am Wort", und anderen, die die Predigt des Wortes nicht üben, aber
doch "wohl vorstehen" (1. Tim. 5,17). Unzweifelhaft meint er nun mit dieser zweiten Gruppe die
Männer, die zur Aufsicht über die Sitten und zum gesamten Gebrauch der Schlüssel eingesetzt
waren. Denn diese Gewalt, von der wir hier sprechen, hängt voll und ganz an den "Schlüsseln",
die Christus seiner Kirche übergeben hat, wie es bei Matthäus im achtzehnten Kapitel berichtet
wird. Da gebietet der Herr, die, welche persönliche Ermahnungen verachtet haben, im Namen der
ganzen Gemeinde ernstlich zu vermahnen, und lehrt, daß solche Leute bei verharren in ihrer
Halsstarrigkeit aus der Gemeinschaft der Gläubigen auszustoßen sind (Matth. 18,15-18). Nun können
aber solche Vermahnungen und Strafen nicht ohne vorherige Untersuchung des Falles vor sich gehen,
und deshalb bedarf es eines richterlichen Verfahrens und einer gewissen Ordnung. Wenn wir also die
Verheißung der Schlüssel nicht ungültig machen und Bann, feierliche Vermahnungen und dergleichen
aus dem Wege räumen wollen, so müssen wir der Kirche eine gewisse Rechtsprechung zugestehen. Die
Leser müssen beachten, daß es sich an jener Stelle (Matth. 18) nicht um die allgemeine
Lehrautorität (der Kirche) handelt, wie das Matth. 16 (Vers 19) und Johannes 20 (Vers 23) der Fall
ist, sondern daß hier das Recht des Synedriums für die Zukunft auf die Herde Christi übertragen
wird. Bis zu jenem Tage hatten die Juden ihre eigene Regierungsweise; diese richtet nun Christus,
soweit es die reine Einrichtung (als solche) betrifft, in seiner Kirche auf. Und zwar geschieht das
mit einer ernsten Strafandrohung. So war es nämlich erforderlich, weil sonst das Urteil der
unansehnlichen, verachteten Kirche von unbesonnenen und aufgeblasenen Leuten hätte in den Wind
geschlagen werden können.Damit es nun den Leser nicht stört, daß Christus mit den gleichen Worten
zwei Dinge andeutet, die untereinander ziemlich verschieden sind, so wird es von Nutzen sein, diesen
Knoten aufzulösen. Es gibt zwei Stellen, die vom Binden und Lösen reden. Die eine steht im 16.
Kapitel bei Matthäus: da gibt Christus zunächst die Verheißung, er wolle dem Petrus "des
Himmelreichs Schlüssel geben", und dann fügt er gleich hinzu, was Petrus auf Erden gebunden oder
gelöst hätte, das solle auch im Himmel so gelten (Matth. 16,19). Mit diesen Worten gibt der Herr
nichts anderes zu erkennen als mit den anderen, die sich bei Johannes (Joh. 20,23) finden: da ist er
im Begriff, die Jünger zur Predigt auszusenden, und, nachdem er sie "angeblasen" hat, spricht
er zu ihnen: "Welchen ihr die Sünden erlasset, denen sollen sie erlassen sein, und welchen ihr
sie behaltet, denen sollen sie auch im Himmel behalten sein" (Joh. 20,23; nicht Luthertext). Ich
will nun eine Deutung vorbringen, die nicht spitzfindig, nicht gezwungen und nicht verdreht, sondern
vielmehr klar, eindeutig und leicht zugänglich ist. Dieser Auftrag (an die Jünger), Sünden zu
erlassen und zu behalten, wie auch jene Verheißung an Petrus bezüglich des Bindens und Lösens
(Matth. 16,19) dürfen auf nichts anderes bezogen werden als auf den Dienst am Wort: indem der Herr
den Aposteln diesen Dienst anvertraute, rüstete er sie zugleich mit diesem Amte aus, zu binden und
zu lösen. Denn was anders ist die Hauptsumme des Evangeliums, als daß wir alle, die wir Knechte
der Sünde und des Todes sind, losgesprochen und frei gemacht werden durch die Erlösung, die in
Christus Jesus ist, daß aber die, die Christus nicht als Befreier und Erlöser annehmen und
erkennen, zu ewigen Banden verurteilt und überantwortet sind? Als der Herr seinen Aposteln diese
Botschaft übergab, damit sie sie zu allen Nationen trügen, da ehrte er sie, um zu bekräftigen,
daß sie seine Botschaft und von ihm ausgegangen war, mit diesem herrlichen Zeugnis, und zwar zu
außerordentlicher Stärkung der Apostel selbst wie auch aller, zu denen sie dringen sollte. Es war
von Belang, daß die Apostel eine sichere und beständige Gewißheit für ihre Predigt bekamen; denn
sie sollten nicht allein unendlichen Mühen, Sorgen, Unbequemlichkeiten und Gefahren entgegengehen,
sondern diese Predigt auch schließlich mit ihrem Blute besiegeln! Damit sie nun, so meine ich,
wußten, daß diese Botschaft nicht eitel und inhaltlos, sondern voller Gewalt und Kraft war, so war
es von Belang, daß sie in so großer Bedrängnis, so großen Schwierigkeiten der Verhältnisse und
so großen Gefahren die Überzeugung hatten, daß sie Gottes Sache trieben, es war von Belang, daß
sie inmitten der Gegnerschaft und des Widerstandes der ganzen Welt erkannten, daß Gott ihnen zur
Seite stand, es war von Belang, daß sie begriffen, daß Christus, den sie zwar dem Anblick nach
nicht auf Erden bei sich gegenwärtig hatten, im Himmel sei, um die Wahrheit der Lehre zu
bekräftigen, die er ihnen übergeben hatte! Auf der anderen Seite mußte es auch ihren Zuhörern
aufs gewisseste bezeugt sein, daß jene Lehre des Evangeliums nicht das Wort der Apostel war,
sondern Gottes eigenes Wort, daß sie nicht auf Erden entstanden, sondern vom Himmel herabgekommen
war. Denn solche Dinge wie die Vergebung der Sünden, die Verheißung des ewigen Lebens und die
Botschaft des Heils können ja nicht in der Gewalt des Menschen stehen. Christus hat also bezeugt,
daß an der Predigt des Evangeliums den Aposteln nichts eigen war als der Dienst, daß dagegen er es
war, der durch ihren Mund wie durch ein Werkzeug alles reden und verheißen wollte. Deshalb sei, so
bezeugte er, die Vergebung der Sünden, die sie verkündigten, Gottes wahrhaftige Verheißung, die
Verdammnis, die sie androhten, Gottes gewisses Urteil. Dieses Zeugnis aber ist für alle Zeiten
gegeben, und es bleibt fest bestehen, um allen die Gewißheit und Sicherheit zu verleihen, daß das
Wort des Evangeliums, von welchem Menschen es schließlich auch verkündigt werden mag, Gottes
höchsteigenerSpruch ist, vor dem höchsten Richterstuhl verkündet, im Buche des Lebens
aufgezeichnet und im Himmel gültig, fest und unwandelbar. Wir sehen also, daß die Schlüsselgewalt
an jenen Stellen einfach die Predigt des Evangeliums ist, und daß sie, wenn wir auf die Menschen
unser Augenmerk richten, nicht sowohl eine Gewalt, als vielmehr einen Dienst darstellt. Denn im
eigentlichen Sinne hat Christus diese Vollmacht nicht Menschen gegeben, sondern seinem Worte, zu
dessen Dienern er die Menschen gemacht hat.
IV,11,2 Es gibt dann, wie gesagt, noch eine zweite Stelle, die von der
Vollmacht zum Binden und Lösen handelt. Diese findet sich Matthäus 18 (Matth. 18,17f.); da spricht
Christus: "Wenn ein Bruder die Kirche nicht hört, so halt’ ihn als einen Heiden und Zöllner.
Wahrlich, ich sage euch: was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was
ihr lösen werdet, das soll gelöst sein" (Matth. 18,17f.; nicht immer Luthertext). Diese Stelle
ist der erstgenannten nicht in jeder Hinsicht ähnlich, sondern in einem etwas verschiedenen Sinne
zu verstehen. Freilich halte ich die beiden Stellen auch nicht für so verschieden, daß sie nicht
miteinander viel Verwandtes hätten. Gemeinsam ist ihnen vor allem dies: es handelt sich bei beiden
um allgemeine Aussagen, die Vollmacht zum Binden und Lösen ist in beiden Fällen von der gleichen
Art – sie geschieht nämlich durch das Wort Gottes -, gleich ist der Auftrag und gleich ist auch die
Verheißung. Dagegen unterscheiden sich die beiden Stellen darin, daß die erste in besonderer Weise
von der Predigt handelt, die die Diener am Wort üben, die zweite sich dagegen auf die Bannzucht
bezieht, die der Kirche zugestanden ist. Die Kirche "bindet" nun den, den sie in den Bann tut -
nicht, daß sie ihn in ewiges Verderben und ewige Verzweiflung stürzt, sondern daß sie sein Leben
und seinen Wandel verurteilt und ihn, wofern er sich nicht bekehrt, schon jetzt an seine Verdammnis
gemahnt. Sie "löst" den, den sie wieder in ihre Gemeinschaft aufnimmt; denn sie macht ihn damit
gleichsam zum Teilgenossen an der Einheit, die sie in Christo Jesu hat. Damit also niemand
halsstarrig das Urteil der Kirche verachtet oder es gering anschlägt, daß er durch den Spruch der
Gläubigen verurteilt ist, bezeugt der Herr, daß solch Urteil der Gläubigen nichts anderes ist als
die Verkündung seines eigenen Spruchs, und daß das, was die Gläubigen aus Erden vollzogen haben,
im Himmel als gültig angesehen wird. Denn die Gläubigen haben das Wort Gottes, um die Verkehrten
zu verdammen, sie haben das Wort, um die, die da umkehren, wieder zu Gnaden anzunehmen. Irren aber
können sie nicht, auch können sie nicht im Widerspruch zu Gottes Urteil stehen; denn sie urteilen
allein auf Grund des Gesetzes Gottes, und das ist keine ungewisse oder irdische Meinung, sondern
Gottes heiliger Wille und himmlisches Offenbarungswort! Aus diesen beiden Stellen, die ich kurz und
dazu auch verständlich und wahrheitsgemäß ausgelegt zu haben meine, versuchen nun jene
Schwarmgeister (die Papisten) ohne Unterschied, je nachdem, wie sie ihr Schwindel treibt, bald die
Beichte, bald den Bann, bald die Rechtsprechung, bald das Recht zur Gesetzgebung, bald den Ablaß zu
begründen. Die erste Stelle führen sie auch noch an, um die Obergewalt des römischen Stuhls zu
beweisen. So wissen sie ihre "Schlüssel", je wie es ihnen gefällt, für alle Schlösser und
Türen passend zu machen, so daß man sagen möchte, sie hätten ihr Leben lang das
Schlosserhandwerk betrieben!
IV,11,3 Manche Leute bilden sich nun ein, all dies sei bloß zeitlich (und
vorübergehend) gewesen, weil dazumal die Obrigkeiten dem Bekenntnis unserer Religion noch fremd
gegenübergestanden hätten. Wer das meint, der täuscht sich, weil er nicht beachtet, was für ein
großer Unterschied und was für eine erhebliche Ungleichartigkeit zwischen der kirchlichen und der
bürgerlichen Gewalt besteht. Denn die Kirche besitzt nicht das Schwertrecht, um damit zu strafen
und zu züchtigen, sie hat keine Befehlsgewalt, um einen Zwang auszuüben, sie hat keinen Kerker und
auch keine anderen Strafen, wie sie gewöhnlich von der Obrigkeit verhängt werden. Außerdem hat
die Kirche nicht im Sinne, daß der, der sich vergangen hat, gegen seinen Willen gestraft werde,
nein, er soll durch freiwillige (Hinnahme der) Züchtigung seine Bußfertigkeit erzeigen. Es handelt
sich also um zwei ganz verschiedene Dinge; denn weder maßt sich die Kirche etwas an, das der
Obrigkeit eigentümlich wäre, noch kann die Obrigkeit ausrichten, was die Kirche vollbringt. An
einem Beispiel wird das leichter verständlich werden. Nehmen wir an, es hat sich jemand betrunken.
In einer Stadt mit richtiger Ordnung wird er in diesem Fall mit Gefängnis bestraft. Oder nehmen wir
an, er hat Unzucht getrieben. Dann wird er ähnlich oder auch noch härter bestraft. Damit ist den
Gesetzen, der Obrigkeit und dem äußeren Gericht Genüge geschehen. Nun kann es aber vorkommen,
daß der Betreffende kein Zeichen von Buße erkennen läßt, sondern vielmehr noch dagegen murrt und
schimpft. Soll es nun die Kirche dabei bewenden lassen? Nun können aber solche Leute nicht zum
Abendmahl zugelassen werden, ohne daß damit Christus und seiner heiligen Stiftung Schande
erwächst. Auch erfordert es die Vernunft, daß einer, der der Kirche durch böses Beispiel Anstoß
bereitet hat, dieses Ärgernis, das er erregt hat, durch feierliche Beteuerung seiner Bußfertigkeit
behebt. Die Ursache, die nun jene Leute, die entgegengesetzter Ansicht sind, für sich anführen,
ist gar zu bedeutungslos. Sie sagen: Christus hat diese Aufgabe der Kirche aufgetragen, weil es
keine Obrigkeit gab, um sie auszuführen. Aber es kommt doch häufig vor, daß die Obrigkeit
einigermaßen nachlässig ist, ja vielleicht gar manchmal, daß sie selbst gestraft werden muß, wie
es auch dem Kaiser Theodosius widerfahren ist. Zudem könnte das gleiche fast von dem gesamten
Dienst am Wort gesagt werden. Nun laß also die Hirten einmal nach der Ansicht jener Leute
aufhören, die offenbaren Laster zu strafen, daß sie aufhören, zu tadeln, zu beschuldigen und zu
schelten! Denn es gibt ja christliche Obrigkeiten, die dergleichen mit den Gesetzen und mit dem
Schwert strafen sollen! Ich sage jedenfalls trotzdem: wie die Obrigkeit mit Strafe und Zwangsübung
die Kirche von den Ärgernissen reinigen muß, so muß der Diener am Wort wiederum der Obrigkeit
beistehen, damit nicht so viele Leute sündigen. So müssen beide Dienste miteinander verbunden
sein, so daß einer dem anderen behilflich und nicht hinderlich ist.
IV,11,4 Und wahrlich, wenn jemand Christi Worte (Matth. 18) genauer erwägt,
dann wird er mit Leichtigkeit erkennen, daß in ihnen eine beständige und bleibende Ordnung in der
Kirche beschrieben wird, nicht aber eine bloß zeitliche. Denn es ist nicht sinngemäß, daß wir
die, die unseren (persönlichen) Vermahnungen nicht gehorchen wollen, bei der Obrigkeit anzeigen -
und doch müßte es so geschehen, wenn die Obrigkeit inzwischen an die Stelle der Kirche getreten
wäre! Christus gibt die Verheißung: "Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, was ihr binden werdet
auf Erden ..."; sollen wir nun sagen, diese bezöge sich nur auf ein einziges Jahr oder auf einige
wenige? Außerdem hat Christus an dieser Stelle nichts Neues eingerichtet, sondern er ist der
Gewohnheit gefolgt, die in der alten Kirche seines Volkes stets innegehalten worden war, und damit
gab er zu erkennen, daß die Kirche der geistlichen Rechtsprechung nicht entbehren kann, die seit
Anbeginn bestanden hatte. Und das ist auch durch das einmütige Urteil aller Zeiten bekräftigt
worden. Denn als die Kaiser und die Obrigkeiten anfingen, sich zu Christus zu bekennen, da hat man
nicht etwa gleich die geistliche Rechtsprechung abgeschafft, sondern sie nur in der Weise geordnet,
daß sie der bürgerlichen keinen Abbruch tat und mit ihr nicht durcheinandergebracht wurde. Und das
mit Recht; denn eine Obrigkeit wird sich, wenn sie fromm ist, nicht etwa dem gemeinsamen Gehorsam
der Kinder Gottes entziehen wollen, dessen nicht unwichtigstes Stück es ist, sich der Kirche, wenn
sie nach Gottes Wort urteilt, zu unterwerfen -geschweige denn, daß sie etwa solches Urteil
abschaffen müßte! "Denn was gibt es Ehrenvolleres", sagt Ambrosius, "als daß der Kaiser ein
Sohn der Kirche genannt werde? Denn ein guter Kaiser steht innerhalb der Kirche und nicht über der
Kirche" (Predigt gegen Auxentius 36). Jene Leute also, die, um die Obrigkeit zu ehren, der Kirche
solche Gewalt rauben, die verfälschen nicht nur durch unrichtige Auslegung Christi Wort, sondern
sprechen zugleich über alle heiligen Bischöfe, deren es seit der Zeit der Apostel so viele gegeben
hat, ein sehr hartes Verdammungsurteil, weil diese sich (dann) unter einem falschen Vorwand die Ehre
und das Amt der Obrigkeit angemaßt hätten.
IV,11,5 Aber auf der anderen Seite ist es auch angebracht, daß wir zusehen,
auf welche Weise man in alter Zeit die kirchliche Rechtsprechung geübt hat und was für ein großer
Mißbrauch dann eingeschlichen ist. Das ist von Nutzen, damit wir erfahren, was abgeschafft und was
aus der alten Zeit wiedereingeführt werden muß, wenn wir, nachdem das Reich des Antichrist
gestürzt ist, das wahre Reich Christi wieder aufrichten wollen. In erster Linie hat nun die
kirchliche Rechtsprechung den Richtpunkt, daß den Ärgernissen gewehrt und daß ein etwa
entstandenes Ärgernis aus dem Wege geräumt werde. Bei ihrer Ausübung sind vor allem zwei Dinge zu
beachten: erstens muß diese geistliche Gewalt von dem (der Obrigkeit zustehenden) Schwertrecht voll
und ganz geschieden werden, und zweitens darf ihre Ausübung nicht nach dem Ermessen eines
einzelnen, sondern nur durch eine rechtmäßige Versammlung geschehen. Beides ist bei der reineren
Kirche so gehandhabt worden (1. Kor. 5,4f.). (1.) Denn die heiligen Bischöfe haben ihre Gewalt
nicht mit prügeln oder mit dem Kerker oder mit anderen bürgerlichen Strafen ausgeübt, sondern sie
haben, wie es sich gebührte, allein das Wort des Herrn angewandt. Denn die strengste Strafe, die
die Kirche anwenden kann, gleichsam der allerschlimmste Wetterstrahl, ist der Bann, der allein in
der Not zur Anwendung kommt. Dieser aber erfordert nicht Gewalt noch Handanlegung, sondern begnügt
sich mit der Gewalt des Wortes Gottes. Kurzum, die Rechtsprechung der alten Kirche war nichts
anderes als sozusagen eine mit der Tat erfolgte (practica) Erklärung dessen, was Paulus über die
geistliche Gewalt der Hirten lehrt. "Uns ist", so sagt er, "eine Gewalt gegeben, um damit
Befestigungen zu zerstören, um alle Höhe zu erniedrigen, die sich erhebt wider die Erkenntnis
Gottes, um alle Erkenntnis zu unterwerfen und sie gefangenzunehmen unter den Gehorsam Christi; wir
sind aber bereit, zu rächen allen Ungehorsam" (2. Kor. 10,4-6; nicht überall Luthertext,
teilweise ungenau). Wie nun aber dies durch die Predigt der Lehre Christi geschieht, so müssen
andererseits die, die sich als Hausgenossen des Glaubens bekennen, eben auf Grund dessen, was
gelehrt wird, auch beurteilt werden, damit die Lehre nicht zum Gespött wird. Das aber kann nicht
geschehen, als wenn mit dem Amte zugleich das Recht verbunden ist, diejenigen aufzurufen, die
persönlich vermahnt oder schärfer zurechtgewiesen werden müssen, und auch das Recht, diejenigen
von der Gemeinschaft am Heiligen Abendmahl fernzuhalten, die nicht ohne Entheiligung dieses großen
Geheimnisses (Sakraments) zugelassen werden könnten. Während also Paulus an anderer Stelle
erklärt, es sei nicht unsere Sache, "die draußen" zu "richten" (1. Kor. 5,12), unterwirft
er die Kinder der Kirche der Zuchtübung, durch die ihre Laster gestraft werden sollen, und deutet
damit an, daß damals (in der Kirche) eine Gerichtsbarkeit bestand, der keiner unter den Gläubigen
entnommen war.
IV,11,6 (2.) Solche Gewalt aber lag, wie wir bereits festgestellt haben,
nicht bei einem einzelnen, so daß er nach seinem Gutdünken hätte tun können, was er wollte,
sondern bei der Versammlung der Ältesten, die in der Kirche das darstellte, was in der Stadt der
Rat ist. Wenn Cyprian erwähnt, durch welche Männer diese Gewalt zu seiner Zeit ausgeübt wurde, so
pflegt er dem Bischof den gesamten "Klerus" beizuordnen (Brief 16,2; 17,2). Jedoch zeigt er an
anderer Stelle auch, wie zwar der "Klerus" dabei die Leitung hatte, aber doch so, daß
unterdessen das "Volk" nicht von der Untersuchung ausgeschlossen wurde; er schreibt nämlich:
"Seit dem Anfang meiner Wirksamkeit als Bischof habe ich mir vorgenommen, ohne den Rat des Klerus
und die Einwilligung des Volkes nichts zu unternehmen" (Brief 14,4). Die allgemeine und
gebräuchliche Art und Weise war aber die, daß die Rechtsprechung der Kirche durch den Rat der "Presbyter"
(Ältesten) ausgeübt wurde. Unter diesen gab es, wie gesagt, zwei Gruppen; die einen waren nämlich
zum Lehren bestimmt, die anderen dagegen waren bloß Aufseher über die Sitten. Allmählich ist
diese Einrichtung von ihrer ursprünglichen Art abgekommen, so daß bereits zur Zeit des Ambrosius
allein die "Kleriker" in den kirchlichen Gerichten an der Untersuchung teilnahmen. Das beklagt
Ambrosius selbst mit den Worten: "Die alte Synagoge und hernach die Kirche hatte Älteste, ohne
deren Rat nichts unternommen wurde; das ist nun durch ich weiß nicht welche Nachlässigkeit heute
in Abgang geraten – es müßte denn vielleicht die Lässigkeit oder besser die Hoffart der Lehrer
daran schuld sein, indem diese allein den Eindruck machen wollen, als wären sie etwas"
(Pseudo-Ambrosius, über den ersten Timotheusbrief, 5,1). Da sehen wir, wie sehr dieser heilige Mann
darüber zürnt, daß etwas von dem besseren Stande der Kirche in Zerfall geraten ist, während doch
für die Menschen seiner Zeit eine wenigstens erträgliche Ordnung noch bestand. Was würde er also
wohl sagen, wenn er die heutigen ungestaltigen Trümmer anschaute, die fast keine Spur des alten
Bauwerks mehr erkennen lassen? Was für eine Wehklage würde er da erst halten? Zunächst hat sich
der Bischof gegen Recht und Gerechtigkeit allein angemaßt, was doch der Kirche gegeben war. Das ist
nämlich genau so, als wenn ein Konsul den Senat vertriebe und die Herrschaft allein in Beschlag
nähme! Obwohl der Bischof nun aber den anderen gegenüber an Ehre den Vorrang hat, so besitzt doch
andererseits die gesamte Amtsgenossenschaft mehr Autorität als ein einzelner Mensch. Es war also
eine gar zu schändliche Tat, daß ein einzelner Mensch die gemeinsame Gewalt (der Kirche) auf sich
übertrug und dann sowohl tyrannischer Willkür den Zugang eröffnete, als auch die Kirche ihres
Rechtes beraubte, als auch die von Christi Geist verordnete Versammlung unterdrückte und
abschaffte.
IV,11,7 Aber – wie ja stets ein Übel aus dem anderen entsteht – die
Bischöfe haben dann die Sache wieder geringschätzig von sich geschoben und auf andere übertragen,
als ob sie ihrer Fürsorge nicht wert wäre. Infolgedessen hat man die "Offiziale" eingesetzt,
um dies Amt auszuüben. Ich rede noch nicht davon, was für eine Art Leute das sind, sondern
behaupte nur dies, daß sie sich von den weltlichen Richtern in nichts unterscheiden. Und doch nennt
man das noch "geistliche" Rechtsprechung, obwohl da ausschließlich um irdischer Dinge willen
prozessiert wird! Woher nehmen denn diese Leute, selbst wenn es dabei sonst keine Mißstände gäbe,
die Frechheit, mit der sie einen solchen Gerichtshof, an dem man (wie sonst überall) seine
Rechtsstreitigkeiten austrägt, als "Gericht der Kirche" zu bezeichnen wagen? Aber, so entgegnet
man, es finden doch da auch Vermahnungen statt, auch gibt es dabei den Bann! Ja, wahrhaftig, so
treibt man mit Gott seinen Spott. Wenn da also irgendein armer Mann Geld schuldig ist, so lädt man
ihn vor. Erscheint er, so verurteilt man ihn. Wenn nun der Verurteilte nicht zahlt, so wird er "vermahnt"!
Und nachdem man ihn zweimal "vermahnt" hat, geht man noch einen Schritt weiter und tut ihn in
den "Bann". Erscheint er aber nicht, so wird er "ermahnt", sich dem Gericht zu stellen;
säumt er damit, so wird er (wieder) "gemahnt" und dann alsbald in den "Bann" getan! Ich
frage nun: was hat das überhaupt noch mit der Einsetzung Christi oder mit der ursprünglichen Sitte
oder mit kirchlicher Handlungsweise zu tun? Aber, so entgegnet man abermals, bei diesen "Kirchengerichten"
wird doch auch Sünde gestraft! Ja, wahrhaftig, Hurerei, Ungebundenheit, Trunksucht und dergleichen
Schandtaten werden von diesen Leuten nicht nur geduldet, sondern gewissermaßen durch
stillschweigende Billigung gar noch gefördert und bestärkt, und zwar nicht nur im Volke, sondern
auch unter den "Klerikern" selbst! Unter vielen (derartigen Missetätern) laden sie einige
wenige vor, entweder, um nicht den Eindruck zu erwecken, als ob sie im Übersehen gar zu lässig
wären, oder aber, um den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Ich schweige noch von der
Ausbeutung, der Räuberei, dem Diebstahl und der Heiligtumsschändung, die sich daraus ergeben. Ich
schweige davon, was für Leute man zumeist für dieses Amt auswählt. Es ist übergenug, daß man,
wenn die Römischen ihre "geistliche Rechtsprechung" rühmen, leicht aufweisen kann, daß es
nichts gibt, was zu dem von Christus eingerichteten Verfahren in größerem Gegensatz stünde, und
daß ihre Sache mit der ursprünglichen Gepflogenheit nicht mehr Ähnlichkeit hat als die Finsternis
mit dem Licht.
IV,11,8 Obwohl wir nicht alles gesagt haben, was hier hätte angeführt
werden können, und obwohl das, was wir darlegten, nur mit wenigen Worten berührt wurde, so bin ich
doch der guten Zuversicht, den Streit so weit gewonnen zu haben, daß jetzt niemand mehr einen Grund
hat, darüber im unklaren zu sein, daß die "geistliche Gewalt", auf die sich der Papst samt
seinem ganzen Reiche hochmütig beruft, eine Tyrannei darstellt, die eine Gottlosigkeit gegen das
Wort Gottes und eine Ungerechtigkeit gegen das Volk Gottes ist. Unter dem Namen "geistliche Gewalt"
begreife ich nun sowohl die Vermessenheit der Papisten im Zusammenschmieden von neuen Lehren, mit
denen sie das arme Volk von der lauteren Reinheit des Wortes Gottes abgelenkt haben, als auch die
unbilligen Satzungen, in die sie es verstrickt haben, als auch die zu Unrecht als "kirchlich"
bezeichnete Rechtsprechung, die sie durch ihre "Suffragane" und "Offiziale" ausüben. Denn
wenn wir Christus unter uns herrschen lassen, so kann es nicht anders sein, als daß alle derartige
Herrschaft sogleich zu Boden geworfen wird und zusammenbricht. Das Schwertrecht aber, das sie sich
auch zusprechen, gehört nicht in die hier vorliegende Erörterung hinein, weil es nicht an den
Gewissen geübt wird. Doch ist es auch in diesem Stück angebracht, darauf zu achten, daß sie sich
allezeit gleich bleiben, nämlich nichts weniger sind als das, wofür sie gehalten werden wollen:
Hirten der Kirche. Auch erhebe ich meine Beschuldigungen nicht gegen besondere Laster von
(einzelnen) Menschen, sondern gegen die gemeinsame Ruchlosigkeit des ganzen Standes, ja, gegen die
Pest dieses Standes selbst; denn dieser meint in seinen Rechten verkürzt zu sein, wenn er sich
nicht durch Reichtum und hoffärtige Titel Ansehen verschafft hat. Wenn wir in dieser Sache nach
Christi Autorität fragen, so besteht kein Zweifel, daß er die Diener an seinem Wort von
bürgerlicher Herrschaft und irdischer Befehlsgewalt hatfernhalten wollen, indem er sagte: "Die
Könige der Völker herrschen über sie ... So soll es nicht sein unter euch ..." (Matth. 20,25f.;
Luk. 22,25f.). Denn damit gibt er nicht nur zu verstehen, daß das Amt eines Hirten von dem Amt
eines Fürsten verschieden ist, sondern daß es sich hier um Dinge handelt, die zu sehr voneinander
getrennt sind, als daß sie in einem einzigen Menschen zusammentreffen könnten. Denn daß Mose
beide Ämter zugleich innegehabt hat, ist erstens durch ein seltenes Wunder zustande gekommen, und
zweitens war es etwas Zeitliches (und galt nur so lange), bis die Zustände besser geordnet waren.
Als der Herr aber eine bestimmte Form vorschreibt, da wird dem Mose die bürgerliche Regierung
überlassen, dagegen wird ihm befohlen, das Priesteramt an seinen Bruder (Aaron) abzutreten (Ex.
18,13-26). Und das mit Recht; denn es geht über die Natur, daß ein einziger Mensch diesen beiden
Bürden Genüge tut. So hat man es denn auch in der Kirche zu allen Zeiten fleißig gehalten. Auch
ist, solange eine der Wahrheit entsprechende Gestalt der Kirche vorhanden blieb, unter den
Bischöfen nicht ein einziger aufgetreten, der danach getrachtet hätte, sich das Schwertrecht
anzumaßen, so daß es zur Zeit des Ambrosius ein allgemein übliches Sprichwort war, die Kaiser
hätten mehr Begehren nach der Priesterwürde getragen als die Priester nach der Kaiserherrschaft
(Ambrosius, Brief 20,23). Denn es war allen Leuten tief ins Herz gegraben, was er hernach
ausspricht, zum Kaiser gehörten die Paläste, zum Priester die Kirchen (Brief 20,19).
IV,11,9 Nachdem man sich aber einmal das Verfahren ausgedacht hatte, kraft
dessen die Bischöfe den Titel, die Würde und den Reichtum ihres Amtes behielten, aber ohne die
damit verbundene Bürde und Mühewaltung, da hat man ihnen, um sie nicht ganz und gar müßig gehen
zu lassen, das Schwertrecht gegeben oder vielmehr: sie haben es sich selber angemaßt. Mit welchem
Vorwand werden sie nun diese Unverschämtheit eigentlich verteidigen? War es denn Sache der
Bischöfe, sich mit der Untersuchung von Rechtssachen und der Verwaltung von Städten und Provinzen
zu bemengen und sich in weitestem Umfange Geschäften zu widmen, die mit ihnen so rein nichts zu tun
haben? Und das, wo sie in ihrem eigenen Amte soviel Arbeit und Beschäftigung haben, daß sie ihm,
wenn sie sich dabei voll und ganz und ohne Unterlaß einsetzten und sich nicht durch irgendwelche
Zerstreuungen davon ablenken ließen, doch kaum zu genügen vermöchten! Trotzdem aber tragen sie in
der ihnen eigenen Halsstarrigkeit kein Bedenken, noch rühmend den Anspruch zu erheben, auf solche
Weise komme die Ehre des Reiches Christi nach Gebühr zur Blüte, und von den Aufgaben ihres Berufes
würden sie unterdessen keineswegs zu sehr abgelenkt. Was nun die erste Behauptung anbetrifft: wenn
das der gebührende Schmuck des heiligen Amtes ist, daß sie bis zu einem solchen Gipfel
emporgestiegen sind, daß sie selbst für die höchstgestellten Monarchen furchterregend sind – dann
haben sie wirklich Grund, mit Christus zu rechten, der (wenn es so steht) in dieser Hinsicht ihre
Ehre ernstlich verletzt hat. Denn er sagt doch: "Die Könige der Völker herrschen über sie ...
So soll es nicht sein unter euch ..." (Matth. 20,25f.; Luk. 22,25f.; nicht Luthertext). Was hätte
nun aber, nach ihrer Meinung wenigstens Verächtlicheres gesagt werden können als diese Worte? Und
doch hat er seinen Knechten kein härteres Gesetz auferlegt, als er es selbst zuerst für sich
gemacht und auf sich genommen hat. "Wer hat mich", so spricht er, "zum Richter oder
Erbschlichter über euch gesetzt?" (Luk. 12,14). Wir sehen, daß er das Richtamt einfach von sich
abweist, und das hätte er nicht getan, wenn es etwas wäre, das mit seinem Amte in Einklang
stünde. Sollen sich nun die Knechte nicht unter die Schranke zwingen lassen, der sich ihr Herr
gefügt hat? Und was die zweite Behauptung angeht, so wollte ich wohl, daß sie sie ebensosehr mit
der Tat bewiesen, als es ja leicht ist, sie immer wieder auszusprechen. Da es aber den Aposteln
nicht richtig erschien, "das Wort Gottes zu unterlassen und zu Tische zu dienen" (Apg. 6,2), so
werden diese Bischöfe eben durch die Tatsache, daß sie sich nicht lehren lassen wollen, davon
überführt, daß es nicht Sache desselben Mannes ist, einen guten Bischof und einen guten Fürsten
abzugeben. Denn wenn die Apostel, die bei der Fülle der Gaben, mit denen sie ausgerüstet waren,
weit mehr und weit schwereren Sorgen zu genügen vermochten als irgendwelche nach ihnen geborene
Menschen, trotzdem bekannt haben, daß sie dem Dienst am Wort und dem Dienst zu Tische nicht
zugleich obliegen konnten, ohne unter der Bürde zusammenzubrechen – wie sollten dann jene Leute,
die im Vergleich mit den Aposteln doch ganz unbedeutende Menschlein sind, hundertmal mehr leisten
können als sie? Das aber zu versuchen ist ein Zeichen von höchst unverschämtem und gar zu
vermessenem Selbstvertrauen gewesen. Und doch sehen wir, daß es geschehen ist – mit welchem
Ergebnis, liegt auf der Hand! Denn es konnte ja gar nichts anderes dabei herauskommen, als daß
diese Bischöfe ihre eigene Amtsaufgabe verließen und sich auf ein fremdes Feld begaben.
IV,11,10 Es besteht auch kein Zweifel, daß sie aus geringen Anfängen
heraus nach und nach so gewaltige Fortschritte gemacht haben. Denn sie konnten nicht gleich mit dem
ersten Schritt auf eine solche Höhe emporklettern. Nein, bald haben sie sich durch Verschlagenheit
und versteckte Künste insgeheim emporgehoben, so daß niemand vorhersah, was geschehen sollte, bis
es soweit war, – bald haben sie von den Fürsten bei günstiger Gelegenheit mit Druck und Drohungen
einige Vermehrung ihrer Macht erpreßt – bald auch, wenn sie sahen, daß die Fürsten bereitwillig
geneigt waren, etwas herzugeben, haben sie ihre törichte und unberatene Gutwilligkeit mißbraucht.
Wenn in alter Zeit eine Meinungsverschiedenheit aufkam, dann übertrugen die Frommen, um die
Notwendigkeit von Gerichtshändeln zu vermeiden, die Entscheidung dem Bischof, weil sie an seiner
Aufrichtigkeit keinen Zweifel hatten. In derartige Entscheidungen wurden die alten Bischöfe öfters
hineingezogen – und das mißfiel ihnen zwar, wie Augustin an einer Stelle bezeugt, aufs höchste;
aber sie unterzogen sich wider ihren Willen dieser Mühsal doch, damit sich die Parteien nicht vor
das Gericht mit seinem Hader begaben. Die Bischöfe der Papisten aber haben aus diesen auf
Freiwilligkeit beruhenden Entscheidungen, die zu dem Gerichtslärm in völligem Gegensatz standen,
eine ordentliche Rechtsprechung gemacht. Als einige Zeit später Städte und Länder von
vielfältigen Nöten bedrückt wurden, da stellten sie sich unter die Obhut der Bischöfe, um unter
ihrem Schutz gedeckt zu sein – die papistischen Bischöfe aber haben sich mit bewundernswerter
Kunstfertigkeit aus Beschützern zu Herren gemacht! Daß sie einen wesentlichen Teil ihrer Macht
durch gewalttätigen Aufruhr gewonnen haben, läßt sich nicht bestreiten. Die Fürsten aber, die
aus freiem Entschluß den Bischöfen die Rechtsprechung übertragen haben, die wurden dazu durch
verschiedenartige Beweggründe getrieben. Aber mag ihre Nachsicht auch einen Schein von Frömmigkeit
an sich getragen haben, so haben sie doch dem Wohlergehen der Kirche durch diese falsch angebrachte
Freigebigkeit nicht den besten Dienst erwiesen; denn sie haben damit die alte und der Wahrheit
entsprechende Ordnung der Kirche verderbt, ja, um die Wahrheit zu sagen, sie haben sie ganz und gar
abgeschafft. Die Bischöfe aber, die solche Güte der Fürsten zu ihrem eigenen Vorteil mißbraucht
haben, die haben durch dies eine Beispiel übergenug bezeugt, daß sie keineswegs Bischöfe sind.
Denn wenn sie auch nur ein Fünklein des apostolischen Geistes gehabt hätten, so hätten sie mit
dem Wort des Paulus geantwortet:"Die Waffen unserer Ritterschaft sind nicht fleischlich, sondern
geistlich" (2. Kor. 10,4; Schluß sehr ungenau). Aber indem sie sich von blinder Gier fortreißen
ließen, haben sie sowohl sich selbst als auch ihre Nachkommen, als auch die Kirche verdorben.
IV,11,11 Schließlich hat der Bischof von Rom, nicht zufrieden mit
mittelgroßen Herrschaftsgebieten, zunächst an Königreiche und schließlich gar an das Kaiserreich
die Hand gelegt. Und um den durch reine Räuberei gewonnenen Besitz mit einigem Schein (des Rechts)
zu behalten, so rühmt er bald, ihn nach "göttlichem Recht" innezuhaben, bald gebraucht er die
"Konstantinische Schenkung", bald auch andere Rechtsgründe als Vorwand. Zunächst antworte ich
da mit Bernhard: "Es mag sein, daß er seine Ansprüche im übrigen mit irgendwelchem Recht
begründet, so tut er es jedenfalls nicht mit apostolischem Recht. Denn Petrus konnte nicht abgeben,
was er gar nicht besaß, sondern er gab seinen Nachfolgern, was er hatte, nämlich die Sorge für
die Kirchen" (Bernhard von Clairvaux, Büchlein von der Besinnung an den Papst Eugen den Dritten,
II,6,10). "Da aber der Herr und Meister sagt, er sei nicht zum Richter zwischen zwei Leuten
gesetzt (Luk. 12,14), so darf der Knecht und Jünger nicht meinen, es sei seiner unwürdig, wenn er
nicht alle Menschen richtete" (Ebenda I,6,7). Bernhard redet aber (hier) von bürgerlichen
Rechtssachen; denn er fährt gleich fort: "Eure Gewalt bezieht sich auf Sünden und nicht auf
Besitztümer; denn um der Sünden und nicht um der Besitztümer willen habt ihr die Schlüssel des
Himmelreichs empfangen. Welche Würde kommt dir nun größer vor, Sünden zu vergeben oder Güter zu
verteilen? Da ist doch gar kein Vergleich möglich! Diese untergeordneten und irdischen Dinge haben
ihre Richter, nämlich die Könige und Fürsten der Erde. Wozu brecht Ihr nun in fremdes Gebiet ein
...?" (Ebenda). Ebenso sagt er: "Du – er redet den Papst Eugen an – bist nun ein Oberer
geworden. Wozu? Doch nicht zum Herrschen, meine ich. Wir wollen uns alle, so hoch wir auch von uns
denken mögen, daran erinnern, daß uns ein Dienst auferlegt, nicht aber eine Herrschaft gegeben
ist. Lerne es, daß du eine (Weinberg-)Hacke nötig hast, nicht aber ein Zepter, um das Werk eines
Propheten zu verrichten" (Ebenda II,6,9). Oder ebenso: "Es ist klar, daß den Aposteln
Herrschaft verwehrt wird. Nun geh’ du also hin und wage es, dir als Herrschender das Apostelamt
oder als Träger eines apostolischen Amtes die Herrschaft anzumaßen!" (Ebenda, II,6,10f.). Und
gleich darauf: "Die apostolische Art ist so beschaffen: Herrschaft wird verboten, Dienstschaft
wird geboten" (Ebenda II,6,11). Der Mann hat das doch so gesagt, daß es für jedermann
offenkundig ist, daß er die Wahrheit selber ausspricht, ja, die Sache ist auch ohne jegliche Worte
klar – trotzdem aber hat sich der römische Papst auf dem Konzil zu Arles (1234) nicht gescheut, die
Entscheidung zu treffen, daß ihm die oberste Gewalt beider Schwerter (des "weltlichen" und des
"geistlichen") nach "göttlichem Recht" zustehe!
IV,11,12 Was nun die Konstantinische Schenkung betrifft, so bedürfen alle,
die in der Geschichte jener Zeiten auch nur mittelmäßig bewandert sind, keiner Belehrung darüber,
was für eine unglaubwürdige, ja geradezu lächerliche Sache das ist. Aber um die Geschichte
beiseite zu lassen, so ist schon Gregor (I.) allein ein geeigneter und in höchstem Maße
glaubwürdiger Zeuge dafür. Denn jedesmal, wenn er von dem Kaiser redet, nennt er ihn seinen "allergnädigsten
Herrn" und sich selbst seinen "unwürdigen Knecht" (Brief I,5; IV,20; III,61). Ebenso sagt er
an anderer Stelle: "Über die Priester aber möge sich unser Herr (der Kaiser!) um seiner
irdischen Macht willen nicht so schnell erzürnen; nein, um des willen, dessen Knechtesie sind (um
Christi willen!), möge er in erhabener Bedachtsamkeit dergestalt über sie herrschen, daß er ihnen
zugleich die gebührende Ehrerbietung erzeige" (Brief V,36). Wir sehen, wie er mit Bezug auf den
allgemeinen (von allen zu leistenden) Gehorsam wie einer aus dem Volke angesehen werden will. Denn
an dieser Stelle betreibt er nicht die Sache von irgend jemand anders, sondern seine eigene. An
einer anderen Stelle sagt er: "Ich habe zu dem allmächtigen Gott das Zutrauen, daß er den
frommen Herren ein langes Leben bescheidet, damit er uns unter Eurer Hand nach seiner Barmherzigkeit
leite" (Brief V,39). Ich habe diese Äußerungen nicht etwa deshalb angeführt, weil ich die
Absicht hätte, die Frage bezüglich der Konstantinischen Schenkung gründlich zu erörtern, sondern
nur, damit die Leser im Vorbeigehen merken, wie kindisch die Römischen lügen, wenn sie sich
bemühen, für ihren Papst auf die irdische Herrschaft Anspruch zu machen. Um so schnöder war die
Schamlosigkeit des Augustinus Steuchus, der es gewagt hat, dem römischen Papst in einer so
hoffnungslosen Angelegenheit seine Arbeit und seine Zunge zu verkaufen. Valla hatte, was für einen
gelehrten und scharfsinnigen Mann auch nicht schwierig war, jene Fabel (nämlich die "Konstantinische
Schenkung") gründlich widerlegt. Doch hatte er als ein Mann, der in kirchlichen Dingen zu wenig
bewandert war, nicht alles gesagt, was zur Sache hätte dienen können. Da legte sich nun Steuchus
ins Zeug und streute widerliche Possen aus, um das klare Licht zu verdunkeln. Und wahrlich, er hat
die Sache seines Herrn nicht weniger unbedeutend geführt, als wenn irgendein Witzbold so täte, als
ob er das gleiche betriebe, und damit (tatsächlich) dem Valla beipflichtete. Aber die Sache ist es
eben wert, daß der Papst dafür derartige Beschützer um Lohn kauft, und diese gemieteten
Zungendrescher sind es gleichfalls wert, daß sie die Hoffnung auf Gewinn betrügt – wie es ja dem
Eugubinus widerfahren ist!
IV,11,13 Wenn jemand übrigens nach der Zeit fragt, seit der diese
selbsterdachte (weltliche) Herrschaft (der Päpste) aufgekommen ist, so ist zu sagen: es sind noch
nicht fünfhundert Jahre her, da verharrten die Päpste noch im Gehorsam gegen die Fürsten und da
wurde kein Papst ohne Einwilligung des Kaisers gewählt. Eine Gelegenheit, diese Ordnung
abzuändern, bot Gregor dem Siebenten der Kaiser Heinrich, seines Namens der vierte, ein
leichtsinniger und unbesonnener Mann, ohne Bedachtsamkeit, von großer Verwegenheit und von
unordentlichem Lebenswandel. Da dieser nun an seinem Hofe die Bistümer von ganz Deutschland teils
zum Verkauf bot, teils auch dem Raub aussetzte, so benutzte Hildebrand, der von ihm geärgert worden
war, einen Beifall erweckenden Vorwand, um sich zu rächen. Weil er aber eine gute und fromme Sache
zu betreiben schien, so fand er in der Gunst vieler Leute Unterstützung. Auch war Heinrich im
übrigen wegen seiner reichlich überheblichen Regierungsweise den meisten unter den Fürsten
verhaßt. Schließlich ließ Hildebrand, der sich (als Papst) Gregor VII. nannte, als ein unsauberer
und nichtsnutziger Mann die Bosheit seines Herzens offen hervortreten, und das war die Ursache dazu,
daß er von vielen, die mit ihm gemeinsame Sache gemacht hatten, im Stich gelassen wurde. Trotzdem
hat er es erreicht, daß seine Nachfolger ungestraft die Möglichkeit hatten, nicht nur das Joch von
sich abzuschütteln, sondern auch die Kaiser von sich abhängig zu machen. Dazu kam noch, daß
seither viele Kaiser dem Heinrich mehr glichen als dem Julius Caesar. Diese Kaiser zu unterwerfen
war nicht schwierig, weil sie zu Hause saßen und sorglos und lässig alle Dinge fahren ließen,
während es doch höchst notwendig war, die Gier der Päpste mit Tatkraft und mit rechtmäßigen
Mitteln niederzuhalten.Wir sehen also, mit was für einer Farbe jene berühmte "Konstantinische
Schenkung" überstrichen ist, von der der Papst so tut, als sei ihm durch sie das westliche
(weströmische) Reich übergeben worden.
IV,11,14 In der Zwischenzeit haben die Päpste nicht davon abgelassen, bald
mit Betrug, bald mit Treulosigkeit, bald mit Waffengewalt in fremde Herrschaft einzubrechen; auch
haben sie die Stadt Rom selbst, die damals noch frei war, vor etwa hundertunddreißig Jahren unter
ihre Gewalt gebracht, bis sie schließlich zu der Macht gelangt sind, die sie heute innehaben und zu
deren Aufrechterhaltung und Vergrößerung sie den christlichen Erdkreis zweihundert Jahre lang -
denn sie haben damit begonnen, ehe sie sich die Herrschaft über die Stadt Rom raubten – derart
durcheinandergebracht haben, daß sie ihn darüber beinahe zugrunde richteten. Als einst unter
Gregor (I.) die Hüter des kirchlichen Besitzes an Güter, die nach ihrer Meinung der Kirche
gehörten, die Hand legten und ihnen nach der Gepflogenheit behördlicher Besitzverwaltung eine
Inschrift zum Zeichen des Eigentumsanspruchs aufprägten, da berief Gregor ein Konzil der Bischöfe
zusammen, fuhr mit scharfem Tadel gegen dieses weltliche Verfahren los und fragte, ob sie denn einen
Kleriker, der es unternommen habe, aus eigenem Antrieb durch Aufprägung einer Inschrift ein
Besitztum mit Beschlag zu belegen, nicht für gebannt hielten, und ebenso einen Bischof, der zu
solchem Geschehnis den Auftrag gegeben oder es, wofern es gegen seinen Befehl gegangen sei, nicht
bestraft habe. Auf diese Frage hin erklärten alle Bischöfe: solch ein Mensch ist gebannt! (Gregor
I., Brief V,57a). Wenn es bei einem Kleriker eine Schandtat ist, die den Bannfluch verdient, durch
Aufprägung einer Inschrift den Eigentumsanspruch auf ein Grundstück zu erheben – wieviel
Bannflüche können dann wohl zureichend sein, um solche Maßregeln zu bestrafen, wie sie die
Päpste getroffen haben, die diese ganzen zweihundert Jahre lang nach nichts anderem getrachtet
haben als nach Krieg und Blutvergießen, nach der Vernichtung von Kriegsheeren, nach der
Ausplünderung und der Zerstörung von Städten, nach der Niederwerfung von Völkern und der
Verwüstung von Königreichen, und das alles nur, um an fremde Herrschaft die Hand legen zu können?
Jedenfalls ist es so deutlich wie nur möglich, daß sie nichts weniger suchen als die Ehre Christi.
Denn wenn sie freiwillig auf schlechterdings alles verzichteten, was sie an weltlicher Gewalt
besitzen, so würde dadurch die Ehre Gottes, die gesunde Lehre und das Heil der Kirche keinerlei
Gefahr laufen. Aber sie werden allein von der Herrschsucht blind und jäh dahingerissen, weil sie
meinen, es könne nichts wohl stehen, wenn sie nicht mit Härte, wie der Prophet sagt (Ez. 34,4),
und mit Gewalt das Regiment ausübten.
IV,11,15 Mit der Rechtsprechung verbunden ist auch die "Immunität", die
sich die römischen Kleriker anmaßen (d.h. ihre Freiheit von steuerlichen und anderen
Verpflichtungen sowie im weiteren Sinne ihr "Recht", sich weithin zivil- und auch strafrechtlich
dem bürgerlichen Richter zu entziehen). Sie sind nämlich der Meinung, es sei eine ihrer unwürdige
Sache, wenn sie sich in Angelegenheiten, die ihre Person betreffen, vor dem bürgerlichen Richter
verantworten sollten, und glauben, die Freiheit wie auch die Würde der Kirche liege darin, daß sie
von den allgemeinen Gerichten und Gesetzen ausgenommen würden. Die alten Bischöfe aber, die sonst
in der Wahrung des Rechtes der Kirche sehr streng waren, haben in dieser Unterwerfung (unter die
bürgerliche Gerichtsbarkeit) keinerlei Verletzung ihrer Person oder auch ihres Standes erblickt.
Auch haben die frommen Kaiser, ohne daß jemand Einspruch erhob, stets Kleriker vor ihren
Richterstuhl gefordert, sooft es erforderlich war. Denn Konstantin sagt in seinem Sendschreiben an
die Einwohner von Nikomedia: "Wenn einer von den Bischöfen unbesonnen einen Aufruhr gemacht hat,
so wird durch die Vollzugsgewalt des Dieners Gottes, das heißt: durch meine Vollzugsgewalt, seine
Ver-messenheit in ihre Schranken verwiesen werden" (Bei Theodoret, Kirchengeschichte I,20). Und
Valentinianus sagt: "Gute Bischöfe widersprechen der Macht des Kaisers nicht, sondern aufrichtig
bewahren sie Gottes, des großen Königs, Gebote und gehorchen sie unseren Gesetzen" (Bei
Theodoret, Kirchengeschichte IV,8). Diese Überzeugung hatten damals alle, ohne daß jemand
Widerspruch erhob. Die kirchlichen Sachen wurden zwar vor das bischöfliche Gericht gezogen. Wenn
sich also zum Beispiel ein Kleriker gegen die Gesetze nichts hatte zuschulden kommen lassen und nur
nach den kirchlichen Rechtssatzungen einer Anklage verfiel, so wurde er nicht vor das allgemeine
Gericht geladen, sondern hatte in dieser Sache den Bischof zu seinem Richter. Ebenso wurde die
Untersuchung der Kirche übertragen, wenn eine Glaubensfrage zur Behandlung stand oder sonst eine
Sache, die im eigentlichen Sinne mit der Kirche zu tun hatte. In diesem Sinne muß man verstehen,
was Ambrosius an Valentinianus schreibt: "Dein Vater erhabenen Angedenkens hat nicht nur mit
Worten ausgesprochen, sondern auch in Gesetzen festgelegt, daß in Glaubenssachen der urteilen soll,
der durch sein Amt dazu befugt und dem Rechte nach dazu in der Lage ist" (Brief 21,2). Ebenso
schreibt er: "Wenn wir unser Augenmerk auf die Schrift oder auf die alten Beispiele lenken, wer
will es dann bestreiten, daß in Glaubenssachen, ich sage: in Glaubenssachen, die Bischöfe über
die christlichen Kaiser und nicht die Kaiser über die Bischöfe zu urteilen pflegen?" (Brief
21,4). Oder wiederum: "Ich wäre, mein Kaiser, vor deinen Richterstuhl gekommen, wenn mich die
Bischöfe und das Volk hätten ziehen lassen. Die sagten aber, eine Glaubenssache müsse in der
Kirche vor versammeltem Volke zur Verhandlung kommen" (Brief 21,17). Er behauptet zwar, daß eine
geistliche, das heißt eine Religionssache, nicht vor das bürgerliche Gericht gezogen werden darf,
wo weltliche Streitigkeiten zur Verhandlung kommen. In dieser Sache findet seine Standhaftigkeit
verdientermaßen allseitiges Lob. Und doch geht er in seiner guten Sache so weit, daß er erklärt,
er wolle weichen, wenn es zu Gewalt und Zwangsausübung kommen sollte. "Freiwillig", sagt er,
"werde ich das mir anvertraute Amt nicht verlassen; werde ich aber gezwungen, so weiß ich mich
nicht zu widersetzen; denn unsere Waffen sind Gebete und Tränen" (Predigt gegen Auxentius 1.2).
Beachten wir die einzigartige Mäßigung und Weisheit dieses Mannes, die sich mit Hochgemutheit und
Zuversicht verbindet! Justina, die Mutter des Kaisers, bemühte sich, weil sie ihn nicht auf die
Seite der Arianer hatte herüberziehen können, ihn aus der Leitung der Kirche zu vertreiben. Und
das wäre geschehen, wenn er auf die Vorladung zur Verantwortung hin in den Palast gekommen wäre.
So bestreitet er also, daß der Kaiser geeignet sei, eine so große Streitfrage richterlich zu
untersuchen. Das erforderte sowohl die in jener Zeit gegebene Notwendigkeit als auch die bleibende
Natur der Sache. Er kam nämlich zu dem Urteil, daß er lieber sterben sollte, als daß mit seiner
Einwilligung ein solches Beispiel auf seine Nachfahren übergehen (und also auch ihnen gegenüber
vielleicht angewendet werden) dürfte. Und doch sinnt er für den Fall, daß Gewalt angewendet wird,
nicht auf Widerstand. Denn er bestreitet, daß es zu bischöflicher Art gehöre, den Glauben und das
Recht der Kirche mit Waffengewalt zu verteidigen. Im übrigen erklärt er sich in anderen Fällen
bereit, alles zu tun, was der Kaiser befiehlt. "Wenn er Steuern verlangt", sagt er, "so
verweigern wir sie nicht; die Grundstücke der Kirche entrichten die Steuer. Verlangt er
Grundstücke, so hat er die Macht, auf sie Anspruch zu erheben, und keiner von uns wird dagegen
angehen" (Ebenda 33). In der gleichen Weise redet auch Gregor; er sagt: "Ich kenne sehr wohl die
Gesinnung unseres allergnädigsten Herrn: er pflegt sich nicht in die priesterlichen Streitsachen
einzumischen, um sich in keiner Hinsicht mit unseren Sünden zu beschweren" (Brief IV,20). Er
schließt den Kaiser nicht etwa allgemein davon aus, über Priester zu urteilen, sondern erklärt
nur, daß es bestimmte Fälle gibt, die er dem kirchlichen Gericht überlassen muß.
IV,11,16 Ja, mit dieser Ausnahme (vgl. Schluß der vorigen Sektion) haben
die heiligen Männer nichts anderes gesucht, als Vorsorge dagegen zu treffen, daß minder
gottesfürchtige Fürsten die Kirche in tyrannischer Gewalttätigkeit und Willkür an der Ausübung
ihres Amtes behinderten. Denn sie mißbilligten es nicht, wenn die Fürsten gelegentlich in
kirchlichen Angelegenheiten ihre Autorität ins Mittel legten, wenn das nur geschah, um die Ordnung
der Kirche zu erhalten und nicht zu stören, und um die Zucht zu stärken und nicht aufzulösen.
Denn die Kirche hat nicht die Macht, einen Zwang auszuüben, darf sie auch nicht begehren – ich rede
vom bürgerlichen Zwang -, und deshalb ist es die Aufgabe frommer Könige und Fürsten, mit
Gesetzen, Verordnungen und Urteilen die Religion zu erhalten. Aus diesem Grunde geschah es, daß
Gregor, als der Kaiser Mauritius einigen Bischöfen den Auftrag gab, benachbarte Amtsgenossen, die
von fremden Völkern vertrieben waren, bei sich aufzunehmen, diesen Befehl bekräftigte und die
Bischöfe ermahnte, ihm zu gehorchen (Brief I,43). Und als Gregor selbst von dem nämlichen Kaiser
aufgefordert wurde, sich mit dem Bischof Johannes von Konstantinopel wieder freundschaftlich zu
vertragen, da legte er wohl Rechenschaft darüber, ab, weshalb man ihm keine Schuld geben dürfte,
dagegen machte er keinen Anspruch auf eine "Freiheit" vom weltlichen Gericht, sondern er
versprach vielmehr, er wolle sich fügen, soweit es ihm um des Gewissens willen möglich wäre, und
erklärte zugleich, Mauritius habe, indem er den Priestern dergleichen befahl, getan, was einem
gottesfürchtigen Fürsten geziemte (Brief V,37; V,39; V,45).
Von der Zucht der Kirche, wie sie vornehmlich in den Strafen und im Bann geübt wird
IV,12,1 Die Kirchenzucht, deren Behandlung wir bis an diese Stelle
aufgeschoben haben, muß mit wenigen Worten erörtert werden, damit wir endlich zu den anderen
Lehrstücken übergehen können. Sie beruht nun zum größten Teil auf der Schlüsselgewalt und auf
der geistlichen Rechtsprechung. Damit das nun leichter zu begreifen ist, wollen wir die Kirche
wesentlich in zwei Stände einteilen: "Klerus" und "Volk" (Gemeinde). Unter "Klerikern"
verstehe ich nach der gebräuchlichen Bezeichnung solche, die in der Kirche ein öffentliches Amt
ausüben. Wir wollen uns nun zunächst mit der allgemeinen Zucht befassen, der alle unterworfen sein
müssen. Alsdann wollen wir auf den Klerus zu sprechen kommen, der außer der allgemeinen Zucht noch
seine eigene hat. Es gibt nun aber Leute, denen vor lauter Haß gegen die Zucht auch der Name schon
widerwärtig ist. Die sollen nun folgendes wissen: Wenn keine Gemeinschaft, ja, kein Haus, in dem
auch noch so wenige Hausgenossen miteinander leben, ohne Zucht im rechten Stande erhalten werden
kann, so ist solche Zucht noch viel notwendiger in der Kirche, deren Zustand doch gebührenderweise
so geordnet sein muß, wie nur eben möglich. Wie also die heilbringende Lehre Christi die Seele der
Kirche ist, so steht die Zucht in der Kirche an der Stelle der Sehnen: sie bewirkt, daß die Glieder
des Leibes, jedes an seinem Platz, miteinander verbunden leben. Jeder also, der da begehrt, die
Zucht sollte abgeschafft werden, oder der ihre Wiederherstellung hindert, der sucht, ob er das nun
absichtlich tut oder aus mangelnder Überlegung, unzweifelhaft die völlige Auflösung der Kirche.
Denn was soll wohl geschehen, wenn jeder tun darf, was ihm gefällt? Eben dies muß aber eintreten,
wenn zur Predigt der Lehre nicht persönliche Einzelvermahnungen, Zurechtweisungen und andere
Hilfsmittel dieser Art hinzutreten, welche die Unterweisung stützen und sie nicht wirkungslos
bleiben lassen. Die Zucht ist also gleichsam ein Zügel, mit dem alle die zurückgehalten und
gebändigt werden sollen, die sich trotzig gegen die Lehre Christi erheben, oder auch gleich einem
Sporn, um die gar zu wenig Willigen anzutreiben, zuweilen aber auch gewissermaßen eine väterliche
Rute, mit der solche, die sich ernstlicher vergangen haben, in Milde und im Einklang mit der
Sanftmut des Geistes Christi gezüchtigt werden sollen. Weil wir denn nun in der Kirche bereits
anfangsweise eine schreckliche Verwüstung hereinbrechen sehen, die darauf zurückgeht, daß man
keine Sorgfalt und Überlegung darauf wendet, das Volk in Schranken zu halten, so sagt uns die Not
selber schon laut und deutlich, daß ein Heilmittel vonnöten ist. Das einzige Heilmittel aber ist
das, das Christus verordnet und das unter den Frommen allezeit im Gebrauch gewesen ist. V
IV,12,2 Die erste Grundlage der Zucht besteht nun darin, daß persönliche
Ermahnungen stattfinden, das bedeutet: daß der, der aus eigenem Antrieb heraus nicht seine Pflicht
tut oder der sich frech aufführt oder dessen Lebenswandel an Ehrbarkeit zu wünschen übrigläßt
oder der etwas Tadelnswertes begangen hat, sich ermahnen läßt, und daß ein jeder seinen Eifer
daran wendet, seinem Bruder, wenn es die Sache erfordert, solche Ermahnung zukommen zu lassen. Vor
allem aber sollen die Hirten (Pastoren) und Ältesten hierüber wachen; denn ihre Aufgabe ist es
nicht allein, dem Volke zu predigen, sondern auch hin und her in den einzelnen Häusern Ermahnung
und Ermunterung auszuteilen, wenn man irgendwo durch die allgemein geschehende Unterweisung nicht
weit genug vorangekommen ist.So lehrt es Paulus, wenn er berichtet, er habe einzeln und persönlich
(privatim) wie auch in den Häusern gelehrt, und wenn er beteuert, daß er "rein sei von aller
Blut", weil er "nicht abgelassen habe ... Tag und Nacht, einen, jeglichen mit Tränen zu
vermahnen" (Apg. 20,20.26.31). Denn die Lehre gewinnt dann Kraft und Autorität, wenn der Diener
der Kirche nicht nur allen zugleich darlegt, was sie Christus schuldig sind, sondern auch das Recht
und die geordnete Möglichkeit besitzt, es von denen zu fordern, von denen er bemerkt hat, daß sie
es am Gehorsam gegen die Lehre fehlen lassen oder daß sie recht träge sind. Wenn nun jemand solche
Ermahnungen halsstarrig von sich weist oder durch weiteres Fortschreiten in seinen Lastern bezeugt,
daß er sie verachtet, so muß er nach der Anweisung Christi zunächst unter Zuziehung von Zeugen
zum zweiten Male vermahnt und dann vor das Gericht der Kirche, das heißt: die Versammlung der
Ältesten, geladen werden; dort muß man ihm eine ernstlichere, gleichsam unter öffentlicher
Autorität ausgesprochene Vermahnung erteilen, er solle sich, wenn er Ehrfurcht vor der Kirche habe,
unterwerfen und gehorchen. Wenn er sich aber auch daraufhin nicht beugt, sondern in seiner Bosheit
verharrt, so soll er nach Christi Weisung aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausgestoßen werden
(Matth. 18,15-17).
IV,12,3 An dieser Stelle (Matth. 18) spricht Christus nun aber
ausschließlich von den verborgenen Sünden. Es ist also erforderlich, hier zwei Gruppen zu
unterscheiden: die Sünden sind teils persönlicher ("privater") Art, teils sind sie öffentlich
oder vor aller Welt ruchbar geworden. Was die ersteren betrifft, so sagt Christus einem jeglichen
amtlosen Menschen: "Strafe ihn zwischen dir und ihm allein" (Matth. 18,15). Was aber die
öffentlich kundbar gewordenen Sünden angeht, so gibt Paulus dem Timotheus die Weisung: "Die
strafe vor allen, auf daß sich auch die anderen fürchten" (1. Tim. 5,20). Christus hatte
nämlich zuvor gesagt: "Sündigt ... dein Bruder an dir ..." (Matth. 18,15). Diese beiden
Wörtlein: "an dir" kann man aber, wenn man nicht streitsüchtig sein will, nicht anders
auffassen als in dem Sinne: "daß du es weißt, aber derart, daß nicht mehr Leute davon Kenntnis
haben". Die Regel aber, die Paulus dem Timotheus gibt, nämlich er solle die, die öffentlich
sündigen, auch öffentlich zurechtweisen, hat er selbst dem Petrus gegenüber befolgt. Denn da
dieser sich soweit verfehlt hatte, daß ein öffentliches Ärgernis daraus entstanden war, so
vermahnte er ihn nicht einzeln für sich allein, sondern führte ihn vor das Angesicht der Kirche
(Gal. 2,14). Die rechte Reihenfolge des Verfahrens werden wir also innehalten, wenn wir bei der
Bestrafung "verborgener" Sünden nach jenen von Christus festgelegten Stufen vorgehen, bei "offenbaren"
dagegen gleich zur feierlichen Zurechtweisung durch die Kirche schreiten, sofern das Ärgernis
öffentlich ist.
IV,12,4 Es muß nun auch noch eine weitere Unterscheidung eintreten: einige
unter den Sünden sind Vergehen, andere dagegen Verbrechen oder Schandtaten. Zur Bestrafung der
letzteren ist nicht nur Vermahnung oder scharfer Tadel anzuwenden, sondern auch noch eine schärfere
Arznei; darauf weist uns Paulus, der den blutschänderischen Korinther nicht nur mit Worten
züchtigt, sondern auch mit dem Bann straft, sobald er von seinem Verbrechen Kenntnis erlangt hat
(1. Kor. 5,3ff.). Jetzt beginnen wir also besser einzusehen, wieso die geistliche Rechtsprechung der
Kirche, die auf Grund des Wortes Gottes strafend gegen die Sünden vorgeht, das beste Mittel zur
Gesundheit, das beste Fundament der Ordnung und das beste Band der Einheit darstellt. Wenn die
Kirche also offenbare Ehebrecher, Hurer, Diebe, Räuber, Anführer, Meineidige, Falschzeugen und
andere Leute dieser Art und gleichfalls die Widerspenstigen, die auch wegen geringerer Sünden
vermahntworden sind, aber Gottes und seines Gerichts gespottet haben – wenn sie solche Leute aus
ihrer Gemeinschaft entfernt, so maßt sie sich nichts Ungebührliches an, sondern übt die
Rechtsprechung, die ihr der Herr übertragen hat. Damit nun ferner niemand solch Urteil der Kirche
verachtet oder es gering anschlägt, daß er durch einen Spruch der Gläubigen verurteilt ist, so
hat der Herr bezeugt, daß eben dies Urteil nichts anderes ist als die Verkündigung seines eigenen
Richterspruchs, und daß, was die Gläubigen auf Erden vollzogen haben, im Himmel gültig sein soll.
Denn sie haben das Wort des Herrn, um damit die Verkehrten zu verurteilen, sie haben das Wort, um
die Reuigen wieder zu Gnaden anzunehmen (Matth. 16,19; 18,18; Joh. 20,23). Wer die Hoffnung hat, die
Kirchen könnten ohne dies Band der Zucht lange bestehen bleiben, der täuscht sich in seiner
Meinung – es sei denn, daß wir etwa ungestraft das Hilfsmittel entbehren könnten, das der Herr als
für uns notwendig vorgesehen hat! Und in der Tat, wie notwendig es für uns ist, das werden wir
noch besser ersehen, wenn wir seinen vielfältigen Nutzen ins Auge fassen.
IV,12,5 Es ist nun ein dreifacher Zweck, welchen die Kirche mit solchen
Strafen und mit dem Bann verfolgt. Erstens: zu den Christen sollen nicht unter Verächtlichmachung
Gottes solche Leute gezählt werden, die einen schandbaren und lasterhaften Lebenswandel führen -
als ob Gottes heilige Kirche eine Verschwörerrotte von nichtsnutzigen und ruchlosen Leuten wäre
(Eph. 5,25f.). Denn die Kirche ist der Leib Christi (Kol. 1,24), und deshalb kann sie nicht mit
solchen stinkenden, faulen Gliedern befleckt werden, ohne daß auch das Haupt eine Schändung
erfährt. Damit es nun in der Kirche nichts gibt, wodurch seinem heiligen Namen das Brandmal der
Schande aufgedrückt wird, so müssen aus seiner Hausgenossenschaft solche Leute ausgeschlossen
werden, aus deren Ruchlosigkeit sich für den Christennamen ein übler Ruf ergeben müßte. Hier
muß man nun auch auf das Abendmahl des Herrn Bedacht nehmen, daß es nicht durch wahllose
Austeilung entheiligt werde. Denn es ist sehr wahr: wenn einer, dem die Austeilung des Abendmahls
anvertraut ist, mit Wissen und Willen einen Unwürdigen zugelassen hat, den er mit Recht hätte
zurückweisen können, so macht er sich genau so der Schändung des Heiligen schuldig, als wenn er
den Leib des Herrn den Hunden vorgeworfen hätte. Deshalb fährt Chrysostomus mit scharfem Tadel
gegen die Priester los, die aus Angst vor der Macht der Großen niemanden vom Abendmahl
auszuschließen wagen. "Das Blut", so sagt er, "wird von euren Händen gefordert werden (Ez.
3,18; 33,8). Wenn ihr den Menschen fürchtet, so wird er euch verlachen. Fürchtet ihr aber Gott, so
werdet ihr auch für die Menschen ehrfurchtgebietend sein. Wir wollen doch vor Zepter, Purpur und
Diadem keine Angst haben; denn hier ist unsere Vollmacht größer! Ich jedenfalls würde lieber
meinen Leib in den Tod geben und mein Blut vergießen lassen, als mich solcher Befleckung teilhaftig
zu machen" (Predigten zum Matthäusevangelium 82,6). Damit also diesem hochheiligen Geheimnis
(Sakrament) keine Schmach angetan wird, so ist es bei seiner Austeilung hoch vonnöten, eine Auswahl
walten zu lassen; diese kann aber nur durch die Rechtsprechung der Kirche vorgenommen werden. Zum
zweiten hat die Zuchtübung der Kirche den Zweck, daß nicht die Guten, wie es zu geschehen pflegt,
durch den fortgesetzten Umgang mit den Bösen verdorben werden. Denn bei unserer Neigung zum
Abbiegen vom Wege geschieht nichts leichter, als daß wir durch schlechte Vorbilder von der rechten
Lebensrichtung weggeleitet werden. Diesen Nutzen der Kirchenzucht hatte der Apostel im Auge, als er
den Korinthern die Weisung gab, sie sollten den Blutschänder aus ihrer Gemeinschaft verweisen. "Ein
wenig Sauerteig", so heißt es da, "versäuert den ganzen Teig" (1. Kor. 5,6). Und die Gefahr,
die er hier drohen sah, war so groß,daß er ihnen jeglichen Verkehr mit dem Sünder untersagte. "So
jemand sich läßt einen Bruder nennen", sagt er, "und ist ein Hurer oder ein Geiziger oder ein
Abgöttischer oder ein Trunkenbold oder ein Lästerer, mit dem sollt ihr auch nicht essen" (1.
Kor. 5,11; Reihenfolge nicht ganz genau). Drittens bezweckt die Kirchenzucht, daß die Sünder
selbst in Scham geraten und dadurch anfangen, über ihre Ruchlosigkeit Reue zu empfinden. So nutzt
es auch den Betroffenen, daß ihre Bosheit gezüchtigt wird; (es geschieht ja), damit sie durch das
Fühlen der Rute aufgeweckt werden, während sie durch Nachsicht nur noch widerspenstiger geworden
wären. Das gibt der Apostel zu erkennen, wenn er sich folgendermaßen ausspricht: "So aber jemand
... nicht gehorsam ist unsrem Wort, den zeiget an ... und habt nichts mit ihm zu schaffen, auf daß
er schamrot werde" (2. Thess. 3,14). Das gleiche meint er an anderer Stelle, indem er schreibt, er
habe den (blutschänderischen) Korinther "übergeben dem Satan, auf daß der Geist selig werde am
Tage des Herrn ..." (1. Kor. 5,5). Das heißt, wenigstens nach meiner Auslegung: er hat ihn in
eine zeitliche Verdammnis dahingegeben, damit er ewig selig werde. Wenn er aber sagt, daß er ihn
"dem Satan" übergibt, so geschieht das darum, weil außerhalb der Kirche der Teufel ist, wie in
der Kirche Christus (Augustin). Denn die Ansicht mancher Leute, die diese Wendung auf eine gewisse
Peinigung des Fleisches beziehen wollen, kommt mir höchst ungewiß vor.
IV,12,6 Nachdem wir diesen dreifachen Zweck der Kirchenzucht dargelegt haben,
bleibt uns noch übrig zuzusehen, in welcher Weise die Kirche diesen Teil der Zucht, der in der
Rechtsprechung besteht, ausübt. Zunächst wollen wir die oben festgestellte Unterscheidung
festhalten, nach der die Sünden teils öffentlich, teils auch privat oder einigermaßen verborgen
sind. "Öffentlich" sind die Sünden, die nicht nur den einen oder anderen zum Zeugen haben,
sondern auf die man vor aller Welt und zum Ärgernis der ganzen Kirche mit Fingern weist. Als "verborgen"
bezeichne ich nicht solche Sünden, die Menschen überhaupt unbekannt wären, so wie es die Sünden
der Heuchler sind – denn diese sind dem Urteil der Kirche entzogen -, sondern eine mittlere Gruppe:
es sind solche, die nicht ganz ohne Zeugen, aber doch auch nicht öffentlich sind. Die erstere Art
von Sünden erfordert nicht die (Einhaltung der) Stufen, die Christus (Matth. 18,15-17) aufführt,
sondern die Kirche muß, wo sich dergleichen ereignet, ihre Amtspflicht erfüllen, indem sie den
Sünder vorlädt und ihn nach dem Maß seiner Verfehlung bestraft. Bei der zweiten Art von Sünden
bringt man die Sache nach jener Regel Christi erst dann vor die Kirche, wenn (zur Verfehlung) die
Widerspenstigkeit hinzutritt. Ist man nun einmal zur Untersuchung geschritten, so ist jetzt, die
zweite Unterscheidung zu beachten: es ist die zwischen Verbrechen und Vergehen. Denn bei leichteren
Verfehlungen soll man nicht solch große Strenge walten lassen, sondern da genügt eine Züchtigung
mit Worten, und zwar eine milde und väterliche Züchtigung, die den Sünder nicht verhärten oder
aus der Fassung bringen, sondern ihn wieder zu sich selbst führen soll, so daß er sich über die
ihm widerfahrene Züchtigung eher freut als darüber trauert. Schandtaten dagegen soll man mit
schärferer Arznei strafen; denn da ist es nicht genug, wenn der, der durch eine als schlechtes
Beispiel wirkende Übeltat die Kirche schwer gekränkt hat, bloß mit Worten zurechtgewiesen wird,
nein, er muß eine Zeitlang der Gemeinschaft am heiligen Abendmahl verlustig gehen, bis er einen
glaubhaften Beweis seiner Reue geliefert hat. Denn Paulus übt gegenüber jenem Korinther nicht
bloß eine Zurechtweisung mit Worten, sondern er schließt ihn aus der Kirche aus und tadelt die
Korinther, daß sie ihn so lange geduldet hätten (1. Kor. 5,1-7).Dies Verfahren hat die alte,
bessere Kirche, als die rechtmäßige (Art der) Kirchenleitung noch in Kraft stand, festgehalten.
Denn wenn jemand eine Übeltat begangen hatte, aus der ein Anstoß erwachsen war, so gebot man ihm
erstens, sich der Teilnahme am heiligen Abendmahl zu enthalten, und zweitens, sich sowohl vor Gott
zu demütigen als auch vor der Kirche seine Buße zu bezeugen. Dabei gab es feierliche Gebräuche,
die man den Gefallenen als Zeichen ihrer Buße aufzuerlegen pflegte. Sobald der Sünder sie derart
vollbracht hatte, daß der Kirche Genugtuung gegeben war, wurde er durch Handauflegung wieder zu
Gnaden angenommen. Diese Wiederaufnahme wird von Cyprian häufig als "Friede" bezeichnet (Brief
57). Cyprian gibt uns auch eine kurze Beschreibung einer solchen Zeremonie. Er berichtet: "Sie
(die Sünder) tun eine gebührende Zeit hindurch Buße; dann kommen sie zum (Sünden-) Bekenntnis
und empfangen durch die Handauflegung des Bischofs und des Klerus das Recht zur Gemeinschaft (am
Abendmahl)" (Brief 16,2; 17,2). Allerdings übte der Bischof mit dem Klerus, wie Cyprian an
anderer Stelle berichtet, die Leitung bei diesem Versöhnungsakt in der Weise aus, daß dazu
zugleich die Einwilligung des Volkes (d.h. der Gemeinde) erforderlich war.
IV,12,7 Von dieser Zucht wurde niemand ausgenommen, so daß sich zusammen mit
Leuten aus dem Volke auch Fürsten darein fügten, sie auf sich zu nehmen. Und das mit Recht; denn
es stand ja fest, daß es sich hier um die Zucht Christi handelte, dem alle Zepter und Kronen der
Könige billigerweise unterstellt werden müssen. Ein Beispiel bietet uns Theodosius. Als ihm
Ambrosius wegen eines in Thessalonich angerichteten Blutbades die Berechtigung zur Gemeinschaft (am
heiligen Abendmahl) entzogen hatte, da warf er alle Zeichen seiner königlichen Würde, die er an
sich trug, zu Boden, beweinte öffentlich in der Kirche seine Sünde, in die er durch die
Treulosigkeit anderer geraten war, und bat unter Seufzen und Tränen um Verzeihung (Ambrosius, Brief
51,13; Rede beim Leichenbegängnis des Theodosius 28.34). (So war es richtig:) Denn große Könige
dürfen es sich nicht zur Schande anrechnen, wenn sie sich vor Christus, dem König der Könige,
demütig niederwerfen, und es darf ihnen nicht mißfallen, daß sie von der Kirche gerichtet werden.
Denn da sie an ihrem Hofe nahezu nichts zu hören bekommen als lauter Schmeichelworte, so haben sie
es mehr als nötig, vom Herrn durch den Mund der Priester zurechtgewiesen zu werden. Ja, sie sollen
vielmehr wünschen, daß die Priester ihrer nicht schonen – damit der Herr ihrer schone! (Ebenda
11,6). An dieser Stelle übergehe ich die Frage, durch wen solche Rechtsprechung zu üben sei; denn
davon war schon an anderer Stelle die Rede (vgl. Kap. 11, Sekt. 6). Ich füge nur hinzu: wenn es
sich darum handelt, einen Menschen in den Bann zu tun, so ist dabei das rechte Verfahren jenes, das
Paulus uns zeigt, nämlich daß die Ältesten den Bann nicht allein üben, sondern unter Vorwissen
und Billigung der Kirche, und zwar in der Weise, daß die Menge des Volkes die Handlung nicht
regiert, sondern sie als Zeuge und Wächter unter Augen hat, damit nicht etwa einige wenige etwas in
Willkür unternehmen. Der ganze Gang der Handlung aber soll, neben der Anrufung des Namens Gottes,
jenen gemessenen Ernst an sich tragen, bei dem man die Gegenwart Christi spürt, damit es keinem
Zweifel unterliegt, daß er selbst bei seinem Gericht die Leitung ausübt.
IV,12,8 Doch dürfen wir es nicht übergehen, daß der Kirche eine solche
Strenge geziemt, die sich mit dem Geiste der Milde verbindet. Denn wir müssen uns, wie es Paulus
gebietet, allezeit fleißig davor hüten, daß der, gegen den man mit Strafe vorgeht, "in allzu
große Traurigkeit versinke" (2. Kor. 2,7). Denn wenn das geschähe, so würde aus der Arznei das
Verderben werden. Aber die Regel für eine maßvolle Handhabung der Zucht läßt sich besser aus dem
dabei obwaltenden Zweck entnehmen. Beim Bann geht es doch darum, daß der Sünder zur Buße
geleitetwird und üble Beispiele weggeräumt werden, damit Christi Name nicht in üblen Ruf kommt
und andere nicht zur Nachahmung angereizt werden. Wenn wir das im Auge behalten, so werden wir
leicht entscheiden können, wie weit die Strenge gehen und wo sie aufhören soll. Sobald also der
Sünder der Kirche ein Zeichen seiner Bußfertigkeit gibt und durch dieses Zeichen, soweit es bei
ihm steht, das Ärgernis ausräumt, darf man ihn unter keinen Umständen weiter drängen; denn wenn
man ihn drängt, so geht die Strenge bereits über das Maß hinaus. In diesem Stück läßt sich auf
keinerlei Weise die maßlose Strenge der Alten entschuldigen, die mit der Weisung des Herrn durchaus
nicht im Einklang stand und außergewöhnlich gefährlich war. Denn wenn sie dem Sünder bald für
sieben, bald für vier, bald für drei Jahre, bald für das ganze Leben eine öffentliche Buße und
die Enthaltung vom heiligen Abendmahl auferlegten – was konnte daraus folgen, als entweder eine
furchtbare Heuchelei oder die schlimmste Verzweiflung? Ebenso: daß niemand, der zum zweiten Male in
Sünde gefallen war, zur "zweiten Buße" zugelassen wurde, sondern daß man ihn bis zum Ende
seines Lebens aus der Kirche verstieß, das war weder nützlich noch sinngemäß. Daher wird jeder,
der die Sache mit gesundem Urteil erwägt, zu der Einsicht kommen, daß die Alten es hier an
Weisheit haben fehlen lassen. Doch mißbillige ich hier mehr den allgemeinen Brauch, als daß ich
alle verklagte, die ihn angewandt haben. Denn es steht fest, daß manche ihr Mißfallen daran gehabt
haben; sie duldeten ihn aber, weil sie ihn nicht bessern konnten. Jedenfalls erklärt Cyprian, daß
er nicht aus eigenem Antrieb so streng gewesen ist. "Unsere Geduld, Gutwilligkeit und
Menschlichkeit", sagt er, "steht allen offen, die da kommen. Ich wünsche, daß sie alle in die
Kirche zurückkommen. Ich möchte wohl, daß alle unsere Streitgenossen innerhalb des Lagers Christi
und der Wohnstatt Gottes, des Vaters, zusammengeschlossen würden. Ich vergebe alles, ich übersehe
vieles. Aus dem Eifer und Wunsch heraus, die Bruderschaft zusammenzuführen, untersuche ich auch die
Verfehlungen, die gegen Gott begangen sind, nicht mit völlig scharfem Gericht. Durch mein mehr als
zulässiges Vergeben der Missetaten verfehle ich mich fast selber, mit bereitwilliger und völliger
Liebe komme ich allen denen entgegen, die in Bußfertigkeit zurückkehren und ihre Sünde durch
demütige und schlichte Genugtuung bekennen" (Brief 59, an Cornelius). Chrysostomus ist schon
etwas härter, aber er sagt doch: "Wenn Gott so gütig ist, wozu will dann sein Priester so hart
erscheinen?" Zudem wissen wir, welche Gutwilligkeit Augustin gegenüber den Donatisten hat walten
lassen, so daß er sich nicht scheute, solche, die aus der Abspaltung zurückkehrten, wieder ins
Bischofsamt aufzunehmen, und zwar unmittelbar nach ihrer Umkehr. Da sich aber die entgegengesetzte
Gepflogenheit durchgesetzt hatte, so waren sie gezwungen, von ihrem eigenen Urteil Abstand zu
nehmen, um sich ihr anzuschließen.
IV,12,9 Wie aber im ganzen Leibe der Kirche eine solche Sanftmut erforderlich
ist, daß sie die Gefallenen mit Milde und nicht bis zur äußersten Strenge straft, sondern lieber
nach der Weisung des Paulus ihre Liebe gegen sie bekräftigt (2. Kor. 2,8), so muß sich auch jeder
einzelne für sich allein dieser Milde und Freundlichkeit einfügen. Es ist also nicht unsere Sache,
solche, die aus der Kirche ausgeschlossen sind, aus der Zahl der Auserwählten zu tilgen oder an
ihnen zu verzweifeln, als ob sie bereits verloren wären. Wir haben wohl das Recht zu dem Urteil,
daß sie nun von der Kirche und infolgedessen auch von Christus abgeschnitten sind – aber nur für
so lange Zeit, als sie in ihrer Abspaltung verharren! Selbst wenn sie dann auch dem Anschein nach
mehr Hartnäckigkeit als Milde an den Tag legen, so wollen wir sie doch dem Urteil des Herrn
anbefehlen und dabei für die Zukunft Besseres von ihnen erhoffen, als wir gegenwärtig zu sehen
bekommen, auch deshalb nicht ablassen, für sie zu Gott zu bitten. Und wir wollen, um es mit
einemWort zusammenzufassen, nicht die Person, die sich allein in Gottes Hand und Gewalt befindet,
zum Tode verdammen, sondern nur aus dem Gesetz des Herrn heraus darüber urteilen, welcher Art eines
jeglichen Werke sind. Wenn wir dieser Regel folgen, so bleiben wir bei dem göttlichen Urteil
stehen, statt das unsere vorzubringen. Mehr Freiheit sollen wir uns im Urteilen nicht anmaßen, wenn
wir nicht Gottes Macht Grenzen setzen und seiner Barmherzigkeit ein Gesetz auferlegen wollen. Denn
so oft es ihm gefällt, da werden die Schlechtesten in Beste verwandelt, da werden Fremde in die
Kirche eingefügt und Draußenstehende in sie aufgenommen. Und das tut der Herr, um so die Meinung
der Menschen zu verspotten und ihren Vorwitz zu dämpfen. Denn wenn dieser nicht in seine Schranken
verwiesen wird, so wagt er, sich das Recht zum Urteilen über das gebührende Maß hinaus
anzumaßen.
IV,12,10 Denn wenn Christus verheißt, was die Seinen auf Erden gebunden
hätten, das solle auch im Himmel gebunden sein (Matth. )S,16), so beschränkt er dadurch die
Vollmacht zum "Binden" auf das Strafurteil der Kirche, und kraft dieses Strafurteils werden die
Gebannten nicht etwa in ewiges Verderben und ewige Verdammnis verstoßen, sondern sie hören, daß
ihr Lebenswandel und ihre Sitten verurteilt werden, und damit wird ihnen für den Fall, daß sie
nicht umkehren, ihre eigene ewige Verdammnis zur Kenntnis gebracht. Denn das ist der Unterschied
zwischen Verfluchung (anathema) und Bann, daß die Verfluchung jegliche Vergebung ausschließt und
den Menschen zu ewigem Verderben verwünscht und verdammt, während sich der Bann rächend und
strafend eher gegen seinen Lebenswandel richtet. Und obwohl auch der Bann den Menschen straft, so
tut er es doch so, daß er ihn durch die warnende Erinnerung an seine künftige Verdammnis zum Heile
zurückruft. Wo das erreicht ist, da liegt die Aussöhnung und die Wiederaufnahme in die
Gemeinschaft schon bereit. Die Verfluchung aber wird höchst selten oder überhaupt nicht angewandt.
Obwohl uns also die kirchliche Zuchtordnung nicht gestattet, mit den Gebannten vertrauteren Umgang
oder näheren Verkehr zu pflegen, so müssen wir doch mit allen uns möglichen Mitteln danach
streben, daß sie sich zu einem besseren Wandel bekehren und zur Gemeinschaft und Einheit der Kirche
zurückkehren. So lehrt es auch der Apostel. "Betrachtet solche Leute nicht als Feinde", sagt
er, "sondern vermahnet sie als Brüder" (2. Thess. 3,15; ungenau). Wenn wir diese Milde nicht
einzeln wie auch gemeinsam walten lassen, so besteht Gefahr, daß wir von der Zucht alsbald in
Quälerei abgleiten!
IV,12,11 Insonderheit gehört auch das zur maßvollen Handhabung der Zucht,
was Augustin in seiner Auseinandersetzung mit den Donatisten betont: wenn amtlose Leute sehen, daß
die Versammlung der Ältesten die Sünden nicht besonders nachdrücklich straft, so dürfen sie sich
deshalb nicht gleich von der Kirche abscheiden, oder wenn die Hirten selbst nicht in der Lage sind,
nach dem Wunsch ihres Herzens alles auszufegen, was der strafenden Besserung bedürfte, so dürfen
sie deshalb nicht ihr Amt von sich werfen oder die ganze Kirche durch ungewöhnliche Schärfe in
Wirren stürzen. Denn es ist sehr richtig, wenn er schreibt: "Wer durch Zurechtweisung bessert,
was er kann, und, was er nicht zu bessern vermag, unter Wahrung des Friedensbandes ausschließt, und
endlich das, was er unter Wahrung des Friedensbandes nicht ausschließen kann, in Billigkeit rügt
und mit Standhaftigkeit erträgt – der ist vom Fluche frei und ledig" (Gegen den Brief des
Parmenian II,1,3). Die Ursache dafür gibt er an anderer Stelle an: es soll eben jede
gottesfürchtige Art und Gestaltung der kirchlichen Zucht ihr Augenmerk stets auf die "Einigkeit
im Geist durch das Band des Friedens" richten (Eph. 4,3), das uns der Apostel durch gegenseitiges
"Vertragen" zu "halten" aufgegeben hat (Eph. 4,2f.); wird dies Band nicht "gehalten", so
beginnt die Arznei der Strafe nicht nur überflüssig, sondern auch verderblich zu werden und hört
deshalb auf, eine Arznei zu sein (Ebenda III,1,1)."Wer das mit Fleiß bedenkt", sagt er, "der
vernachlässigt über der Erhaltung der Einheit nicht die Strenge der Zucht, aber er bricht auch
nicht durch maßloses Strafen das Band der Gemeinschaft entzwei" (Ebenda III,2,15). Er gibt zwar
zu, daß nicht nur die Hirten darauf dringen müßten, daß in der Kirche keine Sünde bestehen
bleibt, sondern daß auch jeder einzelne (also auch der, der nicht Hirte ist) mit aller Kraft danach
streben muß. Auch verschweigt er nicht, daß einer, der es unterläßt, die Bösen zu ermahnen,
zurechtzuweisen und zu strafen, vor dem Herrn schuldig ist, auch wenn er ihnen nicht günstig
gesinnt ist und nicht mit ihnen zusammen sündigt; denn – das verkennt er nicht – wenn solch ein
Mensch nun einmal ein Amt bekleidet, kraft dessen er sie auch von der Gemeinschaft am Sakrament
fernhalten könnte, und tut das nicht, so sündigt er nicht aus fremder, sondern aus eigener Schuld.
Nur wünscht er, daß dies unter Anwendung jener Vorsicht geschehe, die auch der Herr verlangt,
damit nicht beim Ausraufen des Lolchs zugleich das Korn beschädigt wird (Ebenda III,1,2; Matth.
13,29). Von da aus kommt er mit einem Wort des Cyprian zu dem Ergebnis: "Der Mensch soll also in
Barmherzigkeit strafen, was er vermag, was er aber nicht zu strafen vermag, das soll er geduldig
ertragen und mit Liebe darüber seufzen und klagen" (Ebenda III,2,15; Cyprian, Brief 59,16).
IV,12,12 Augustin hat nun mit seinen Worten den Starrsinn der Donatisten im
Auge. Diese bemerkten in den Kirchen Sünden, die die Bischöfe zwar mit Worten tadelten, aber nicht
mit dem Bann straften, weil sie nicht glaubten, auf diesem Wege etwas ausrichten zu können; und
deshalb fuhren sie wüst gegen die Bischöfe als Verräter der Zucht los und schieden sich von der
Herde Christi in gottloser Spaltung ab. Ebenso machen es heute die Wiedertäufer: sie erkennen keine
Gemeinde als diejenige Christi an, wenn an ihr nicht in jedem Betracht eine engelgleiche
Vollkommenheit sichtbar ist, und machen nun unter dem Vorwand ihres Eifers jegliche Erbauung
zunichte. Solche Leute, sagt Augustin, "lassen sich nicht etwa vom Haß gegen die
Ungerechtigkeiten der anderen, sondern vom Eifer um ihre eigenen Streitereien leiten und setzen nun
alles daran, um schwache Leute, die sie mit dem Ruhm ihres Namens betört haben, entweder ganz zu
sich hinüberzuziehen oder sie doch jedenfalls abzuspalten. Geschwollen von Hoffart, rasend vor
Halsstarrigkeit, heimtückisch in ihren Lästerungen und ruhelos in ihrem Aufruhr, möchten sie nun
doch nicht, daß man ihnen nachweisen könnte, daß ihnen das Licht der Wahrheit fehlt, und deshalb
verstecken sie sich im Schatten einer rücksichtslosen Strenge; und was nach der Weisung der
Heiligen Schriften in recht glimpflicher Behandlung, unter Wahrung der Lauterkeit der Liebe und
unter Aufrechterhaltung der Einheit des Friedens geschehen soll, um die brüderlichen Gebrechen zu
strafen, das reißen sie an sich, um den Frevel der Kirchenspaltung zu begehen und um eine
Gelegenheit zum Abscheiden zu haben. So ‘verstellt sich’ der Satan ‘zu einem Engel des Lichts’
(2. Kor. 11,14), indem er nämlich eine angeblich gerechte Strenge zum Anlaß nimmt, ein grausames
Wüten anzustiften, und zwar in keiner anderen Absicht, als um das Band des Friedens und der Einheit
zu zerstören und zu zerreißen; denn wenn dies Band fest ist unter den Christen, so verlieren alle
seine Kräfte ihre Macht, um Schaden zu stiften, alle Fallstricke seiner heimtückischen
Nachstellungen zergehen, und all seine Zerstörungspläne fallen dahin" (Gegen den Brief des
Parmenian III,1,1. 3).
IV,12,13 Dabei empfiehlt Augustin von allem dies eine: wenn die Menge von
einer Sünde wie von einer ansteckenden Krankheit befallen ist, so ist die strenge Barmherzigkeit
einer kräftigen Zucht vonnöten. "Denn die Ratschläge zur Abscheidung", sagt er, "sind
eitel, verderblich und frevlerisch; sie werden nämlich gottlos und hoffärtig und bewirken eher
eine Verwirrung der schwachen Guten, als eine Besserung der beherzten Bösen" (Ebenda III,2,14).
Und was er an dieser Stelle anderen vorschreibt, das hat er selbst treulich befolgt. Denn in einem
Schreibenan den Bischof Aurelius von Karthago beklagt er es, daß in Afrika die Prunksucht
ungestraft um sich greife, obwohl sie doch in der Schrift so scharf verurteilt werde, und rät, man
solle ein Konzil der Bischöfe einberufen und ein Mittel dagegen schaffen (Brief 22,1,4). Dann
fährt er fort: "Solche Dinge behebt man meines Erachtens nicht mit Härte, nicht mit Schärfe,
nicht in gebieterischer Weise, sondern mehr durch Unterweisung als durch Weisung, mehr durch Mahnen
als durch Drohen. Denn so muß man mit dem großen Haufen derer, die sich vergehen, verfahren.
Strenge dagegen muß man gegen die Sünde weniger walten lassen" (Ebenda 1,5). Trotzdem ist er
dabei, wie er selbst nachher auseinandersetzt, nicht der Meinung, daß die Bischöfe deshalb durch
die Finger sehen oder schweigen müßten, weil sie nicht in der Lage wären, öffentliche
Schandtaten strenger zu bestrafen (Gegen den Brief des Parmenian, III,2,15). Nein, er will, daß man
bei der Art und Weise der Strafe solche Mäßigung walten läßt, daß man dem Leibe, soweit es
möglich ist, Gesundheit schafft statt Verderben (Ebenda). Und deshalb kommt er schließlich zu
folgendem Ergebnis: "Wir dürfen also einerseits die Weisung des Apostels, die Bösen abzusondern,
in keinem Betracht vernachlässigen, wenn das ohne die Gefahr einer Verletzung des Friedens vor sich
gehen kann; denn nur in dieser Weise wollte er, daß es geschähe. Andererseits aber müssen wir
auch darauf halten, daß wir durch gegenseitiges Ertragen danach trachten, ‘zu halten die
Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens’" (Ebenda III,2,16; 1. Kor. 5,3-7; Eph. 4.2.3).
IV,12,14 Der übrige Teil der Zucht, der nicht eigentlich unter die
Schlüsselgewalt fällt, besteht darin, daß die Hirten das Volk (die Gemeinde), je nach Erfordernis
der Zeit, zum Fasten, zu feierlichen Gebeten oder zu anderen Übungen der Demut, der Buße und des
Glaubens ermahnen sollen, deren Zeit, Art und Form im Worte Gottes nicht vorgeschrieben, sondern dem
Urteil der Kirche überlassen wird. Die Übung auch dieses Stücks der Kirchenzucht ist segensreich,
und sie ist dementsprechend in der Alten Kirche schon seit der Zeit der Apostel stets gebräuchlich
gewesen. Allerdings haben nicht einmal die Apostel den ersten Anfang damit gemacht, sondern sie
haben das Vorbild dazu aus dem Gesetz und den Propheten entnommen. Denn wie wir da lesen, wurde
jedesmal, wenn sich ein ernsterer Fall ereignete, das Volk zusammengerufen, und dann wurden
öffentliche Gebete und Fasten angesetzt. Die Apostel haben sich also einem Brauch angeschlossen,
der dem Volke Gottes nicht neu war und von dem sie vorhersahen, daß er sich segensreich auswirken
werde. Ähnlich ist es mit den anderen Übungen bestellt, durch die das Volk zu seiner Pflicht
ermuntert oder bei Pflicht und Gehorsam erhalten werden kann. Beispiele dafür treten uns in den
heiligen Geschichten immer wieder entgegen, und es ist nicht nötig, sie aufzuzählen.
Zusammenfassend müssen wir festhalten: jedesmal, wenn sich ein Streit über Religionsfragen erhebt,
der von einer Synode oder einem kirchlichen Gericht entschieden werden muß, wenn es darum geht,
einen Diener zu wählen, kurz, wenn eine schwierige oder bedeutungsvolle Sache vorliegt oder wenn
umgekehrt die Zorngerichte des Herrn, wie Pestilenz, Krieg oder Hungersnot, in die Erscheinung
treten, dann ist es eine heilige und für alle Zeiten heilbringende Ordnung, daß die Hirten das
Volk zu öffentlichen Fasten und außerordentlichen Gebeten ermahnen. Wenn jemand die Beispiele, die
man aus dem Alten Testament vorbringen kann, nicht annimmt, weil sie nach seiner Meinung auf die
christliche Kirche weniger paßten, so steht es jedenfalls fest, daß auch die Apostel so gehandelt
haben. Freilich wird sich meiner Ansicht nach schwerlich jemand finden, der wegen der Gebete
Bedenken erhebt. Wir wollen also einiges über das Fasten sagen; denn es gibt sehr viele Leute, die
nicht begreifen, welchen Nutzen es hat, und die deshalb der Meinung sind, es sei nicht so nötig,
ferner sind andere da, die es als etwas überflüssiges gänzlich verwerfen, und endlich verfällt
man, wenn man die Übung des Fastens nicht richtig versteht, leicht in Aberglauben.
IV,12,15 Ein heiliges und rechtmäßiges Fasten hat nun einen dreifachen
Zweck. Denn wir wenden es an, (1.) um das Fleisch zu zähmen und zu unterwerfen, damit es sich nicht
ungebunden gehen läßt, oder (2.), um zu Gebeten und heiligen Betrachtungen besser bereitet zu
sein, oder endlich (3), um ein Zeichen unserer Demütigung vor Gott zu geben, wenn wir unsere Schuld
vor ihm bekennen wollen. Der erstgenannte Zweck kommt bei dem öffentlichen Fasten nicht besonders
häufig in Betracht, weil nicht alle Leute von gleicher leiblicher Verfassung und Kraft sind; dieser
Zweck paßt also mehr für das persönliche Fasten des einzelnen. Der zweite Zweck findet sich beim
öffentlichen wie beim privaten Fasten; denn die gesamte Kirche hat solche Bereitung zum Beten
ebenso nötig wie jeder einzelne unter den Gläubigen für sich allein. Auch von dem dritten Zweck
gilt Ähnliches. Denn es wird zuweilen vorkommen, daß Gott ein bestimmtes Volk mit Krieg, Pestilenz
oder irgendwelcher Not schlägt. Unter solch gemeinsamer Züchtigung soll sich das ganze Volk als
schuldig anerkennen und auch seine Schuld bekennen. Trifft aber die Hand des Herrn einen einzelnen
Menschen, so soll er allein oder mit seiner Hausgenossenschaft das gleiche tun. Nun beruht solches
Anerkennen und Bekennen der Schuld zwar vornehmlich auf der inneren Regung des Herzens. Aber wo das
Herz die rechte Empfindung hat, da kann das kaum geschehen, ohne daß es auch in eine äußere
Beteuerung ausbricht, und zwar namentlich dann, wenn es zur allgemeinen Erbauung dient, daß alle
miteinander durch öffentliches Bekenntnis ihrer Sünde Gott den Lobpreis der Gerechtigkeit zollen
und jeder den anderen durch sein Beispiel dazu ermuntert.
IV,12,16 Daher findet das Fasten, weil es ein Zeichen der Demütigung ist,
im öffentlichen Leben häufiger Anwendung als bei den einzelnen Menschen – obwohl es, wie gesagt,
in beiden Fällen im Gebrauch steht. Was also die Zucht betrifft, um die es sich ja hier handelt, so
wird es wohl, sooft es gilt, wegen eines wichtigen Anliegens zu Gott zu beten, angezeigt sein, mit
dem Gebet zusammen auch ein Fasten anzusetzen. So geschah es, als die Antiochener dem Paulus und dem
Barnabas die Hände auflegten: um den Dienst dieser Männer, der von so großer Bedeutung war, Gott
desto besser ans Herz zu legen, verbanden sie mit ihrem Gebet das Fasten (Apg. 13,3). Ebenso haben
diese beiden Männer nachher, als sie für die Kirchen hin und her Diener einsetzten, die Gewohnheit
gehabt, unter Fasten zu beten (Apg. 14,23). Mit dieser Art von Fasten verfolgten sie keinen anderen
Zweck, als eifriger und freier zum Beten zu werden. Denn wir machen ja unzweifelhaft die Erfahrung,
daß bei vollem Bauche der Geist nicht derart zu Gott emporgerichtet ist, daß er von ernstlicher,
heißer Empfindung zum Gebet getrieben werden und in ihm verharren könnte. So ist es auch zu
verstehen, wenn Lukas von der Hanna berichtet, sie habe dem Herrn "mit Fasten und Beten gedient"
(Luk. 2,37). Denn damit macht er das Fasten nicht etwa zu einem Bestandteil des Gottesdienstes,
sondern gibt nur zu verstehen, daß die heilige Frau sich auf diese Weise zu beständigem Eifer im
Gebet geübt habe. Von dieser Art war auch das Fasten des Nehemia, als er Gott mit gespanntem Eifer
um die Befreiung seines Volkes bat (Neh. 1,4). Aus diesem Grunde sagt Paulus, die Gläubigen täten
recht daran, wenn sie sich zeitweilig des ehelichen Umgangs enthielten, um desto freier "zum
Fasten und Beten Muße zu haben" (1. Kor. 7,5); er verbindet hier das Fasten als ein Hilfsmittel
mit dem Gebet und macht dadurch darauf aufmerksam, daß es an und für sich nur soweit Bedeutung
hat, als es diesem Zweck dienstbar ist. Außerdem gibt er an dieser Stelle (Vers 3) den Eheleuten
die Weisung, sich gegenseitig "die schuldige Freundschaft" zu leisten (d.h.: was in Vers 5
gesagt ist, stellt eine Ausnahme dar!), und daraus ergibt sich deutlich, daß er (Vers 5) nicht von
den täglichen Gebeten redet, sondern von solchen, die eine besonders ernste Aufmerksamkeit
erfordern.
IV,12,17 Auf der anderen Seite: wenn Pestilenz oder Hungersnot oder Krieg zu
wüten beginnen oder wenn sonst einem Land oder Volk ein Verderben zu drohen scheint, so ist es auch
in solchem Falle die Amtspflicht der Hirten, die Kirche zum Fasten zu ermahnen, um den Herrn
demütig um Abwendung seines Zorns zu bitten. Denn wenn er eine Gefahr auftreten laßt, so kündigt
er damit an, daß er sich zur Strafe bereitet und gleichsam wappnet. Wie sich also früher die
Angeklagten mit lang herabhängendem Barte, mit ungeschorenem Haupthaar und im Trauergewand demütig
vor ihrem Richter niederzuwerfen pflegten, um von ihm Barmherzigkeit zu erlangen, so ist es sowohl
der Ehre Gottes und der allgemeinen Erbauung dienlich als auch für uns selbst nützlich und
heilsam, daß wir ihn in erbarmungswürdiger Haltung um Abwendung seiner Strenge bitten, wenn wir
vor seinem Richterstuhl als Angeklagte erscheinen. Und daß dies im Volke Israel gebräuchlich
gewesen ist, das läßt sich leicht aus den Worten des Joel entnehmen; denn wenn er gebietet, man
solle mit Posaunen blasen, die Gemeinde zusammenrufen, ein Fasten ausschreiben und so weiter (Joel
2,15f.), so spricht er wie von Dingen, die durch allgemeine Übung in Aufnahme gekommen waren. Kurz
vorher hatte er gesagt, über die Schandtaten des Volkes solle jetzt Untersuchung gehalten werden,
er hatte auch angekündigt, daß der Tag des Gerichtes bereits bevorstehe, und er hatte die
Schuldigen zur Rechenschaft gerufen (Joel 2,1). Und dann ruft er laut, das Volk solle zu Sack und
Asche, zu Weinen und Fasten eilen, das heißt: es solle sich auch mit äußeren Zeichen vor dem
Herrn niederwerfen (Joel 2,12). Nun paßten Asche und Sack vielleicht mehr für jene Zeiten; aber
die Zusammenberufung des Volkes, das Weinen und das Fasten und was sonst dergleichen ist, das
gehört unzweifelhaft in gleicher Weise auch in unsere Zeit, und zwar jedesmal, wenn es die Lage
unserer Verhältnisse erfordert. Denn es ist doch eine heilige Übung zur Demütigung der Menschen
wie auch zum Bekenntnis solcher Demut – und weshalb sollten wir es da weniger anwenden als die Alten
in gleicher Not? Wir lesen doch, daß nicht nur die israelitische Kirche, die nach Gottes Wort
gestaltet und eingerichtet war, zum Zeichen der Trauer gefastet hat (1. Sam. 7,6; 31,13; 2. Sam.
1,12), sondern daß auch die Einwohner von Ninive das gleiche getan haben, die doch keine andere
Unterweisung besaßen als allein die Predigt des Jona (Jona 3,5). Was für ein Grund besteht also,
daß wir nicht dasselbe tun sollten? Aber, so könnte man einwenden, es handelt sich doch hier um
eine äußerliche Zeremonie, die mit den anderen zusammen in Christus ihr Ende gefunden hat! Nein,
das Fasten ist, wie es das stets gewesen ist, für die Gläubigen auch heute noch ein sehr gutes
Hilfsmittel und eine segensreiche Mahnung, sich selber aufzumuntern, damit sie Gott in ihrer allzu
großen Sorglosigkeit und Lässigkeit nicht mehr und mehr reizen, wenn sie von seinen Geißeln
gezüchtigt werden. Deshalb sagt Christus, als er seine Apostel wegen ihrer Unterlassung des Fastens
entschuldigt, auch nicht etwa, das Fasten sei abgeschafft, sondern er bestimmt es für notvolle
Zeiten und verbindet es mit der Trauer; "es wird die Zeit kommen", sagt er, "daß der
Bräutigam von ihnen genommen wird" (Matth. 9,15; Luk. 5,34f.).
IV,12,18 Damit aber an dem Namen kein Irrtum entsteht, so wollen wir
bestimmen, was Fasten bedeutet. Denn unter Fasten verstehen wir nicht etwa einfach Enthaltsamkeit im
Essen und Trinken, sondern etwas anderes. Gewiß soll das Leben der Frommen dermaßen von
Einfachheit und Schlichtheit regiert werden, daß es, soweit das möglich ist, in seinem ganzen
Verlauf eine bestimmte Art von Fasten an den Tag legt. Aber es gibt außerdem noch ein anderes,
zeitliches Fasten, wobei wir uns etwas von der gewohnten Lebensweise abziehen, und zwar entweder
für einen Tag oder für bestimmte Zeit, und wobei wir uns im Essen und Trinken eine Enthaltsamkeit
auferlegen, die schärfer und strenger ist alsdie sonst gewöhnliche. Dies Fasten besteht nun in
drei Stücken: in der Zeit, in der Art der Speisen und in der Einschränkung (bezüglich der Menge).
Unter der "Zeit" verstehe ich dies, daß wir die Handlungen, um derentwillen das Fasten
verordnet wird, nüchtern vollbringen. So zum Beispiel: wenn jemand um des öffentlichen Gebets
willen fastet, so soll er sich dazu einfinden, ohne gegessen zu haben. Die "Art" besteht darin,
daß wir alle Leckereien beiseite lassen und, mit gewöhnlicher, einfacher Nahrung zufrieden,
unseren Gaumen nicht mit köstlicher Speise reizen. Das (sparsame) Bedachtnehmen auf das "Maß"
bedeutet, daß wir uns spärlicher und leichter ernähren, als wir es sonst gewohnt sind, und unsere
Nahrung nur der Notdurft, nicht aber zugleich dem Ergötzen dienen lassen.
IV,12,19 Stets aber müssen wir uns in erster Linie davor hüten, daß sich
irgendwelcher Aberglaube einschleicht, wie das vor unserer Zeit zum großen Schaden der Kirche
eingetreten ist. Denn es wäre viel besser, wenn überhaupt keinerlei Fasten geübt würde, als wenn
man es zwar fleißig übt, aber unterdessen mit falschen und schädlichen Vorstellungen verdirbt, in
die die Welt leicht hineingleitet, wenn die Hirten nicht mit größter Treue und Vorsicht dagegen
auftreten. Zuerst haben sie die Pflicht, stets darauf zu dringen, was Joel lehrt: "Zerreißet eure
Herzen und nicht eure Kleider" (Joel 2,13). Das bedeutet: sie müssen das Volk darauf aufmerksam
machen, daß Gott dem Fasten an und für sich keinen großen Wert beimißt, wenn nicht eine
innerliche, Regung des Herzens dabei ist, ein wahres Mißfallen an der Sünde und an sich selbst
wahre Demütigung und wahrer Schmerz, wie er aus der Furcht Gottes entsteht. Ja, sie müssen darauf
hinweisen, daß das Fasten aus keinem anderen Grunde von Nutzen ist, als weil es als untergeordnetes
Hilfsmittel zu jenen inneren Empfindungen hinzutritt. Denn Gott verabscheut nichts mehr, als wenn
ihm die Menschen Zeichen und einen äußeren Schein statt der Unschuld des Herzens vorhalten und ihn
dadurch zu betrügen versuchen. Deshalb fährt Jesaja mit äußerster Schärfe gegen die Heuchelei
los, daß die Juden meinten, Gott sei schon Genüge geschehen, sobald sie bloß gefastet hätten, so
sehr sie auch Gottlosigkeit und unreine Gedanken in ihrem Herzen nährten. "Sollte das ein Fasten
sein", sagt er, "das der Herr erwählt hat ...?" (Jes. 58,5; ungenau). Solch heuchlerisches
Fasten ist also nicht nur eine nutzlose und überflüssige Bemühung, sondern der furchtbarste
Greuel. Noch vor einem zweiten Übel, das mit diesem ersten verwandt ist, müssen wir uns aufs
höchste in acht nehmen, nämlich, daß das Fasten nicht etwa für ein verdienstliches Werk oder
für eine Erscheinungsform des Gottesdienstes gehalten werde. Denn es ist doch an und für sich ein
Mittelding und hat keinerlei Bedeutung als allein um der Zwecke willen, auf die es sich beziehen
soll, und deshalb ist es der verderblichste Aberglaube, wenn man es mit den Werken
durcheinandermengt, die Gott geboten hat und die an und für sich, nicht erst im Blick auf etwas
anderes, notwendig sind. Von dieser Art war einst der Aberwitz der Manichäer, und bei ihrer
Widerlegung setzt Augustin deutlich genug auseinander, daß das Fasten einzig und allein von den
oben genannten Zwecken her beurteilt werden darf und daß es von Gott nur dann gutgeheißen wird,
wenn es sich auf diese bezieht (Von den Gebräuchen der Manichäer II,13; Gegen den Manichäer
Faustus XXX,5). Der dritte Irrtum ist zwar nicht gar so gottlos, aber trotzdem gefährlich. Er
besteht darin, daß man das Fasten als eine der wichtigsten Pflichten ansieht und es dann gar zu
hartnäckig und streng fordert und mit maßlosen Lobsprüchen derart erhebt, daß die Menschen
meinen, sie hätten etwas ganz Hervorragendes getan, wenn sie gefastet hätten. In diesem Stück
wage ich die Alten nicht völlig zu entschuldigen (und zu behaupten), daß sie nicht gewisse
Samenkörnerdes Aberglaubens ausgestreut und der hernach aufgekommenen Tyrannei eine Gelegenheit
gegeben hätten. Freilich begegnen uns zuweilen auch gesunde und verständige Aussagen über das
Fasten, aber später findet man dann von Zeit zu Zeit maßlose Lobsprüche darüber, die es unter
die vornehmsten Tugenden erheben.
IV,12,20 Und dann hat sich allenthalben das abergläubische Halten des
vierzigtägigen Fastens durchgesetzt (also ein Fasten während der Passionszeit, vierzig Tage vor
Ostern), weil einerseits das Volk der Meinung war, Gott damit einen ganz besonders hervorragenden
Gehorsam zu leisten, und weil es andererseits von den Hirten als heilige Nachfolge Christi empfohlen
wurde. Und dabei liegt es doch auf der Hand, daß Christus nicht in der Absicht gefastet hat, um
anderen ein Beispiel vorzuzeichnen, sondern um dadurch, daß er die Predigt des Evangeliums damit
(d.h. mit einem vierzigtägigen Fasten) begann, durch die Tat zu beweisen, daß dies Evangelium
nicht eine menschliche Lehre darstellte, sondern vom Himmel ausgegangen war (Matth. 4,2). Es ist
auch ein Wunder, daß sich eine solch grobe Phantasterei bei Leuten mit scharfem Urteil
einschleichen konnte, obwohl sie mit so vielen und so klaren Gründen widerlegt wird. Denn Christus
fastet nicht häufiger – und das hätte doch geschehen müssen, wenn er ein Gesetz für solch ein
jährlich wiederkehrendes Fasten hätte erlassen wollen -, sondern nur ein einziges Mal, als er sich
zur Verkündigung des Evangeliums rüstet. Auch fastet er nicht nach menschlicher Weise, was er doch
billigerweise hätte tun müssen, wenn er Menschen zur Nachahmung hätte auffordern wollen, sondern
er läßt vielmehr ein Werk sichtbar werden, mit dem er alle Menschen zur Bewunderung fortreißt,
statt sie zum Trachten nach Nacheiferung anzureizen. Und schließlich ist es mit diesem Fasten nicht
anders bestellt als mit jenem, das Mose geübt hat, als er aus der Hand des Herrn das Gesetz empfing
(Ex. 24,18; 34,28). Denn da jenes Wunder an der Person des Mose dazu gegeben war, die Autorität des
Gesetzes zu bekräftigen, so konnte es bei Christus nicht unterbleiben, damit nicht Eindruck
entstünde, als stehe das Evangelium hinter dem Gesetz zurück. Von jener Zeit an aber ist es nie
jemandem in den Sinn gekommen, unter dem Vorwand einer Nachahmung des Mose eine solche Form des
Fastens (wie er sie geübt) im Volke Israel einzuführen. Auch hat sich unter den heiligen Propheten
und Vätern kein einziger diesem Fasten des Mose angeschlossen, obgleich sie doch zu allen frommen
Übungen Neigung und Eifer genug hatten. Denn was von Elia berichtet wird, nämlich er habe vierzig
Tage ohne Speise und Trank zugebracht (1. Kön. 19,8), das diente keinem anderen Zweck, als daß das
Volk erkennen sollte, daß er zum Schützer des Gesetzes erweckt war, von dem gemeinhin das ganze
Israel abgewichen war. Es war also lauter verkehrte, abergläubische Nachahmung, daß man dies
Fasten mit dem Titel und der Deckfarbe der Nachfolge Christi schmückte. Allerdings bestand dazumal
in der Art und Weise des ("vierzigtägigen") Fastens eine außerordentliche Verschiedenheit, wie
Cassiodor im neunten Buche seiner (Kirchen-) Geschichte (Historia tripartita IX,38) auf Grund des
Socrates berichtet. Denn die Römer hatten, so sagt er, bloß drei (Fast-) Wochen, aber in diesen
fasteten sie ununterbrochen mit Ausnahme des Sonntags und des Samstags. Die Illyrer und Griechen
hatten sechs Wochen, andere wieder sieben, aber dann wurde das Fasten durch Zwischenzeiten
unterbrochen. Nicht weniger groß war die Verschiedenheit im Bezug auf die Unterscheidung der
Speisen: die einen nährten sich (in der Fastenzeit) ausschließlich von Brot und Wasser, andere
setzten Gemüse hinzu, wieder andere verschmähten auch Fisch und Geflügel nicht, wieder andere
machten überhaupt keinen Unterschied in den Speisen. Diese Verschiedenheit erwähnt auch Augustin
in seinem zweiten (tatsächlich im ersten) Brief an Januarius (Brief 54).
IV,12,21 Dann sind schlimmere Zeiten gekommen, und zu dem unangebrachten
Eifer des Volkes gesellte sich einerseits die Unwissenheit und mangelnde Bildung der Bischöfe,
andererseits ihre Herrschsucht und tyrannische Härte. Man hat gottlose Gesetze erlassen, die die
Gewissen mit verderblichen Fesseln binden. So hat man das Essen von Fleisch verboten, als ob es den
Menschen befleckte. Eine frevlerische Meinung wurde an die andere gereiht, bis man in einen Abgrund
aller Irrtümer geraten ist. Und um nun ja keine Schlechtigkeit ungeschehen zu lassen, hat man
angefangen, unter dem völlig albernen Vorwand der Enthaltsamkeit mit Gott seinen Spott zu treiben.
Denn man sucht den Ruhm des Fastens in den ausgesuchtesten Leckerbissen, keine Köstlichkeiten sind
dann genug, nie ist die Fülle, die Vielfältigkeit und der Wohlgeschmack der Speisen größer (als
ausgerechnet in der Fastenzeit). Mit solchem kostbaren Aufwand meint man dann Gott recht zu dienen!
Ich schweige noch davon, daß sich Leute, die als die Allerheiligsten angesehen werden wollen, nie
schmählicher überladen (als beim "Fasten"). Kurzum, diese Leute halten es für den höchsten
Gottesdienst, sich (in der Fastenzeit) des Fleisches zu enthalten – und dann mit dessen Ausnahme an
Leckereien aller Art Überfluß zu haben! Und umgekehrt gilt es ihnen als die schlimmste
Gottlosigkeit, die kaum mit dem Tode gesühnt werden kann, wenn jemand zu seinem Schwarzbrot auch
nur ein kleines Stücklein Speck oder altes Fleisch genießt. Hieronymus erzählt, daß es schon zu
seiner Zeit einige Leute gegeben hat, die durch dergleichen Albernheiten mit Gott ihren Spott
trieben: das waren Leute, die nur ja kein Öl zu ihrer Nahrung gebrauchen wollten, sich aber eben
deshalb von allen Seiten die kostbarsten Speisen zubringen ließen, ja, die sich, um der Natur
Gewalt anzutun, des Wassertrinkens enthielten, aber dafür sorgten, daß sie wohlschmeckende,
köstliche Tränklein bekamen, die sie dann nicht aus einem Becher, sondern aus einer Muschel
tranken (Brief 52,12; an Nepotian). Dieser Mißstand herrschte dazumal nur bei einigen wenigen
Menschen, heutzutage ist er bei allen reichen Leuten üblich: sie fasten allein zu dem einen Zweck,
dabei um so köstlicher und glänzender zu schmausen! Aber ich will an diesen Gegenstand, der nicht
eben mit Ungewißheit beladen ist, nicht viel Worte verschwenden. Ich behaupte nur dies: weder bei
dem Fasten noch bei den anderen Teilen der Zucht besitzen die Papisten etwas Rechtschaffenes,
Aufrichtiges oder recht Gestaltetes und Geordnetes, so daß sie etwa einen Anlaß zu hoffärtigem
Selbstruhm hätten, als ob bei ihnen etwas übrig wäre, das Lob verdiente.
IV,12,22 Jetzt folgt der zweite Teil der Zucht, der sich in besonderer Weise
auf den "Klerus" bezieht. Dieser Teil ist in den "Canones" (Regeln) enthalten, welche die
alten Bischöfe sich selbst und ihrem Stande (d.h. dem Klerus) auferlegt haben. So etwa: ein
Kleriker darf sich nicht der Jagd widmen, auch nicht dem Würfelspiel, er darf nicht an Zechgelagen
teilnehmen, kein Kleriker darf Geldgeschäfte und Kaufmannschaft betreiben, keiner darf bei
ausgelassenen Tänzen zugegen sein, und dergleichen mehr. Zu diesen Regeln fügte man dann auch
Strafen hinzu, durch welche die Autorität der "Canones" ihre Sicherung erfuhr, damit sie
niemand ungestraft verletzte. Zu diesem Zweck wurde nun jedem einzelnen Bischof die Leitung seines
Klerus anvertraut: er sollte die ihm unterstellten Kleriker nach diesen "Canones" regieren und
bei ihrer Amtspflicht halten. Zu diesem Zweck waren auch jährliche Aufsichtsbesuche (inspectiones,
Visitationen) und Synoden eingerichtet: wenn jemand in seiner Pflicht nachlässig war, so sollte er
vermahnt werden, und wenn sich jemand vergangen hatte, so sollte man ihn nach dem Maß seines
Vergehens strafen. Auch die Bischöfe selbst hatten Jahr für Jahr ihre Provinzialsynode, in alter
Zeit sogar jährlich zwei, und auf diesen Synoden wurde über sie Gericht gehalten, wenn sie etwas
gegen ihre Pflicht unternommen hatten. Denn wenn ein Bischof gegen seinen Klerus zu hart oder zu
gewalttätig war, so bestand für diesen das Recht, sich auf jene Synode zu berufen, undzwar auch
dann, wenn sich nur ein einziger beschwerte. Die strengste Strafe bestand darin, daß der, der sich
vergangen hatte, seines Amtes entsetzt und eine Zeitlang vom Abendmahl ausgeschlossen wurde. Bei
diesen Synoden handelte es sich um eine dauernde Ordnung, und deshalb pflegte man nie eine
auseinandergehen zu lassen, ohne Ort und Zeit der folgenden festzusetzen. Ein allgemeines Konzil
einzuberufen war nämlich allein Sache des Kaisers, wie alle alten Ausschreibungen bezeugen. Solange
diese Strenge in Kraft blieb, verlangten die Kleriker mit dem Wort nicht mehr vom Volke, als sie mit
eigenem Beispiel und Werk leisteten. Ja, sie waren gegen sich selbst viel schärfer als gegen den
gemeinen Mann. Und in der Tat gehört es sich so, daß das Volk mit milderer und sozusagen loserer
Zucht regiert wird, die Kleriker dagegen untereinander schärfere Strafen üben und sich selbst viel
weniger durch die Finger sehen als anderen. Wie nun das alles in Abgang gekommen ist, das brauche
ich nicht zu berichten; denn heutzutage kann man sich nichts Zügelloseres und Ungezogeneres denken
als den Klerikerstand, und er ist in eine solche Ungebundenheit geraten, daß das ganze Erdenrund
darüber schreit. Damit man nun aber nicht den Eindruck gewinnt, als sei bei ihnen das ganze alte
Wesen begraben, so täuschen sie, das gebe ich zu, die Augen einfältiger Leute mit Schattenbildern,
die aber mit den alten Sitten ebensowenig zu tun haben wie die Nachahmung, die die Affen treiben,
mit dem, was Menschen mit Verstand und Bedacht tun. Es gibt bei Xenophon eine denkwürdige Stelle,
an der er lehrt, daß die Perser, obwohl sie von den Einrichtungen ihrer Vorfahren schmählich
abgekommen und von der harten Lebensweise in Weichheit und Vergnügungen verfallen waren, dennoch
die früheren Gebräuche eifrig bewahrten, um jene Schande zu verdecken. Während sich nämlich zur
Zeit des Kyrus die Enthaltsamkeit und Mäßigkeit so weit auswirkte, daß es nicht nötig war und
auch als Schande galt, auszuschneuzen, erhielt sich bei den Späteren zwar die heilige Scheu, die es
verbot, die Nase zu schneuzen, aber unterdessen galt es als erlaubt, den stinkenden Speichel, den
sie von ihrer Völlerei bekommen hatten, herunterzuschlucken und bis zum Verfaulen in sich zu
behalten. Ebenso betrachteten sie es auf Grund alter Vorschrift als unschicklich, Krüge an den
Tisch zu bringen, dagegen hielten sie es für erträglich, sich dermaßen an Wein zu überladen,
daß man sie betrunken von dannen tragen mußte. Die Vorschrift besagte, daß man einmal (am Tage)
essen durfte, und das hatten diese braven Nachfolger auch nicht abgeschafft – nur so, daß sie nun
ihre Gelage vom Mittag bis zur Mitternacht durchgehen ließen! Einen Tagesmarsch nüchtern zu
machen, das galt bei ihnen als dauernde Gepflogenheit – aber, um Ermüdung zu vermeiden, so nahmen
sie sich aus gewohnter Übung die Freiheit und den Brauch, den Marsch nicht über zwei Stunden
auszudehnen! (Xenophon, Cyropaedia, VIII, 8). Wenn nun die Papisten ihre entarteten Regeln zum
Vorwand nehmen, um den Nachweis zu erbringen, daß sie mit den heiligen Vätern verwandt wären, so
wird dies Beispiel jedesmal ihre lächerliche Nachahmung genugsam an den Tag kommen lassen, so daß
kein Maler in der Lage wäre, sie lebenswahrer zum Ausdruck zu bringen.
IV,12,23 In einer einzigen Sache sind die Papisten mehr als hart und
unerbittlich, nämlich darin, daß sie den Priestern die Ehe nicht gestatten wollen. Was für eine
straflose Freiheit zur Hurerei sich bei ihnen breitmacht, das brauche ich nicht zu sagen. Sie sind
im Vertrauen auf ihren stinkigen "Zölibat" auch für alle Schandtaten gefühllos geworden. Dies
Verbot aber zeigt deutlich, wie verderbenbringend alle Menschensatzungen sind; denn es hat nicht nur
die Kirche der rechtschaffenen und brauchbaren Hirten beraubt, sondern eine greuliche Schmutzflut
von Freveltaten herbeigeführt und viele Seelen in den Schlund der Verzweiflung gestürzt. Auf jeden
Fall ist das Verbot der Priesterehe aus gottloser Tyrannei erfolgt, nicht nur im Gegensatz zum Worte
Gottes, sondern auch gegen jegliche Billigkeit. Zunächst war es den Menschen in keiner Weise
erlaubt, zu verbieten, was der Herr frei gelassen hatte. Und dann: es ist so klar, daß es eines
langen Nachweises nicht bedarf, daß Gott in seinem Wort Vorsorge gegen jeden Bruch dieser Freiheit
getroffen hat. Ich übergehe es, daß Paulus an mehreren Stellen den Willen äußert, daß ein
Bischof "eines Weibes Mann" sei (1. Tim. 3,2; Tit. 1,6). Aber was hätte Nachdrücklicheres
gesagt werden können, als wenn er auf Antrieb des Heiligen Geistes ankündigt, "in den letzten
Zeiten" würden gottlose Menschen auftreten, "die da gebieten, nicht ehelich zu werden", und
wenn er diese Menschen nicht nur "verführerisch", sondern "Teufel" nennt (1. Tim. 4,1.3)?
Es ist also eine Weissagung, es ist ein heiliges Offenbarungswort des Heiligen Geistes, mit dem er
die Kirche von Anfang an gegen solche Gefahren wappnen wollte, daß das Verbot der Ehe eine
Teufelslehre ist! Die Papisten aber meinen, sie wären fein säuberlich entkommen, indem sie diesen
Spruch verdrehen und auf Montanus, die Nachfolger des Tatian, die Enkratiten und andere Ketzer der
Alten Kirche beziehen. Nur diese, so sagen sie, haben den Ehestand verdammt, wir dagegen verdammen
ihn durchaus nicht, sondern halten nur den "kirchlichen Stand" von ihm fern, weil wir der
Meinung sind, daß er sich für diesen nicht recht gehört. Als ob diese Weissagung sich nicht
selbst dann, wenn sie in jenen Ketzern erfüllt wäre, auch auf diese Leute bezöge! Und als ob
diese kindische Spitzfindigkeit, daß sie erklären, sie träfen ja gar kein Verbot, weil sie es
eben nicht für alle treffen, auch nur wert wäre, angehört zu werden! Denn das ist doch genau so,
als wenn ein Tyrann von einem seiner Gesetze behaupten wollte, es sei gar nicht unbillig, weil es in
seiner Unbilligkeit eben nur einen Teil der Bürgerschaft bedrückte!
IV,12,24 Sie machen nun den Einwurf, es müsse doch irgend ein Kennzeichen
geben, an dem sich der Priester von dem Volke unterscheide. Als ob der Herr nicht auch vorgesehen
hätte, mit welcherlei Zierat die Priester sich auszeichnen sollten! Damit beschuldigen sie doch den
Apostel, er habe den kirchlichen Stand in Verwirrung gebracht und die kirchliche Ehre verletzt,
indem er es wagte, bei dem Umriß, in dem er uns das vollkommene Bild eines Bischofs gezeichnet hat,
unter den anderen Gaben, die er bei einem Bischof fordert, auch den Ehestand zu nennen. Ich weiß,
in welcher Weise die Papisten diese Stellen (1. Tim. 3,2; Tit. 1,6) auslegen; nämlich so: man
dürfe einen Mann, der eine zweite Frau gehabt habe, nicht zum Bischof wählen. Ich gebe auch zu,
daß diese Auslegung nicht neu ist. Aber daß sie falsch ist, das ergibt sich bereits aus dem
Zusammenhang mit aller Klarheit. Denn Paulus gibt gleich darauf eine Vorschrift, von welcher Art die
Ehefrauen der Bischöfe und Diakonen sein sollten (1. Tim. 3,11). Paulus nennt unter den Tugenden
eines Bischofs auch die Ehe – die Papisten erklären sie beim kirchlichen Stande für ein
unerträgliches Laster! Und zudem geben sie sich, mit Gottes Gunst zu reden, mit solcher allgemeinen
Herabsetzung der Ehe nicht zufrieden, sondern nennen sie in ihren Rechtssatzungen auch eine "Unreinigkeit"
und "Befleckung" (So Siricius, Brief 1, an Himerius; Decretum Gratiani I, 82,3f.)! Nun möge
jeder bei sich selbst erwägen, aus was für einer Werkstatt das stammt! Christus würdigt den
Ehestand solcher Ehre, daß er nach seinem Willen ein Ebenbild seiner heiligen Verbindung mit der
Kirche ist. Was hätte wohl Herrlicheres gesagt werden können, um die Würde des Ehestandes zu
preisen? Mit welcher Frechheit will man also einen Stand "unrein" und "befleckt" nennen, in
dem ein Gleichnis der geistlichen Gnade Christi hervorleuchtet?
IV,12,25 Obwohl nun aber ihr (Ehe-) Verbot so deutlich zu Gottes Wort im
Widerspruch steht, finden sie doch in der Schrift etwas, um es zu verteidigen. Die levitischen
Priester, so sagen sie, mußten sich doch, sooft die Reihe des Dienstes an sie kam, ihrer Frauen
enthalten, um die heiligen Handlungen rein und unbefleckt zu verrichten. Da nun aber unsere heiligen
Handlungen viel edler sind und zudem alle Tage stattfinden, so wäre es sehr ungebührlich, wenn sie
von Verheirateten verrichtet würden. Als ob der Dienst am Evangelium die gleiche Stellung hätte
wie einst das levitische Priestertum! Denn die levitischen Priester waren gleichsam ein Abbild und
sollten Christus bedeuten, der als der Mittler zwischen Gott und den Menschen (1. Tim. 2,5) einst
durch seine vollkommene Reinheit den Vater mit uns versöhnen sollte. Da sie aber als sündige
Menschen das Bild seiner Heiligkeit nicht in jeder Hinsicht zur Darstellung bringen konnten, so
erhielten sie, um es doch wenigstens mit einigen Umrissen nachzubilden, das Gebot, sich über die
Sitten der Menschen hinaus zu reinigen, wenn sie in das Heiligtum eingingen; denn dann stellten sie
ja im eigentlichen Sinne ein Abbild Christi dar, weil sie, gleichsam als Friedensbringer, zur
Versöhnung des Volkes mit Gott in der "Hütte" erschienen, die ein Gleichnis des himmlischen
Richterstuhls war. Diese Stellung haben die Kirchenhirten heutzutage nicht, und deshalb ist es
vergebens, wenn man sie mit jenen Priestern vergleicht. Deshalb erklärt der Apostel, ohne eine
Ausnahme zu machen, die Ehe sei bei allen etwas "Ehrliches", der Hurer und Ehebrecher aber warte
Gottes Gericht (Hebr. 13,4). Und die Apostel haben es selbst durch ihr Beispiel erhärtet, daß der
Heiligkeit keiner auch noch so hervorragenden Amtsstellung durch die Ehe Eintrag geschieht. Denn,
wie Paulus bezeugt, haben sie nicht nur ihre Frauen behalten, sondern sie auch mit sich
umhergeführt (1. Kor. 9,5).
IV,12,26 Ferner war es auch eine verwunderliche Schamlosigkeit, daß sie
jene (äußerliche) Schicklichkeit eines keuschen Lebens als etwas Notwendiges ausgaben – zu
höchster Schmähung der Alten Kirche, die überreich war an herrlicher Erkenntnis Gottes, aber doch
noch mehr durch ihre Heiligkeit hervorragte. Denn wenn sie sich schon nicht um die Apostel kümmern
- sie pflegen sie ja zuweilen wacker zu verachten -, so möchte ich doch immerhin gern wissen, was
sie mit all den Vätern der Alten Kirche machen wollen, die ohne Zweifel beim Stande der Bischöfe
die Ehe nicht nur geduldet, sondern sogar gebilligt haben. Die haben dann wohl eine "schnöde
Entweihung" der heiligen Handlungen gefördert; denn die Geheimnisse des Herrn empfingen ja bei
ihnen nicht die "rechte" Verehrung! Man hat zwar auf der Synode von Nicäa darüber verhandelt,
den Zölibat vorzuschreiben – wie es ja nie an abergläubischen Leutchen fehlt, die sich stets etwas
Neues erdenken, um sich dadurch Bewunderung zu verschaffen. Aber was hat man in Nicäa beschlossen?
Nun, man ist der Meinung des Paphnutius beigetreten, der erklärte, Keuschheit sei der Umgang mit
der eigenen Frau (Historia tripartita II,14). Es blieb also der heilige Ehestand bei ihnen bestehen,
und das hat ihnen keine Schande gebracht, auch hat man nicht geglaubt, daß dadurch ihr Amt mit
irgendeinem Makel behaftet würde.
IV,12,27 Hernach sind Zeiten gekommen, in denen eine gar zu abergläubische
Bewunderung des Zölibats mehr und mehr zugenommen hat. Daher rührten auch die immer neu und ohne
Maß hergesungenen Lobsprüche über die Jungfräulichkeit, die soweit gingen, daß man allgemein
der Überzeugung war, es gäbe keine andere Tugend, die mit ihr zu vergleichen wäre. Und obwohl der
Ehestand nicht als Unreinheit verdammt wurde, so hat man seine Würde doch dermaßen herabgesetzt
und seine Heiligkeit derart verdunkelt, daß einer, der sich der Ehe nicht enthielt, nicht mit
genügend wackerem Willen zur Vollkommenheit zu streben schien. Daher kommendann auch jene
Kirchensatzungen, in denen man zunächst untersagte, daß die, die den Rang eines Priesters erreicht
hatten, die Ehe eingingen, und dann auch verordnete, daß in den Priesterstand nur Ehelose
aufgenommen wurden oder aber solche, die zusammen mit ihrer Frau auf den ehelichen Umgang
verzichteten. Das ist, wie ich gestehe, auch in alter Zeit mit großem Beifall aufgenommen worden,
weil es dem priesterlichen Stande Ehrfurcht zu verschaffen schien. Wenn mir aber unsere Widersacher
die alte Zeit vorhalten, so antworte ich erstens, daß sowohl unter den Aposteln als auch einige
Jahrhunderte nach ihnen die Freiheit bestanden hat, daß die Bischöfe verheiratet waren, von dieser
Freiheit, so antworte ich ferner, haben die Apostel selbst und auch andere Hirten von erstrangiger
Autorität, die später ihre Stelle einnahmen, ohne Schwierigkeiten Gebrauch gemacht. Das Beispiel
der älteren Kirche aber, so sage ich weiter, muß bei uns verdientermaßen mehr gelten, als daß
wir das, was damals mit Lob angenommen und im Gebrauch war, für uns als unerlaubt oder unschicklich
ansehen könnten. Zweitens gebe ich unseren Widersachern zur Antwort: jene Zeit, die aus maßloser
Hochschätzung der Jungfräulichkeit den Ehestand recht unbillig zu behandeln begann, hat den
Priestern das Gesetz des Zölibats doch nicht dergestalt auferlegt, als ob es etwas an und für sich
Notwendiges wäre, sondern sie hat es getan, weil sie die Ehelosen über die Verheirateten stellte.
Und schließlich sage ich: man hat den Zölibat nicht so gefordert, daß man solche, die nicht in
der Lage waren, Enthaltsamkeit zu üben, mit Zwang oder Gewalt dazu genötigt hätte. Denn obwohl
man die Hurerei mit den strengsten Gesetzen strafte, traf man für die, welche die Ehe eingingen,
nur die Bestimmung, sie sollten ihr Amt niederlegen.
IV,12,28 Sooft also die Verteidiger dieser neuen Tyrannei zum Schutz für
ihren Zölibat die alte Zeit als Vorwand zu benutzen suchen, muß man ihnen die Forderung
entgegenhalten, sie sollten bei ihren Priestern die alte Keuschheit wiederherstellen und die
Ehebrecher und Hurer entfernen, sollten es auch nicht geschehen lassen, daß die Leute, bei denen
sie einen ehrbaren und keuschen Gebrauch des ehelichen Verkehrs nicht zugeben wollen, sich nun
ungestraft in Zuchtlosigkeit jeder Art hineinstürzen. Man muß ihnen sagen, sie sollten jene in
Abgang geratene Zucht wiederherstellen, durch die aller Ausschweifung gesteuert wird, und sie
sollten die Kirche von jener so schmachvollen Schandbarkeit befreien, von der sie nun schon lange
entstellt ist. Haben sie das zugestanden, so muß man sie wiederum daran mahnen, nicht eine Sache
als notwendig auszugeben, die an und für sich frei ist und vom Nutzen für die Kirche abhängt. Ich
sage das nun aber nicht etwa, weil ich der Meinung wäre, man sollte überhaupt unter irgendwelcher
Bedingung jenen Kirchensatzungen Raum geben, die dem Kirchenstande das Joch des Zölibats auf den
Hals legen, sondern ich sage es, damit verständigere Leute erkennen, mit welcher Frechheit unsere
Feinde den heiligen Ehestand bei den Priestern in Verruf bringen, und das, indem sie den Namen der
Alten Kirche als Vorwand brauchen! Was nun die Kirchenväter betrifft, so haben auch diese, wenn sie
auf Grund ihres eigenen Urteils reden, die Ehrbarkeit des Ehestandes nicht in solcher Boshaftigkeit
herabgesetzt, mit Ausnahme des Hieronymus. Wir wollen uns mit einem einzigen Wort des Chrysostomus
begnügen; denn er war ja der vornehmste Bewunderer der Jungfräulichkeit, und es ist deshalb nicht
anzunehmen, daß er in Lobeserhebungen des Ehestandes verschwenderischer gewesen wäre als andere.
Er sagt nun: "Die erste Stufe der Keuschheit ist reine Jungfräulichkeit, die zweite eine treue
Ehe. Keusche eheliche Liebe ist also eine zweite Gestalt der Jungfräulichkeit" (Predigt über die
Auffindung des Kreuzes).
Von den Gelübden, durch deren unbesonnenes Aussprechen sich jedermann jämmerlich
in Stricke gelegt hat
IV,13,1 Es ist zwar eine beklagenswerte Sache, daß die Kirche, der doch um
den unschätzbaren Preis des Blutes Christi die Freiheit erkauft worden ist, dermaßen von grausamer
Tyrannei unterdrückt ist und unter einem gewaltigen Haufen von Menschensatzungen fast verschüttet
liegt. Jedoch zeigt unterdessen auch der persönliche Aberwitz jedes einzelnen, daß Gott dem Satan
und seinen Dienern nicht ohne gerechteste Ursache soweit die Zügel hat schießen lassen. Denn es
war noch nicht genug, daß man (allgemein) unter Außerachtlassung der Herrschaft Christi alle und
jegliche Lasten ertrug, die einem von falschen Lehrern auferlegt wurden, nein, es hat sich auch
jeder einzelne noch seine eigenen Lasten obendrein verschafft und sich so, indem er sich selber eine
Grube aushob, nur noch tiefer sinken lassen. Das ist geschehen, indem man sich um die Wette Gelübde
ausdenkt, so daß von diesen her zu den alle gemeinsam umschlingenden Fesseln auch noch eine
größere und härtere Verpflichtung tritt. Da wir nun dargelegt haben, daß durch die Vermessenheit
derer, die in der Kirche unter dem Namen von "Hirten" die Herrschaft ausgeübt haben, die
Verehrung Gottes verdorben worden ist, indem sie die armen Seelen mit ihren unbilligen Gesetzen in
Stricke gelegt haben, wird es nicht unangebracht sein, hier einen ähnlich gearteten Mißstand
anzufügen, damit es offenbar wird, daß die Welt in der Bosheit ihres Wesens mit allen ihr zur
Verfügung stehenden Widerständen allezeit die Hilfsmittel von sich gestoßen hat, mit denen sie
hätte zu Gott geführt werden sollen. Damit es nun deutlicher zutage tritt, daß sich aus den
Gelübden ein sehr schlimmer Schaden ergeben hat, muß der Leser die bereits oben aufgestellten
Grundsätze festhalten. Wir haben nämlich erstens dargelegt, daß alles, was man für eine fromme
und heilige Gestaltung des Lebens (an Anweisungen) verlangen mag, im Gesetz zusammengefaßt ist.
Zweitens haben wir gelehrt, daß der Herr, um uns desto besser davon abzuhalten, uns neue "Werke"
zu ersinnen, alles Lob der Gerechtigkeit in dem schlichten Gehorsam gegen seinen Willen beschlossen
hat. Ist das aber wahr, so ist damit unmittelbar das Urteil gegeben, daß aller ersonnene
Gottesdienst, den wir uns selbst zusammendichten, um uns bei Gott ein Verdienst zu erwerben, ihm
durchaus nicht wohlgefällig ist, so sehr wir auch unsere Lust daran haben mögen. Und fürwahr, der
Herr verwirft diesen "Gottesdienst" nicht nur klar und deutlich an vielen Stellen, sondern er
ist ihm ernstlich ein Greuel. Hieraus ergibt sich nun mit Bezug auf die Gelübde, die außerhalb des
ausdrücklichen Wortes Gottes geschehen, die Frage, welche Stellung ihnen beizumessen ist, ob ein
Christenmensch sie rechtmäßig leisten kann und wie weit er an sie gebunden ist. Denn was unter den
Menschen ein "Versprechen" heißt, das nennt man im Blick auf Gott ein Gelübde. Menschen
versprechen wir nun das, was ihnen nach unserem Dafürhalten angenehm sein wird oder was wir ihnen
pflichtmäßig zu leisten schuldig sind. Es gehört sich also, daß wir bei den Gelübden eine noch
viel größere Aufmerksamkeit walten lassen, weil sie sich ja an Gott selber richten, mit dem wir
doch in höchstem Ernste zu verkehren haben. Hier hat sich nun zu allen Zeiten der Aberglaube auf
wunderliche Weise breitgemacht, so daß die Menschen ohne Urteil und ohne Unterschied alles, was
ihnen in den Sinn oder auch in den Mund kam, sogleich Gott gelobten. Daher kommen jene albernen
Gelübde, ja, jene ungeheuerlichen Widersinnigkeiten bei den Heiden, mit denen sie auf gar zu freche
Weise mit ihren Göttern Spott getrieben haben. Undwollte Gott, daß nicht auch die Christen diese
Vermessenheit der Heiden nachgeahmt hätten! Das gehörte sich zwar durchaus nicht, aber wir sehen
doch, daß mehrere Jahrhunderte hindurch nichts weiter verbreitet war als diese Schelmerei, daß das
Volk in allgemeiner Verachtung des Gesetzes voll und ganz in wahnwitzigem Eifer entbrannt war, alles
zu geloben, was ihm im Traum Wohlgefallen hatte. Ich will nicht häßlich übertreiben, will auch
nicht im einzelnen aufzählen, wie schwer und auf wie vielfältige Weise man hier gesündigt hat,
sondern ich habe es nur richtig gefunden, dies im Vorbeigehen auszusprechen, damit es deutlicher
zutage tritt, daß wir keineswegs eine Untersuchung über eine überflüssige Sache anstellen, wenn
wir uns jetzt die Gelübde vornehmen.
IV,13,2 Wenn wir nun bei unserem Urteil darüber, welche Gelübde
rechtmäßig und welche verkehrt sind, nicht in die Irre geraten wollen, so müssen wir drei Fragen
erwägen. (1.) Wer ist der, dem wir solch Gelübde leisten? (2.) Wer sind wir, die wir ein Gelübde
tun? (3.) In welcher Gesinnung sprechen wir ein Gelübde aus? Die erste Frage will uns darauf
hinweisen, daß wir es mit Gott zu tun haben, der solches Wohlgefallen an unserem Gehorsam hat, daß
er alle "selbsterwählte Geistlichkeit", so köstlich und glanzvoll sie auch in den Augen der
Menschen sein mag, für verflucht erklärt (Kol. 2,23). Wenn aller eigenwillige Gottesdienst, den
wir uns selbst ohne Gottes Gebot ausdenken, vor ihm ein Greuel ist, so ergibt sich daraus, daß ihm
kein anderer Gottesdienst wohlgefällig sein kann als der, den sein Wort gutheißt. Deshalb wollen
wir uns nicht soviel willkürliche Freiheit herausnehmen, daß wir es wagen, Gott etwas zu geloben,
das kein Zeugnis darüber besitzt, wie es von ihm beurteilt wird. Denn wenn das Wort des Paulus: "Was
... nicht aus dem Glauben geht, das ist Sünde" (Röm. 14,23), sich auf alle und jegliche Werke
erstreckt, so hat es jedenfalls in besonderer Weise seine Bedeutung, wo man seine Gedanken geraden
Weges auf Gott selber richtet. Ja, wenn wir auch bei den geringsten Dingen – Paulus redet ja an
jener Stelle von der Unterscheidung der Speisen – zu Fall kommen und in die Irre geraten, wo uns die
Gewißheit des Glaubens nicht voranleuchtet, wieviel Bescheidenheit müssen wir dann erst walten
lassen, wo wir an eine Sache von allerhöchster Wichtigkeit herantreten? Denn es gebührt sich doch,
daß uns nichts ernster am Herzen liegt als die Pflichten der Religion. Wir müssen also bei unseren
Gelübden in erster Linie behutsam darauf achten, daß wir uns niemals daran geben, etwas zu
geloben, ohne daß unser Gewissen zunächst sicher davon überzeugt ist, daß es keinen unbesonnenen
Schritt tut. vor der Gefahr der Unbesonnenheit wird es aber dann sicher sein, wenn es Gott den sein
läßt, der ihm vorangeht und ihm gleichsam aus seinem Wort heraus eingibt, was gut oder was unnütz
ist zu tun.
IV,13,3 Bei dem zweiten Punkt, den wir nach unseren obigen Ausführungen hier
zu erwägen haben, geht es darum, daß wir (1.) unsere Kräfte messen, (2.) unseren Beruf im Auge
behalten und (3.) das Gnadengeschenk der Freiheit, das uns Gott gewährt hat, nicht beiseite lassen.
Denn wer etwas gelobt, das nicht in seinem Vermögen steht oder das seinem Beruf widerspricht, der
ist vorwitzig, und wer Gottes Freundlichkeit verachtet, die ihn zum Herrn über alle Dinge einsetzt,
der ist undankbar. Wenn ich so rede, so meine ich damit nicht, es wäre irgend etwas dergestalt in
unsere Hand gelegt, daß wir es, gestützt auf das Vertrauen zu unserer eigenen Kraft, Gott zu
geloben vermöchten. Denn es war in höchstem Maße wahrheitsgemäß, wenn man auf dem Konzil zu
Orange (529) den Beschluß faßte, wir könnten Gott nichts rechtmäßig geloben, als was wir aus
seiner Hand empfangen hätten, weil ja alles, was wir ihm darbrächten, seine reine Gabe sei (Kap.
11). Aber da uns das eine aus Gottes Freundlich-keit gegeben, das andere aus seiner Billigkeit
verweigert ist, so soll jeder nach der Weisung des Paulus das Maß der ihm gewährten Gnade
berücksichtigen (Röm. 12,3; 1. Kor. 12,11). (1.) Ich habe also hier nichts anderes im Sinn, als
daß man seine Gelübde dem Maß angleicht, das einem Gott durch sein Geschenk vorgezeichnet hat,
damit man nicht mehr wagt, als er zugestanden hat, und dabei ins Verderben rennt, indem man sich gar
zu viel anmaßt. Ich will es an einem Beispiel deutlich machen. Bei Lukas werden Meuchelmörder
erwähnt, die ein Gelübde taten, keine Speise zu sich zu nehmen, ehe sie den Paulus umgebracht
hätten (Apg. 23,12). Selbst wenn es sich hier nun nicht um einen frevelhaften Ratschlag gehandelt
hätte, so wäre doch der Vorwitz dieser Männer in keiner Weise zu ertragen, weil sie ja Leben und
Tod eines Menschen ihrer eigenen Gewalt unterstellten. Ebenso wurde auch Jephthah für seine Torheit
bestraft, als er in überstürztem Eifer ein unbedachtes Gelübde tat (Richt. 11,30f.). Bei dieser
Gruppe von Gelübden steht der Zölibat in wahnwitziger Vermessenheit an oberster Stelle. Denn die
Priester, Mönche und Nonnen vergessen ihre Schwachheit und trauen sich zu, sie seien in der Lage,
den Zölibat innezuhalten. Welches Offenbarungswort aber hat die denn gelehrt, sie sollten ihr
ganzes Leben in beständiger Keuschheit verbringen, wie sie ja solche Keuschheit bis zum Ende ihres
Lebens geloben? Sie vernehmen doch über den allgemeinen Zustand der Menschen Gottes Stimme, die da
spricht: "Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei" (Gen. 2, 18)! Sie erkennen es, und
wollte Gott, sie erführen es nicht auch, daß die Sünde, die in uns bleibt, nicht ohne sehr
scharfe Stacheln ist. Woher nehmen sie denn die Zuversicht, jenen allgemeinen Beruf (der uns in die
Ehe weist) für ihr ganzes Leben von sich zu werfen? Und das, wo doch die Gabe der Enthaltsamkeit
zumeist nur für bestimmte Zeit gewährt wird, je, wie es die Gelegenheit erfordert! Sie sollen
nicht erwarten, daß ihnen Gott in solcher Halsstarrigkeit als Helfer zur Seite stehen werde, nein,
sie sollen sich lieber an das Wort erinnern: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen"
(Deut. 6,16; Luthertext richtig: Einzahl). Das aber heißt Gott versuchen, wenn man sich gegen die
Natur stemmt, die er uns eingegeben hat, und wenn man seine gegenwärtigen Gaben verachtet, als
hätten sie mit uns nichts zu tun. Die Papisten aber tun nicht nur dies, sondern sie wagen es auch
noch, die Ehe eine Befleckung zu nennen, obwohl es Gott nicht im Widerspruch zu seiner Majestät
befunden hat, sie einzurichten, obwohl er sie bei allen für ehrbar erklärt hat (Hebr. 13,4),
obwohl Christus, unser Herr, sie mit seiner Gegenwart geheiligt und sich herbeigelassen hat, sie mit
seinem erstem Wunder zu ehren (Joh. 2,2.6-11). Und jene entehrende Bezeichnung für die Ehe brauchen
die Papisten nur, um mit wunderlichen Lobreden jedweden Zölibat zu erheben. Als ob sie nicht selbst
mit ihrem Lebenswandel einen deutlichen Beweis dafür erbrächten, daß Zölibat und
Jungfräulichkeit zwei verschiedene Dinge sind! Trotzdem nennen sie ihr Leben in höchster
Unverschämtheit "engelgleich". Damit tun sie den Engeln ganz sicher furchtbares Unrecht an,
indem sie Hurer, Ehebrecher und noch etwas viel Schlimmeres und Gemeineres mit ihnen vergleichen.
Hier bedarf es nun in der Tat durchaus keines Beweises, da sie durch die Sache selbst klar und
deutlich überführt werden. Denn wir sehen es offen vor uns, mit was für furchtbaren Strafen der
Herr allerorten solche Anmaßung und solche aus gar zu großem Selbstvertrauen stammende Verachtung
seiner Gaben ahndet. Dabei will ich aus Schamgefühl die verborgeneren Dinge noch mit Schonung
übergehen; denn schon das, was man von ihnen weiß, geht zu weit. (2.) Unzweifelhaft dürfen wir
nichts geloben, was uns daran hindern könnte, unserem Beruf zu dienen. Das wäre z.B. der Fall,
wenn ein Hausvater das Gelübde täte, Weib und Kind zu verlassen und andere Lasten auf sich zu
nehmen, oder wenn einer, der geschickt ist, ein obrigkeitliches Amt zu führen, und auch dazu
erwählt wird, das Gelübde tun wollte, amtlos zu bleiben.(3.) Wir sprachen dann auch davon, daß
wir unsere Freiheit nicht verachten sollen. Was das bedeutet, ist einigermaßen schwierig, wenn es
nicht näher entfaltet wird. Hierüber möge man also folgende kurze Ausführungen vernehmen. Da uns
Gott zu Herren über alle Dinge gesetzt und sie uns dergestalt Untertan gemacht hat, daß wir sie
alle zu unserem Vorteil gebrauchen sollen, so haben wir keinen Anlaß zu der Erwartung, es werde ein
Gott wohlgefälliger Dienst sein, wenn wir uns zu Knechten der äußeren Dinge machen, die uns doch
als Hilfen dienen sollen. Das sage ich deshalb, weil manche Leute das Lob der Demut daraus zu
erlangen trachten, daß sie sich in die strenge Innehaltung vieler Satzungen verstricken, von denen
wir doch nach Gottes nicht grundlosem Willen frei und ledig sein sollen. Wollen wir also dieser
Gefahr entgehen, so müssen wir stets bedenken, daß wir von der Ordnung, die der Herr in der
christlichen Kirche eingerichtet hat, in keiner Weise abweichen dürfen.
IV,13,4 Jetzt komme ich auf das zu sprechen, was ich oben an dritter Stelle
nannte: es kommt sehr darauf an, in welcher Gesinnung man ein Gelübde tut, wenn anders man
wünscht, daß es Gott wohlgefällig sei. Denn der Herr sieht das Herz an und nicht die äußere
Erscheinung, und daher kommt es, daß ihm die gleiche Sache bei verändertem Vorsatz unseres Herzens
bald gefällt und angenehm ist, bald auch heftig mißfällt. Wenn man ein Gelübde leistet, keinen
Wein zu trinken, und dabei so tut, als ob darin irgendwelche Heiligkeit läge, so ist man ein
abergläubischer Mensch; hat man aber bei solchem Gelübde einen anderen, nicht verkehrten Zweck im
Auge, so kann es niemand mißbilligen. Es gibt nun, soweit ich zu beurteilen vermag, vier Zwecke,
auf die unsere Gelübde rechtmäßig gerichtet sein können; zwei von ihnen beziehe ich zu besserer
Unterweisung auf die Vergangenheit, die beiden übrigen auf die Zukunft. Auf die Vergangenheit
beziehen sich erstens die Gelübde, mit denen wir unsere Dankbarkeit gegen Gott für empfangene
Wohltaten bezeugen, zweitens solche, mit denen wir um begangener Missetaten willen an uns selber
Strafe üben, um Gottes Zorn abzubitten. Die Gelübde der ersten Art wollen wir, wenn man will, als
Übungen der Dankbarkeit (Dankgelübde) bezeichnen, die der zweiten Art als Übungen der Buße
(Bußgelübde). Ein Beispiel für die erste Gruppe haben wir in dem Zehnten, den Jakob gelobte, wenn
der Herr ihn wohlbehalten aus der Verbannung in die Heimat zurückführen würde (Gen. 28,20.22).
Ein weiteres Beispiel bieten uns die Friedensopfer des Alten Bundes, wie sie fromme Könige und
Feldherrn, die im Begriff standen, einen gerechten Krieg zu führen, darzubringen gelobten, wenn sie
den Sieg erlangen würden, oder jedenfalls, wie sie sie unter dem Druck einer größeren Not
gelobten, wenn der Herr sie frei machen würde. In diesem Sinne müssen wir alle Stellen in den
Psalmen verstehen, die von Gelübden handeln (Ps. 22,26; 56,13; 116,14.18). Derartige Gelübde
können auch heutzutage bei uns in Übung stehen, sooft uns der Herr aus einer Niederlage oder aus
einer schweren Krankheit oder aus irgendeiner anderen Gefahr errettet hat. Denn dann steht es nicht
im Widerspruch zu der Pflicht eines frommen Menschen, Gott ein Gelübdeopfer als feierliches Zeichen
seiner Dankbarkeit zu weihen, um seiner Freundlichkeit gegenüber nicht undankbar zu erscheinen. Um
zu zeigen, von welcher Art die Gelübde der zweiten Gruppe sind, wird ein einziges bekanntes
Beispiel genügen. Wenn jemand durch seine Schlemmerei in eine Schandtat geraten ist, so besteht
kein Hindernis dagegen, daß er sich zur Strafe für seine Unmäßigkeit eine Zeitlang alle
Leckerbissen versagen könnte und das dann auch unter Anwendung eines Gelübdes täte, um sich
dadurch mit einem festeren Bande zu verpflichten. Damit stelle ich aber für solche, die sich in
solcher Weise vergangen haben, kein bleibendes Gesetz auf, sondern ich zeige nur, was diejenigen tun
dürfen, die zu der Überzeugung gekommen sind, daß ihnen ein derartiges Gelübde vonNutzen sei.
Ich sehe also ein solches Gelübde als erlaubt an, jedoch so, daß ich es unterdessen frei bleiben
lasse.
IV,13,5 Die Gelübde, die sich auf die Zukunft beziehen, haben teilweise
(1.), wie gesagt, den Zweck, daß wir vorsichtiger werden, teilweise (2.) sollen sie uns auch
gleichsam als Ansporn dienen, um uns zu unserer Pflicht aufzumuntern. (1.) Wenn jemand sieht, daß
er zu einem bestimmten Laster dermaßen geneigt ist, daß er sich bei einer sonst nicht schlechten
Sache nicht im Zaum zu halten vermag, sondern gleich in etwas Böses gerät, so tut er nichts
Widersinniges, wenn er sich durch ein Gelübde den Gebrauch dieser Sache für eine Zeitlang
entzieht. Wenn also zum Beispiel jemand erkennt, daß ihm dieser oder jener leibliche Zierat
gefährlich ist, und wenn er dann doch, von der Gier verlockt, heftig danach verlangt, was könnte
der Besseres tun, als daß er sich einen Zaum anlegt, das heißt: sich den Zwang zum Verzicht
auferlegt und sich dadurch von allen Bedenken befreit? (2.) Oder ebenso: wenn jemand vergeßlich
oder träge ist zur Erfüllung der notwendigen Pflichten der Frömmigkeit, weshalb soll der nicht
ein Gelübde tun und dadurch sein Gedächtnis auffrischen und seine Faulheit austreiben? In diesen
beiden Arten von Gelübden, das gebe ich zu, kommt eine Art Kindererziehung zum Vorschein; aber eben
deshalb, weil sie Stützen für die Schwachheit sind, werden sie von Unerfahrenen und Unvollkommenen
nicht ohne Nutzen angewandt. Wir werden also sagen, daß Gelübde, die einem unter diesen Zwecken
dienen, vor allem in äußerlichen Dingen, rechtmäßig sind, wenn sie nur auf Gottes Billigung
gestützt sind, zu unserem Beruf passen und nach dem Vermögen begrenzt sind, das uns die von Gott
uns dargereichte Gnade verleiht.
IV,13,6 Nun ist es auch nicht schwer, aus dem Obigen zu entnehmen, was wir
allgemein von den Gelübden zu halten haben. Ein Gelübde ist allen Gläubigen gemeinsam: das ist
bei der Taufe gesprochen, und es wird von uns bekräftigt und gleichsam unverbrüchlich verbürgt,
wenn wir den Katechismus lernen (daraufhin unseren Glauben bekennen) und das Abendmahl empfangen.
Denn die Sakramente sind gleichsam Verschreibungen, in denen der Herr uns seine Barmherzigkeit und
daraus das ewige Leben schenkt und wir ihm wiederum Gehorsam versprechen. Die Formel oder jedenfalls
der Hauptinhalt dieses Gelübdes sieht so aus: wir schwören dem Satan ab und begeben uns Gott zu
Knechten, um seinen heiligen Geboten zu gehorchen, nicht aber den bösen Gelüsten unseres Fleisches
zu folgen. Da dieses Gelübde ein Zeugnis von der Schrift her besitzt, ja, von allen Kindern Gottes
gefordert wird, so darf man nicht daran zweifeln, daß es heilig und heilsam ist. Dem steht auch
nicht entgegen, daß niemand in diesem Leben den vollkommenen Gehorsam gegen das Gesetz leistet, den
Gott von uns verlangt. Denn dieses Gelübde ist in den Gnadenbund mit eingeschlossen, in dem auch
die Vergebung der Sünden und die Heiligung des Geistes enthalten ist, und deshalb ist das
versprechen, das wir dabei ablegen, mit dem Flehen um Vergebung und dem Verlangen nach Hilfe
verbunden. Bei der Beurteilung der besonderen Gelübde ist es erforderlich, die drei oben genannten
Regeln im Gedächtnis zu behalten; von daher wird man mit Sicherheit entscheiden können, von
welcher Art jedes einzelne Gelübde ist. Trotzdem aber soll man nicht meinen, ich wollte die
Gelübde, von denen ich behaupte, daß sie heilig sind, dergestalt anempfehlen, daß ich den Wunsch
hätte, sie geschähen alle Tage. Denn obwohl ich es nicht wage, eine Vorschrift über Zahl oder
Zeit der Gelübde zu geben, so wird man doch, wenn man meinem Rate folgt, solche Gelübde nur in
mäßiger Zurückhaltung und zeitlicher Begrenzung leisten. Denn wenn man immer wieder dazu
übergeht, zahlreiche Gelübde zu tun, dann wird ebendurch solche fortgesetzte Wiederholung die
ganze Religion gemein werden, und man wird sehr leicht in Aberglauben verfallen. Bindet man sich
durch ein fortwährendes Gelübde, so wird man es entweder (bloß) mit viel Beschwernis und Ärger
ableisten oder auch, durch die lange Dauer ermüdet, von Zeit zu Zeit zu durchbrechen wagen.
IV,13,7 Nun ist es nicht verborgen, mit was für einem großen Aberglauben
sich die Welt in diesem Stück manche hundert Jahre lang herumgeschlagen hat. Der eine tat das
Gelübde, keinen Wein mehr zu trinken, als ob der Verzicht auf den Wein einen Gottesdienst
darstellte, der Gott an und für sich wohlgefällig wäre. Der andere verpflichtete sich für
bestimmte Tage zum Fasten oder zum Verzicht auf Fleisch, weil er sich in eitlem Wahn vormachte, in
diesen Dingen läge mehr als in anderen ein einzigartiger Gottesdienst. Manche Gelübde tat man
auch, die noch viel kindischer waren – wenn es auch nicht Kinder waren, die sie leisteten! Man hielt
es nämlich für große Weisheit, auf ein Gelübde hin Wallfahrten zu heiligen Stätten zu
unternehmen und zuweilen auch die Reise zu Fuß oder mit halbnacktem Leibe zurückzulegen, um sich
mit der Ermüdung desto mehr Verdienst zu erwerben. Wenn wir solche und ähnliche Gelübde, um
welche die Welt eine Zeitlang mit unglaublichem Eifer entbrannt war, nach den oben aufgestellten
Regeln prüfen, so werden sie nicht nur sinnlos und läppisch befunden werden, sondern auch erfüllt
von offenkundiger Gottlosigkeit. Denn wie das Fleisch auch urteilen mag, so ist vor Gott doch nichts
mehr ein Greuel als selbstersonnener Gottesdienst. Dazu kommen dann noch jene verderblichen und
verfluchten Wahnmeinungen, daß die Heuchler, sobald sie solch Possenzeug fertiggebracht haben, nun
des Glaubens sind, sie hätten sich eine ungewöhnliche Gerechtigkeit erworben, den wesentlichen
Bestand der Frömmigkeit in dem Einhalten solch äußerlicher Dinge erblicken und alle anderen
Menschen verachten, die sich anscheinend um dergleichen Sachen weniger Mühe geben.
IV,13,8 Die einzelnen Formen (solcher falschen Gelübde) aufzuzählen wäre
ohne Belang. Da nun aber die Klostergelübde eine höhere Wertschätzung genießen, weil es den
Anschein hat, sie wären durch das öffentliche Urteil der Kirche gebilligt, so muß ich auf sie
doch noch kurz eingehen. Zunächst: damit niemand das Mönchtum, wie es heute ist, unter dem Vorwand
alter Herkunft verteidigt, so muß ich darauf hinweisen, daß früher in den Klöstern eine
wesentlich andere Lebensweise geherrscht hat. In die Klöster begaben sich solche Leute, die sich zu
höchster Strenge und Geduld üben wollten. Denn eben solche Zucht, wie sie nach unseren Berichten
bei den Lakedämoniern unter den Gesetzen des Lykurg bestanden haben soll, herrschte auch unter den
Mönchen, ja, eine noch viel strengere. Sie schliefen auf dem Erdboden, tranken nur Wasser, aßen
Brot, Kräuter und Wurzeln, ihre vornehmsten Leckerbissen bestanden in Öl und Erbsen. Auf alle
köstlicheren Lebensmittel und auf alle feinere Wartung des Leibes verzichteten sie. Diese
Schilderung könnte übertrieben erscheinen, wenn es nicht von Zeugen so berichtet würde, die es
gesehen und erfahren haben, nämlich von Gregor von Nazianz, Basilius und Chrysostomus. Was ich nun
eben berichtete, das waren aber nur die Anfängerübungen, mit denen sich die Mönche zu wichtigeren
Aufgaben vorbereiteten. Denn die Mönchsgenossenschaften waren damals gleichsam Pflanzstätten des
kirchlichen Standes (d.h. des "Klerus"). Ein hinreichend deutlicher Beweis dafür sind
einerseits die oben genannten Männer (Gregor, Basilius, Chrysostomus) – denn sie sind allesamt in
Klöstern erzogen und dann von da aus in das Bischofsamt berufen worden -, andererseits aber auch
zahlreiche andere bedeutende und hervorragende Männer ihrer Zeit. Und Augustin bezeugt, daß es
auch zu seiner Zeit üblich gewesen ist, daß die Klöster der Kirche ihre Kleriker lieferten; denn
er redet die Mönche von der Insel Capraria folgendermaßen an: "Euch aber, ihr Brüder, ermahnen
wir in dem Herrn, daß ihreurem Vorsatz treu bleibet und bis ans Ende dabei beharret; und wenn einst
eure Mutter, die Kirche, eures Dienstes begehren wird, so übernehmt ihn nicht in herrschsüchtiger
Überheblichkeit und verschmäht ihn auch nicht in schmeichlerischer Bequemlichkeit, sondern leistet
Gott mit sanftmütigem Herzen Gehorsam. Stellet auch nicht eure Muße über die Erfordernisse der
Kirche; denn wenn es keine guten Leute gegeben hätte, die ihr in ihren Geburtswehen hätten dienend
beistehen wollen, so hättet ihr auch keine Möglichkeit gehabt, zur Welt zu kommen" (Brief 48; an
Eudoxius). Er spricht hier nämlich von dem Amt, durch das die Gläubigen geistlich wiedergeboren
werden. Ebenso schreibt er an Aurelius: "Wenn Leute das Kloster verlassen und man dann solche zum
Kriegsdienst des Klerikeramtes erwählt, so bietet man ihnen selbst Gelegenheit zum Fall und läßt
dem Stande der Kleriker empörendstes Unrecht widerfahren. Denn wir pflegen doch aus dem Kreise
derer, die im Kloster bleiben, nur die besterprobten und tüchtigsten in den Klerus aufzunehmen.
Sonst müßte es schon zugehen, wie der Volksmund sagt: ‘Ein schlechter Pfeifer ist ein guter
Musikant in der Kapelle’, und man müßte von uns spottend sagen: ‘Ein schlechter Mönch ist ein
guter Kleriker’. Es wäre doch gar zu beklagenswert, wenn wir die Mönche zu einer so
verderbenbringenden Hoffart wollten emporsteigen lassen und die Kleriker einer so harten Schmähung
für würdig erachteten. Denn manchmal gibt auch ein guter Mönch kaum einen guten Kleriker,
nämlich wenn er zwar genügend Enthaltsamkeit besitzt, aber es doch an der notwendigen
Gelehrsamkeit fehlen läßt" (Brief 60; an Aurelius). Aus diesen Stellen ergibt sich deutlich,
daß sich fromme Männer unter der klösterlichen Zucht auf die Leitung der Kirche vorzubereiten
pflegten, um dann mit besserer Eignung und besserer Bildung solch wichtiges Amt zu übernehmen.
Nicht, daß alle zu diesem Ziel gelangt wären oder auch nur hätten gelangen wollen – denn die
Mönche waren zum größeren Teil wissenschaftlich ungebildete Leute -, sondern es wurden diejenigen
ausgewählt, die dazu geeignet waren.
IV,13,9 Es gibt aber vor allem zwei Stellen, an denen Augustin die Gestalt
des alten Klosterlebens schildert. Das geschieht einmal in seinem Buche "Von den Sitten der
katholischen Kirche", in welchem er den Schmähungen der Manichäer die Heiligkeit des
Mönchsberufs entgegenstellt, und dann zum anderen in einem weiteren Buch, dem er den Titel "Von
dem Werk der Mönche" gegeben hat und in dem er gegen einige entartete Mönche, die diese
Einrichtung zu verderben begannen, scharf losfährt. Ich will also hier den wesentlichen Inhalt der
von ihm uns gebotenen Berichte wiedergeben, und zwar so, daß ich dabei auch, soweit es angeht,
seine eigenen Worte gebrauche. Er sagt: "Unter Verachtung der Lockungen dieser Welt schließen
sich die Mönche zu einem gemeinsamen Leben von höchster Keuschheit und Heiligkeit zusammen, sie
führen ihr Dasein nun miteinander, leben in Gebeten, Lesungen und Lehrgesprächen, sind von keiner
Hoffart aufgeblasen, von keiner Halsstarrigkeit aufrührerisch und von keinem Neid scheelsüchtig.
Keiner hat irgendwelchen eigenen Besitz, keiner fällt irgend jemand zur Last. Mit den Händen
erarbeiten sie sich, was dazu dient, ihren Leib zu erhalten, und was ihren Geist doch nicht von Gott
fernhalten kann. Ihr Werk stellen sie unter die Leitung von solchen, die sie ‘Dekane’ nennen.
Diese ‘Dekane’ aber ordnen alles mit großer Sorgfalt an und geben wiederum einem Manne
Rechenschaft, den sie als ‘Vater’ bezeichnen. Diese ‘Väter’ sind nun nicht nur von
höchster Heiligkeit in ihren Sitten, sondern auch von hervorragender Kenntnis der göttlichen Lehre
und ausgezeichnet in allen Dingen; sie sorgen ohne jeglichen Hochmut für die anderen, die sie ‘Söhne’
nennen, und zwar durch ihre große Autorität im Gebieten und durch deren große Willigkeit im
Gehorchen. Gegen Ende des Tages – und das ist eine Zeit, wo sie noch nichts zu sich genommen haben!
- kommen sie nun zusammen, jeder aus seiner Behausung, um den Worten jener ‘Väter’ zu lauschen,
und es versammeln sich bei jedem ‘Vater’ dreitausend oder wenigstens tausend Menschen – Augustin
redet vornehmlich von Ägypten und vom Osten. Danach stärken sie dann den Leib, soweit es für
Wohlergehen und Gesundheit erforder-lich ist, und dabei hält jeder einzelne seine Begehrlichkeit im
Zaum, um sich auch bei den spärlichen und äußerst schlichten Nahrungsmitteln nicht gehen zu
lassen, die zur Verfügung stehen. So verzichten sie nicht nur auf Fleisch und Wein, um ausreichend
in der Lage zu sein, ihre Begierden zu bändigen, sondern auch auf solche Dinge, die um so mehr dazu
dienen, den Magen und den Gaumen zu heftiger Begehrlichkeit zu reizen, je mehr sie manchem als rein
erscheinen. Denn unter diesem Namen ("rein") pflegt man ja die schmählichste Begierde nach
auserlesenen Speisen lächerlich und schändlich zu verteidigen, weil sie doch mit dem Fleischgenuß
nichts zu tun habe. Was über den notwendigen Lebensunterhalt hinaus vorhanden ist – und es bleibt
bei ihrer Hände Arbeit und bei ihrer Einschränkung im Essen sehr viel übrig -, das wird mit einer
Sorgfalt an die Bedürftigen ausgeteilt, die noch größer ist als jene, mit der es die, welche
diese Verteilung vornehmen, erworben haben. Denn es kommt ihnen nicht entscheidend darauf an, daß
sie an solchen Dingen Überfluß haben, sondern sie mühen sich in jeder Weise darum, daß das,
woran sie Überfluß haben, nicht bei ihnen verbleibt" (Von den Sitten der katholischen Kirche
31,67). Dann erwähnt er die Strenge der Mönche, für die er selbst in Mailand und an anderen Orten
Beispiele zu sehen bekommen hatte, und sagt: "Unterdessen wird niemand zu harten Übungen
gedrängt, die er nicht zu ertragen vermag, keinem wird etwas auferlegt, dessen er sich weigert, es
wird auch keiner von den anderen verdammt, weil er bekennt, nicht in der Lage zu sein, um es ihnen
gleichzutun; denn sie bedenken, wie sehr uns die Liebe anempfohlen wird, sie behalten im
Gedächtnis, daß dem Reinen alles rein ist ... (Tit. 1,15). All ihren Fleiß verwenden sie wachsam
darauf, nicht etwa bestimmte Arten von Speisen zu verwerfen, als ob sie befleckt wären, sondern die
Gier zu bändigen und die brüderliche Liebe zu erhalten. Sie gedenken an das Wort: ‘Die Speise
dem Bauche und der Bauch der Speise ...’ (1. Kor. 6,13). Jedoch üben viele Starke die
Enthaltsamkeit um der Schwachen willen. Viele haben keine Ursache, dergleichen zu tun; (sie tun es
aber) weil es ihnen gefällt, sich mit recht einfacher und ganz billiger Speise zu erhalten. So
kommt es, daß die gleichen Leute, die bei voller Gesundheit Enthaltsamkeit üben, die betreffenden
Speisen im Falle der Krankheit ohne Bedenken annehmen, wenn es ihr Gesundheitszustand erfordert.
Viele trinken keinen Wein; aber sie meinen nicht, sich damit zu beflecken; denn sie sorgen in
größter Freundlichkeit dafür, daß den Schwachen und denen, die ohne ihn die Gesundheit ihres
Leibes nicht zu erhalten vermögen, Wein gereicht wird; auch ermahnen sie manche Leute, die den Wein
töricht ablehnen, in brüderlicher Weise, sie sollten nicht durch eitlen Aberglauben eher
schwächer als heiliger werden. So wenden sie allen Fleiß daran, Frömmigkeit zu üben, und dabei
wissen sie, daß sich die Übung des Leibes nur auf kurze Zeit erstreckt. Vor allem aber wird die
Liebe gewahrt; der Liebe wird der Lebensunterhalt, der Liebe das Reden, der Liebe die Kleidung und
der Liebe der Gesichtsausdruck dienstbar gemacht. Zu einer Liebe kommt man zusammen, und zu einer
Liebe verschwört man sich; sie zu verletzen, das gilt als Frevel, wie wenn man Gott selber
schändete, wer sich ihr widersetzt, der wird ausgestoßen und gemieden, wer sie bricht, der darf
nicht einen einzigen Tag mehr bei ihnen bleiben" (Ebenda 33,70-73). Mit diesen Worten scheint mir
jener heilige Mann wie in einem Bilde den einstigen Zustand des Klosterlebens dargestellt zu haben,
und deshalb hat es mich nicht verdrossen, sie hier trotz ihrer erheblichen Ausführlichkeit
einzufügen; denn ich habe bemerkt, daß ich trotz meines Strebens nach kurzer Zusammenfassung noch
mehr ins Weite geraten würde, wenn ich diese Mitteilungen aus verschiedenen Schriftstellern
zusammentragen wollte.
IV,13,10 Ich habe nun hier die Absicht, nicht etwa diesen ganzen Fragenkreis
durchzusprechen, sondern nur im Vorbeigehen aufzuzeigen, was für Mönche die Alte Kirche besessen
hat, und auch, wie damals der Mönchsberuf ausgesehen hat, damit verständige Leser auf Grund des
Vergleichs ein Urteil darüber gewinnen können, wie frech die Leute handeln, die zur Stützung des
gegenwärtigen Mönchtums auf die alte Zeit verweisen. Bei der Schilderung, die uns Augustin von dem
heiligen und rechtmäßigen Mönchtum entwirft, hat er den Willen, daß alles scharfe Fordern
solcher Dinge fernbleibt, die uns von dem Worte des Herrn frei überlassen werden. Nun gibt es aber
nichts, was heutzutage mit größerer Strenge verlangt würde. Denn man hält es für eine
unsühnbare Freveltat, wenn jemand in der Farbe oder dem Aussehen des Gewandes, in der Art der
Speisen oder in anderen wertlosen und unbedeutenden Zeremonien auch nur im mindesten von der
Vorschrift abweicht. Augustin betont mit Nachdruck, daß die Mönche nicht das Recht haben, von
anderer Leute Gut ein müßiges Leben zu führen. Er erklärt, daß ein solcher Fall zu seiner Zeit
in keinem wohlgeordneten Kloster vorgekommen sei (Von dem Werk der Mönche 23,27). Unsere heutigen
Mönche dagegen sehen das wichtigste Stück ihrer Heiligkeit im Müßiggang! Denn wenn man ihnen den
Müßiggang wegnimmt – wo soll dann jenes "beschauliche Leben" (contemplativa vita) bleiben,
vermöge dessen sie, wie sie sich rühmen, alle anderen Menschen übertreffen und näher an die
Engel herankommen? Und schließlich: Augustin fordert ein Mönchtum, das nichts anderes sein soll
als eine Übung und eine Stütze für die (Erfüllung der) Verpflichtungen der Frömmigkeit, die
allen Christenmenschen ans Herz gelegt werden. Er erklärt doch die Liebe für die höchste, ja,
geradezu für die einzige Regel des Mönchslebens, und wieso können wir nun da annehmen, er würde
eine Rotterei loben, in der sich einige wenige Menschen miteinander verbinden und sich dadurch von
dem gesamten Leibe der Kirche absondern? Nein, im Gegenteil: er will doch, daß die Mönche den
übrigen Christen mit ihrem Beispiel voranleuchten, um die Einheit der Kirche zu bewahren! In beiden
Stücken ist unser gegenwärtiges Mönchtum dermaßen anders geartet, daß man kaum etwas
Verschiedeneres, um nicht zu sagen: Widersprechenderes, finden wird. Denn unsere Mönche geben sich
nicht mit jener Frömmigkeit zufrieden, nach der Christi Jünger auf seinen Befehl hin in
beständigem Streben allein trachten sollen, und ersinnen sich ich weiß nicht was für eine neue,
um im Trachten nach ihr vollkommener zu sein als alle anderen.
IV,13,11 Wenn sie das bestreiten, so möchte ich gern von ihnen wissen,
warum sie denn allein ihren Stand für würdig erachten, als "vollkommen" bezeichnet zu werden,
und warum sie diesen Ehrentitel allen anderen Berufungen Gottes absprechen. Es ist mir auch jene
sophistische Antwort nicht unbekannt, man nenne das Mönchtum nicht darum so, weil es die
Vollkommenheit in sich beschlösse, sondern weil es von allen der beste Stand sei, um die
Vollkommenheit zu erlangen. Wenn sich die Mönche beim Volke rühmen wollen, wenn sie unkundige und
unwissende junge Menschlein in ihre Stricke ziehen, ihre Vorrechte verteidigen und ihre Würde zur
Unehre anderer Leute emporheben wollen, dann erklären sie rühmend, sie seien im Stande der
Vollkommenheit! Wenn man ihnen dann so nahe zusetzt, daß sie diese eitle Anmaßung nicht mehr
aufrechterhalten können, dann nehmen sie ihre Zuflucht zu dem Schutzgraben (d.h. zu der
Hilfsbehauptung), sie hätten allerdings die Vollkommenheit noch nicht erreicht, lebten aber in dem
Stande, in dem sie mehr als andere Leute nach ihr trachteten. Währenddessen aber bleibt im Volke
jene Bewunderung bestehen, als ob allein das Klosterleben engelgleich, vollkommen und von allen
Gebrechen gereinigt sei! Unter diesem Vorwand treiben sie den gewinnsüchtigsten Handel – und jene
Einschränkung (ihrer Ansprüche) bleibt unterdessen in einigen wenigen Büchern begraben! Wer
bemerkt nicht, daß dies ein unerträglicher Spott ist? Aber wir wollen mit ihnen so verfahren, als
ob sie ihrem Beruf nicht mehr zusprächen, als sie es dann tun, wenn sie ihn den Stand zur Erlangung
der Vollkommenheit nennen. Denn wenn sie ihm diesen Namen geben, so unterscheiden sie ihn doch damit
unzweifelhaft wie mit einem besonderen Kennzeichen von jeder anderen Art der Lebensführung. Und wer
will es dulden, daß diese große Ehre einer Einrichtung beigelegt wird, die nirgendwo auch nur mit
einer einzigen Silbe gutgeheißen ist, und daß man der nämlichen Ehre alle Berufungen Gottes
unwürdig erachtet, die doch mit seinem heiligen Munde nicht nur geboten, sondern auch mit den
herrlichsten Lobsprüchen ausgezeichnet sind? Und dann, das möchte ich doch fragen, was geschieht
doch Gott für ein schlimmes Unrecht, wenn man allen Arten der Lebensgestaltung, die von ihm
angeordnet und durch sein Zeugnis gepriesen sind, ich weiß nicht was für eine erdichtete vorzieht?
IV,13,12 Nun, sie mögen sagen, was ich eben vorgebracht habe, nämlich daß
sie sich mit der von Gott vorgeschriebenen Regel nicht zufrieden geben, das sei eine Lästerung.
Aber selbst wenn ich schweige, so klagen sie sich doch selber mehr als genug an. Denn sie lehren
doch offen, sie nähmen eine größere Last auf sich, als sie Christus den Seinen auferlegt habe,
weil sie nämlich gelobten, die "evangelischen Ratschläge" zu halten, nämlich daß wir unsere
Feinde lieben, keine Vergeltung begehren, nicht schwören sollten und so fort (Matth. 5,33ff.) – und
an diese "evangelischen Ratschläge" seien doch die Christen nicht allesamt gebunden! Was für
eine "alte Zeit" wollen sie uns nun hierbei als Vorwand zeigen? Denn dergleichen ist niemals
einem von den Alten in den Sinn gekommen; sie erklären doch alle wie aus einem Munde, daß Christus
nicht ein einziges Wort gesprochen hat, dem wir nicht notwendig zu gehorchen hätten! Und daß nun
namentlich jene Worte, die nach dem Geschwätz dieser wackeren Ausleger bloß Ratschläge Christi
darstellen sollen, tatsächlich Weisungen seien, das lehren die Alten allenthalben ohne jegliches
Bedenken. Aber weil ich schon oben dargelegt habe, daß es sich hier um einen höchst
verderbenbringenden Irrtum handelt, so mag es hier genug sein, kurz angedeutet zu haben, daß sich
das Mönchtum, so wie es heute ist, auf eine Meinung gründet, die allen Frommen verdientermaßen
ein Greuel sein muß, nämlich darauf, daß man sich einbildet, es gäbe irgendeine vollkommenere
Lebensregel als jene allgemeine, die Gott der gesamten Kirche vorgeschrieben hat. Alles, was auf
dieses Fundament gebaut wird, das kann nicht anders als abscheulich sein.
IV,13,13 Aber sie bringen noch einen anderen Beweis für ihre Vollkommenheit
herbei und meinen, der sei nun ganz stark. Denn der Herr hat doch dem Jüngling, der ihn nach der
vollkommenen Gerechtigkeit fragte, die Antwort gegeben: "Willst du vollkommen sein, so gehe hin,
verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen" (Matth. 19,21). Ob sie das nun selber tun, das
will ich noch nicht zur Erörterung stellen – wir wollen es ihnen für den Augenblick zugeben! Sie
erheben also den Anspruch, sie seien vollkommen geworden, indem sie all ihren Besitz verließen.
Wenn nun darin die Hauptsumme der Vollkommenheit liegt – was hat es dann zu bedeuten, daß Paulus
lehrt, wenn einer "alle seine Habe den Armen gäbe" "und hätte der Liebe nicht", so sei er
nichts (1. Kor. 13,3)? Was ist das für eine Vollkommenheit, die, wenn die Liebe nicht dabei ist,
mit dem Menschen zusammen zu nichts wird? Hier müssen sie nun notwendig antworten, dies sei zwar
das höchste, aber nicht das einzige Werk der Vollkommenheit. Aber auch hier erhebt der Apostel
Einspruch, indem er ohne Zögern die Liebe für das "Band der Vollkommenheit" erklärt – auch
ohne solchen Verzicht auf die irdischen Güter (Kol. 3,14)! Wenn es nun sicher ist, daß zwischen
dem Meister und seinem Jünger kein Gegensatz besteht, und wenn der letztere offen bestreitet, daß
die Vollkommenheit des Menschen darin bestehe, daß er auf all seine Güter verzichtet, und auf der
anderen Seite behauptet, daß sie ohne solchen Verzicht Bestand hat, so müssen wir zusehen, in
welchem Sinne das Wort Christi zu verstehen ist: "Willst du vollkommen sein, so verkaufe alles,
was du hast..." (Matth. 19,21). Der Sinn wird durchaus klarwerden, wenn wir – was bei allen Reden
Christi stets beachtet werden muß – erwägen, an wen sich diese Worte richten. Der Jüngling stellt
doch die Frage, mit welchen Werken er in das ewige Leben eingehen könnte (Luk. 10,25; eigentlich
Matth. 19,16). Weil Christus damit nach den Werken befragt wird, so verweist er ihn an das Gesetz.
Und das mit Recht; denn das Gesetz ist, wenn man es an und für sich betrachtet, der Weg zum ewigen
Leben, und es ist nur deshalb untüchtig, uns das Heil zu verschaffen, weil wir böse sind. Mit
dieser Antwort machte Christus deutlich, daß er keine andere Art und Weise der Lebensgestaltung
lehrte als die, die einst im Gesetz des Herrn gegeben worden war. Damit gab er dem göttlichen
Gesetz das Zeugnis, daß es die Lehre der vollkommenen Gerechtigkeit darstellte, und trat zugleich
den Lästerungen entgegen: es sollte nicht den Anschein haben, als ob er das Volk durch irgendeine
neue Lebensregel zum Abfall vom Gesetz aufreizte. Nun gab der Jüngling, der zwar nicht übler
Gesinnung, aber von eitlem Selbstvertrauen aufgeblasen war, zur Antwort, er habe alle Gebote des
Gesetzes von Jugend auf gehalten (Matth. 19,20). Es ist mehr als gewiß, daß er von dem Ziel, das
er schon erreicht zu haben sich rühmte, noch durch einen unermeßlichen Abstand getrennt war. Wenn
nun sein Rühmen wahrheitsgemäß gewesen wäre, so hätte ihm nichts zur höchsten Vollkommenheit
gemangelt. Denn es wurde oben nachgewiesen, daß das Gesetz die vollkommene Gerechtigkeit in sich
beschließt, und das gleiche geht auch deutlich daraus hervor, daß ja seine Innehaltung als Weg zur
ewigen Seligkeit bezeichnet wird. Um ihn nun darüber zu belehren, wie wenig weit er es in der
Gerechtigkeit gebracht hatte, deren Erfüllung er in seiner Antwort allzu kühnlich behauptete, war
es erforderlich, das ihm persönlich anhängende Gebrechen näher auszubreiten. Er war nun aber ein
sehr reicher Mann, und deshalb hatte er sein Herz an den Reichtum gehängt. Weil er also diese
verborgene Wunde nicht fühlte, so stach ihm Christus hinein. "Geh hin", sagte er zu ihm, "und
verkaufe alles, was du hast." Wenn er das Gesetz nun so gut gehalten hätte, wie er meinte, dann
wäre er, als er dies Wort gehört hatte, nicht traurig davon gegangen (Matth. 19,22)! Denn wer Gott
von ganzem Herzen liebt, der hält alles, was zur Liebe zu Gott im Widerspruch steht, nicht nur für
Dreck, sondern verabscheut es als etwas Verderbliches. Wenn also Christus diesem reichen Geizhals
befiehlt, alles zu verlassen, was er hat, so ist das genau dasselbe, als wenn er einem ehrsüchtigen
Menschen die Weisung gäbe, auf alle Ehren, einem vergnügungssüchtigen, auf alle Genüsse, und
einem Unkeuschen, auf alle Werkzeuge seiner Lust zu verzichten. So müssen die Gewissen, die sich
von keinem Empfinden einer allgemeinen Ermahnung berühren lassen, zu dem besonderen Empfinden der
eigenen Sünde gebracht werden. Es ist also vergebens, wenn die Papisten aus diesem Sonderfall eine
allgemeine Auslegung machen, als ob Christus die Vollkommenheit eines Menschen im Verzicht auf den
Besitz gesehen hätte, während er doch mit diesem Ausspruch nichts anderes wollte, als den
Jüngling, der an sich selbst über die Maßen Gefallen hatte, zum Empfinden seiner Wunde zu
führen, damit er erkennen sollte, daß er noch durch einen weiten Abstand von jenem vollkommenen
Gehorsam gegen das Gesetz entfernt war, den er sich sonst zu Unrecht zusprach. Ich gebe zu, daß
diese Stelle von einigen unter den (Kirchen-) Vätern unrichtig verstanden worden und daß daraus
jene Vorliebe für die freiwillige Armut erwachsen ist, in der man nur solche Leute für selig
hielt, die auf alle irdischen Güter verzichtet hatten und sich Christus nackt angelobten. Ich bin
aber der Zuversicht, daß alle gutwilligen und nicht streitsüchtigen Leser sich mit dieser meiner
Erläuterung zufriedengeben werden, so daß sie sich über die Absicht Christi in keinem Zweifel
befinden.
IV,13,14 Allerdings haben die Väter an nichts weniger gedacht als daran,
solch eine "Vollkommenheit" zu bekräftigen, wie sie dann hernach kuttentragende Klüglinge
zusammengeschmiedet haben, um auf diese Weise ein zwiefaches Christentum aufzurichten. Denn damals
war jene heiligtumsschänderische Lehre noch nicht aufgekommen, die das Klostergelübde mit der
Taufe vergleicht, ja, sogar offen behauptet, es sei eine Art von zweiter Taufe. Wer will daran
zweifeln, daß die (Kirchen-) Väter eine solche Lästerung von ganzem Herzen verabscheut haben? Was
aber die letzte Eigentümlichkeit der alten Mönche betrifft, von der Augustin berichtet, nämlich
daß sie sich voll und ganz nach der Liebe richteten – wozu ist es nötig, mit Worten aufzuweisen,
daß diese mit der neuartigen Gestalt des Mönchsberufs rein nichts zu tun hat? Die Tatsachen selbst
sprechen es aus, daß alle, die sich in die Klöster begeben, eine Absonderung von der Kirche
vornehmen. Wieso denn – scheiden sie sich etwa nicht von der rechtmäßigen Gemeinschaft der
Gläubigen ab, indem sie sich ein besonderes (kirchliches) Amt und eine gesonderte Austeilung der
Sakramente zulegen? Wenn das nicht heißt, die Gemeinschaft der Kirche auseinanderzureißen – was
dann? Und weiter – um die oben begonnene Vergleichung fortzusetzen und einmal abzuschließen -: was
haben sie in diesem Stück für Ähnlichkeit mit den alten Mönchen? Diese wohnten zwar gesondert
von den anderen, aber eine besondere Kirche hatten sie trotzdem nicht, sie teilten die Sakramente
mit den anderen, stellten sich zu den öffentlichen Versammlungen ein und waren dabei ein Teil des
Volks (d.h. der Gemeinde). Die heutigen Mönche aber haben sich einen eigenen, gesonderten Altar
errichtet – und was haben sie damit anders getan als das Band der Einheit zerrissen? Denn sie haben
sich aus dem gesamten Leibe der Kirche ausgeschlossen und das geordnete Amt verachtet, durch das
nach dem Willen des Herrn Friede und Liebe unter den Seinen aufrechterhalten werden sollen. Ich
behaupte also: soviel Klöster es heute gibt, soviel Rotten von Abtrünnigen (Schismatikern) gibt
es, die die kirchliche Ordnung gestört und sich von der rechtmäßigen Gemeinschaft der Gläubigen
abgeschnitten haben. Und damit ihre Abscheidung nicht verborgen bleibt, haben sie sich vielartige
Parteinamen zugelegt. Auch haben sie sich nicht geschämt, sich dessen zu rühmen, was Paulus, so
sehr verabscheut, daß er es gar nicht scharf genug ausdrücken kann (1. Kor. 1,12f.; 3,4). Wir
müßten sonst schon der Meinung sein, von den Korinthern zwar sei Christus "zerteilt" worden,
weil sich der eine Lehrer hochmütig über den anderen stellte, jetzt aber könne es ohne jede
Beleidigung Christi zugehen, daß wir es zu hören bekommen, wie die einen Benediktiner, die anderen
Franziskaner, wieder andere Dominikaner heißen statt Christen, und zwar so, daß sie selbst, indem
sie danach haschen, von der großen Menge der Christen unterschieden zu werden, solche Titel
geradezu als Bekenntnis der Religion hochmütig an sich reißen!
IV,13,15 Diese Unterschiede zwischen den alten Mönchen und denen unserer
Zeit, wie ich sie bis hierher aufgeführt habe, liegen nicht in den Sitten, sondern in dem Beruf
selbst. Der Leser möge also bedenken, daß ich eher vom Mönchtum als von den Mönchen gesprochen
und dabei auf solche Laster hingewiesen habe, die nicht dem Lebenswandel einiger weniger ankleben,
sondern sich von der herrschenden Lebensordnung selbst nicht trennen lassen. Was hat es nun aber
für einen Zweck, im einzelnen darzulegen, was für ein großer Gegensatz in den Sitten besteht? Das
steht fest, daß es keine Gruppe von Menschen gibt, die schlimmer von aller Schandbarkeit der Laster
besudelt wäre. Nirgendwo wogen Parteiungen, Haß, Rottereisucht und Ehrsucht schlimmer als bei den
Mönchen. Gewiß, in einigen wenigen Klöstern lebt man noch keusch – wenn man unter Keuschheit
etwas verstehen will, wobei man die Gier soweit zurückdrängt, daß sie nicht öffentlich ruchbar
wird. Aber man wird kaum ein Kloster unter zehn finden, das nicht eher ein Hurenhaus als ein
Heiligtum der Keuschheit wäre! Und wie sieht es mit der Einfachheit im Lebensunterhalt aus?
Jedenfalls werden die Schweine im Koben nicht anders gemästet! Aber damit sie sich nicht beklagen,
sie würden von mir allzu rauh angepackt, will ich nicht weitermachen. Allerdings wird jeder, der
die Verhältnisse selbst kennt, mir zugeben, daß von dem wenigen, das ich berührt habe, nichts im
(übertreibenden) Anklageton geredet ist. Obwohl sich nach Augustins Zeugnis die Mönche (seiner
Zeit) durch so große Keuschheit auszeichneten, so klagt er doch, daß sich unter ihnen zahlreiche
Landstreicher befänden, die den einfältigeren Leuten mit bösen Kunstgriffen und Betrügereien das
Geld aus der Tasche zögen, mit dem Herumtragen der Reliquien von Märtyrern schnöden Handel
trieben, ja, die Gebeine irgendwelcher Verstorbenen als Reliquien von Märtyrern verkauften und
durch viele andere Freveltaten ihrem Stande ein Schandmal aufbrennten (Von dem Werk der Mönche
28,36). Und wie er auf der einen Seite erklärt, er hätte keine besseren Menschen gesehen als die,
die in den Klöstern Fortschritte gemacht hätten, so beklagt er es auf der anderen Seite, keine
übleren gesehen zu haben als solche, die in den Klöstern auf Abwege geraten seien (Brief 78). Was
würde er wohl sagen, wenn er heutzutage fast alle Klöster von so vielen und so heillosen Lastern
überfließen, ja, schier bersten sähe? Ich sage nichts, als was allen Leuten durchaus bekannt ist!
Trotzdem bezieht sich dieser Tadel nicht auf alle Mönche ohne jegliche Ausnahme. Denn wie die Regel
und Zucht zu einem heiligen Lebenswandel in den Klöstern niemals so gut eingerichtet war, daß es
nicht auch einige Drohnen dabei gegeben hätte, die den anderen recht unähnlich waren, so behaupte
ich, daß die Mönche heutzutage nicht so sehr von der heiligen Art der alten Zeit abgekommen sind,
daß sie in ihrer Schar nicht auch einige Gute hätten. Aber diese Guten sind wenige an der Zahl,
sie sind zerstreut und bleiben unter jener gewaltigen Menge von Bösen und Nichtsnutzigen verborgen,
auch werden sie nicht allein verachtet, sondern auch unverschämt geschmäht, zuweilen auch von den
anderen grausam behandelt, die – wie ein Sprichwort der Leute von Milet besagt – der Meinung sind,
es dürfe kein Guter bei ihnen einen Platz haben!
IV,13,16 Mit diesem Vergleich zwischen dem alten und dem heutigen Mönchtum
hoffe ich erreicht zu haben, was ich wollte, nämlich daß es offenbar wird, daß unsere heutigen
Kuttenträger zur Verteidigung ihres Berufs zu Unrecht das Beispiel der ursprünglichen Kirche zum
Vorwand nehmen; denn sie sind doch von jenen alten Mönchen nicht weniger verschieden als Affen von
Menschen. Indessen will ich nicht verschweigen, daß sich auch in jener ursprünglichen Form des
Mönchtums, die Augustin so preist, manches findet, das mir sehr wenig gefallen will. Ich gebe zwar
zu, daß sie bei den äußerlichen Übungen ihrer recht strengen Zucht nicht abergläubisch gewesen
sind, aber ich behaupte doch, daß es dabei nicht ohne maßlose Künstelei und falsche Nachahmung
abgegangen ist. Es war schön, auf alles Vermögen zu verzichten und dann aller irdischen Sorge
ledig zu gehen, aber höher gilt vor Gott die Sorge um ein frommes Hausregiment, wo es sich ein
heiliger Hausvater, von allem Geiz, aller Ehrsucht und allen Begierden des Fleisches gelöst und
frei, zum Vorsatz genommen hat, in einem bestimmten Berufe Gott zu dienen! Es ist schön, in der
Einsamkeit, fern von dem Verkehr mitden Menschen, zu philosophieren, aber es ist kein Zeichen von
christlicher Sanftmut, sich gleichsam aus allgemeinem Menschenhaß in die Wüste und die Einsamkeit
zurückzuziehen und damit zugleich jene Pflichten zu verlassen, die uns der Herr in erster Linie
aufgetragen hat. Selbst wenn wir zugeben wollten, daß es im Mönchsberuf sonst keinen Mißstand
gegeben hätte, so war das jedenfalls kein geringes Übel, daß er ein nutzloses und gefährliches
Beispiel in die Kirche einführte.
IV,13,17 Nun wollen wir also zusehen, was das für Gelübde sind, mit denen
heutzutage die Mönche in diesen "herrlichen" Stand eingeweiht werden. Erstens: da sie im Sinne
haben, einen neuen und selbsterdachten Gottesdienst einzurichten, um sich damit bei Gott ein
Verdienst zu erwerben, so schließe ich aus dem oben Dargelegten, daß alles, was sie geloben, vor
Gott ein Greuel ist. Und dann: weil sie ihren Blick durchaus nicht auf Gottes Berufung und auf seine
Billigung richten, sondern sich eine Lebensart nach ihrem eigenen Gutdünken ersinnen, so behaupte
ich, daß dies ein vorwitziges und deshalb unstatthaftes Wagnis ist, da ihr Gewissen keinen Grund
hat, auf den es sich vor Gott stützen könnte, und da alles, was nicht aus dem Glauben kommt,
Sünde ist (Röm. 14,23). Und da sie sich außerdem zugleich zu zahlreichen verkehrten und gottlosen
"Gottesdiensten" verpflichten, wie sie das heutige Mönchtum in sich begreift, so behaupte ich,
daß sie nicht Gott, sondern dem Teufel geweiht werden. Die Propheten durften sagen, die Kinder
Israels hätten ihre Söhne den Teufeln und nicht Gott geopfert (Deut. 32,17; Ps. 106,37), und zwar
allein aus dem Grunde, daß sie die wahre Verehrung Gottes mit ihren unheiligen Zeremonien verdorben
hatten – weshalb sollte man nun von den Mönchen nicht das gleiche sagen dürfen, die sich zugleich
mit der Kutte die Verstrickung in tausend gottlose, abergläubische Gebräuche umlegen? Und wie
sehen nun die Gelübde aus? Sie versprechen Gott die fortwährende Jungfräulichkeit – als ob sie
zuvor mit ihm vertraglich vereinbart hätten, daß er sie von der Notwendigkeit der Ehe befreite!
Sie haben auch keinen Anlaß zu dem Einwand, dieses Gelübde täten sie allein im Vertrauen auf die
Gnade Gottes. Denn er erklärt doch selbst, daß diese Gnade nicht allen gegeben wird (Matth.
19,11f.), und deshalb steht es uns nicht zu, im Blick auf diese besondere Gnadengabe Vertrauen zu
fassen. Die sie besitzen, die sollen von ihr Gebrauch machen, und wenn sie einmal empfinden, daß
sie von ihrem Fleisch beunruhigt werden, so sollen sie ihre Zuflucht zur Hilfe dessen nehmen, in
dessen Kraft allein sie widerstehen können. Kommen sie nicht vorwärts, so sollen sie die Arznei,
die ihnen dargeboten wird, nicht verachten. Jedenfalls nämlich werden die, denen das Vermögen zur
Enthaltsamkeit nicht gewährt wird, durch ein unzweifelhaftes Wort Gottes zur Ehe aufgerufen (1.
Kor. 7,9). Enthaltsamkeit nenne ich nicht das, wodurch allein der Leib von der Hurerei rein erhalten
wird, sondern das, worin die Gesinnung unbefleckte Keuschheit bewahrt. Denn wir sollen uns nach der
Weisung des Paulus nicht nur vor der äußerlichen Zuchtlosigkeit hüten, sondern auch vor dem Brand
unseres Herzens. Ja, sagen sie, man hat es aber doch seit unvordenklichen Zeiten so gehalten, daß
sich die, welche sich dem Herrn ganz weihen wollten, an das Gelübde der Enthaltsamkeit banden. Ich
gebe allerdings zu, daß diese Gepflogenheit auch von alters her im Schwang gewesen ist, aber ich
kann es nicht anerkennen, daß jene Zeit so sehr von allen Gebrechen frei gewesen wäre, daß man
alles, was damals gemacht worden ist, für eine Regel halten könnte. Auch hat sich (erst) nach und
nach jene unerbittliche Strenge eingeschlichen, daß nach Ablegung des Gelübdes keine Möglichkeit
zur Zurücknahme mehr bestand. Das geht aus den Worten des Cyprian hervor: "Wenn sich Jungfrauen
aus dem Glauben heraus Christus geweiht haben, so sollen sie keusch und züchtig, ohne alles Gerede
dabei verharren. So sollen sie wacker und standhaft den Lohn ihrer Jungfrauschaft erwarten. Wenn sie
aber nicht dabei beharren wollen oder können, so ist es besser, sie freien, als daß sie mit ihren
Missetaten ins Feuer stürzen" (Brief 4,2). Mit was für Vorwürfen würden sie wohl heute einen
Mann quälen, der mit solcher Billigkeit das Gelübde der Enthaltsamkeit mildern wollte? Man ist
also heute von jener alten Sitte weit abgewichen, indem man nicht nur keinerlei Milderung oder
Nachsicht walten lassen will, wenn jemand untüchtig befunden wird, sein Gelübde zu halten, sondern
gar ohne jede Scham erklärt, es sei eine schlimmere Sünde, wenn er ein Weib nähme, um die
Ungezügeltheit seines Fleisches zu heilen, als wenn er Leib und Seele mit Hurerei besudelte!
IV,13,18 Aber sie lassen noch nicht locker und suchen nachzuweisen, daß
auch unter den Aposteln ein derartiges Gelübde gebräuchlich gewesen sei, weil ja Paulus von den
Witwen, die wieder in die Ehe traten, nachdem sie einmal in das öffentliche Amt (der Gemeinde)
aufgenommen waren, die Behauptung aufstellt, sie hätten "den ersten Glauben gebrochen" (1. Tim.
5,12). Ich bestreite ihnen nun durchaus nicht, daß die Witwen, die sich und ihren Dienst der Kirche
zur Verfügung stellten, einmal das Gesetz dauernder Ehelosigkeit auf sich genommen hatten, und zwar
nicht, weil sie darin irgendwelchen Gottesdienst sahen, wie man das später zu tun angefangen hat,
sondern weil sie ihrer Amtsaufgabe nur zu genügen vermochten, wenn sie ihre eigenen Herren und frei
vom ehelichen Joch waren. Wenn sie sich nun aber nach ihrem Treugelöbnis nach einer neuen Ehe
umsahen, – was war das anders, als daß sie Gottes Berufung von sich warfen? Es ist daher kein
Wunder, daß Paulus sagt, sie seien mit solchem Verlangen "geil geworden wider Christum" (1.
Tim. 5,11). Nachher aber fügt er dann zur stärkeren Betonung hinzu, sie hielten ihr der Kirche
gegebenes Versprechen so gar nicht ein, daß sie damit zugleich auch ihre erste Treuzusage, die sie
bei der Taufe gegeben hätten, verletzten und ungültig machten, jene Treuzusage, zu der es doch
auch gehört, daß sich jeder seinem Beruf entsprechend verhält. Andernfalls müßte man es schon
lieber so verstehen wollen, daß sie, gleichsam nach Verlust jedes Schamgefühls, hernach auch alles
Trachten nach einem ehrbaren Wandel von sich abgeworfen, sich aller und jeder Ungebundenheit und
Leichtfertigkeit hingegeben und durch ihren zügellosen und unordentlichen Lebenswandel nichts
weniger an den Tag gelegt hätten als die Art von christlichen Frauen. Diese Deutung gefällt mir
sehr. Wir geben also (auf jenen Einwand) folgende Antwort: die Witwen, die damals in den
öffentlichen Dienst (der Kirche) aufgenommen wurden, haben sich die Bestimmung auferlegt, dauernd
ehelos zu bleiben; wenn sie nun nachher freiten, so ist es, wie wir leicht begreifen, zu dem
gekommen, was Paulus sagt, nämlich daß sie alle Scham von sich warfen und mutwilliger wurden, als
es christlichen Frauen geziemt; so haben sie denn nicht nur dadurch gesündigt, daß sie das Wort
brachen, das sie der Kirche gegeben hatten, sondern sie sind ja auch von dem gemeinsamen Gesetz
abgewichen, das für alle frommen Frauen gilt. Aber ich bestreite zunächst, daß sie die
Ehelosigkeit aus einem anderen Grunde gelobt hätten als allein deshalb, weil sich die Ehe mit der
Aufgabe, die sie übernahmen, durchaus nicht vertrug, auch leugne ich, daß sie sich zur
Ehelosigkeit irgendwie anders verpflichtet hätten, als allein soweit es die Notwendigkeit ihres
Berufs mit sich brachte. Zum Zweiten gebe ich nicht zu, daß sie derart gebunden gewesen sind, daß
es nicht auch dann noch besser für sie gewesen wäre, in die Ehe zu treten, als von den Stacheln
des Fleisches gemartert zu werden oder in irgendwelche Unsittlichkeit zu verfallen. Zum Dritten
behaupte ich, daß Paulus in seiner Vorschrift ein Lebensalter festsetzt, das im allgemeinen
außerhalb der Gefahr steht (nämlich sechzig Jahre 1. Tim. 5,9), vor allem, wo er gebietet, nur
solche zu wählen, die mit einer einzigen Ehe zufrieden gewesen sind und schon vorher einen Beweis
ihrer Enthaltsamkeit geliefert haben. Wir verwerfen aber das Gelübde der Ehelosigkeit nur deshalb,
weil man es fälschlich für einen Gottesdienst hält und weil es vorwitzig von solchen abgelegt
wird, denen das Vermögen zur Enthaltsamkeit nicht zuteil geworden ist.
IV,13,19 Woher hat man aber das Recht genommen, die Paulusstelle auf die
Nonnen zu beziehen? Denn die dienenden Witwen (diaconissae) wählte man nicht, damit sie Gott mit
Gesängen und unverstandenem Geplärr schmeichelten und die übrige Zeit der Muße lebten, sondern
damit sie den öffentlichen Dienst der Kirche an den Armen verrichteten und mit allem Eifer, aller
Sorgfalt und allem Fleiß den Pflichten der Liebe oblägen. Sie gelobten die Ehelosigkeit nicht, um
mit ihrem Verzicht auf die Ehe Gott irgendeinen Dienst zu erzeigen, sondern nur, um zur Ausübung
ihres Amtes freier zu sein. Und schließlich gelobten sie die Ehelosigkeit nicht in der Frühzeit
ihrer Jungfrauschaft, auch noch nicht mitten in der Blüte ihrer Jahre, um dann nachher zu spät aus
Erfahrung zu lernen, in was für einen Abgrund sie sich begeben hatten; nein, wenn sie alle Gefahr
überstanden zu haben schienen, dann legten sie ihr ebenso gefahrloses wie heiliges Gelübde ab.
Aber – um auf die beiden ersten Punkte nicht scharf zu drängen – ich behaupte, daß es ein Frevel
ist, Frauen vor ihrem sechzigsten Lebensjahr zum Gelübde der Enthaltsamkeit zuzulassen, da Paulus
allein die sechzigjährigen zuläßt, den jüngeren dagegen gebietet, sie sollten freien und Kinder
zur Welt bringen (1. Tim. 5,9.14). Daher läßt sich die Herabsetzung des Zulassungsalters zunächst
um zwölf, dann um zwanzig und schließlich um dreißig Jahre auf keinerlei Weise entschuldigen, und
noch viel weniger ist es zu ertragen, daß man arme Mägdlein, ehe sie sich ihres Alters halben
selber kennen oder von sich selbst irgendwelche Erfahrung haben können, nicht nur mit Betrug dazu
verführt, sondern mit Gewalt und Drohungen dazu zwingt, sich in diese verfluchten Stricke
hineinzubegeben. Auf die Ablehnung der beiden anderen Gelübde (Armut, Gehorsam) will ich mich nicht
einlassen. Ich sage nur dies: abgesehen davon, daß sie, wie die Dinge heute liegen, in nicht wenig
Aberglauben verwickelt sind, scheinen sie dazu gemacht zu sein, daß die, welche sie leisten, mit
Gott und Menschen ihren Spott treiben. Aber damit es nicht den Anschein hat, als wollten wir jedes
einzelne Stückchen gar zu boshaft aufscheuchen, so wollen wir uns mit der oben gegebenen
allgemeinen Widerlegung begnügen.
IV,13,20 Welcherlei Gelübde rechtmäßig und Gott wohlgefällig sind, das
ist nach meiner Ansicht jetzt hinreichend dargelegt. Nun gibt es aber zuweilen unkundige und
furchtsame Gewissen, die sich auch da, wo ihnen ein Gelübde mißfällt oder sie es ablehnen,
nichtsdestoweniger über seine Verbindlichkeit Bedenken hingeben und sich furchtbar martern, weil
sie einerseits davor zurückschrecken, das Gott gegebene Wort zu brechen, und andererseits
befürchten, sich durch das Halten des Gelübdes noch mehr zu versündigen. Diesen muß also hier
Hilfe geschafft werden, damit sie sich aus dieser Schwierigkeit herausreißen können. Um aber mit
einem Schlag jegliches Bedenken zu beheben, so sage ich dies: vor Gott sind alle unerlaubten und
unrechtmäßig geleisteten Gelübde nichtig, und ebenso müssen sie also auch für uns ungültig
sein. Wenn uns nämlich bei menschlichen Verträgen nur solche Zusagen binden, an die uns unser
Vertragspartner gebunden halten will, so ist es widersinnig, daß wir gezwungen werden, etwas zu
leisten, was Gott keineswegs von uns verlangt, vor allem, wo doch unsere Werke nur dann recht sind,
wenn sie Gottes Wohlgefallen finden und das Zeugnis unseres Gewissens besitzen, daß sie es tun.
Denn es bleibt fest bestehen: "Was ... nicht aus dem Glauben geht, das ist Sünde" (Röm.
14,23). Damit meint Paulus: ein Werk, das wir unter Bedenken angreifen, ist deshalb sündig, weil
der Glaube die Wurzel aller guten Werke ist, der Glaube, in dem wir die Gewissheit haben, daß diese
Werke Gott wohlgefällig sind. Wenn also ein Christenmensch nichts ohne diese Gewißheit anpacken
darf, weshalb soll er dann nicht, wenn er aus Unwissenheit etwas unbesonnen übernommen hat, hernach
davon Abstand nehmen, wenn er von seinem Irrtum frei geworden ist? Da nun aber die unbedacht
geleisteten Gelübde von dieser Art sind, so tragen sie nicht nur keinerlei Verbindlichkeit an sich,
sondern sind notwendig zu brechen! Was sollen wir aber erst sagen, wenn wir daran denken, daß sie
vor Gott nicht nur für nichts geachtet werden, sondern auch ein Greuel sind, wie ich oben
nachgewiesen habe? Es ist überflüssig, über eine unnötige Sache weiter zu reden. Um die frommen
Gewissen zu beruhigen und von allen Bedenken zu befreien, scheint mir dieser eine Beweisgrund
vollauf zu genügen: alle Werke, die nicht aus einer reinen Quelle hervorfließen und nach einem
rechtmäßigen Ziele ausgerichtet sind, werden von Gott verworfen, und zwar so verworfen, daß er
uns nicht weniger verbietet, in ihnen fortzufahren, als sie zu beginnen. Daraus nämlich ergibt sich
die Folgerung: Gelübde, die aus Irrtum und Aberglauben hervorgegangen sind, haben bei Gott gar
keine Bedeutung und müssen dementsprechend auch von uns beiseite gelassen werden.
IV,13,21 Wer diese Antwort festhält, der wird außerdem auch die
Möglichkeit haben, solche Menschen gegen die Schmähungen nichtsnutziger Leute zu verteidigen, die
das Mönchtum verlassen und sich in eine ehrbare Lebensweise begeben. Man beschuldigt sie heftig,
sie hätten ihr Wort gebrochen und wären Meineidige, weil sie das nach allgemeiner Ansicht
unlösbare Band zerrissen hätten, mit dem sie Gott und der Kirche verpflichtet waren. Ich behaupte
dagegen, daß gar kein "Band" bestanden hat, wo doch Gott (in diesem Fall) für nichtig
erklärt, was der Mensch in Kraft setzt. Und dann: wenn wir selbst zugeben, sie seien verpflichtet
gewesen, als sie von der Unkenntnis Gottes und dem Irrtum in Banden gehalten wurden, so behaupte ich
doch, daß sie jetzt, nachdem sie von der Erkenntnis der Wahrheit erleuchtet sind, zugleich durch
Christi Gnade frei sind. Denn wenn das Kreuz Christi solche Wirkkraft hat, daß es uns von dem Fluch
des göttlichen Gesetzes frei macht, von dem wir in Banden gehalten wurden (Gal. 3,13), wieviel mehr
wird es uns dann aus solchen fremden Fesseln herausreißen, die doch nichts anderes sind, als
Fangnetze des Teufels! Es steht also außer Zweifel, daß Christus alle, denen er durch das Licht
seines Evangeliums strahlend erscheint, von allen Stricken losmacht, in die sie sich aus Aberglauben
verwickelt haben. Freilich fehlt es ihnen, wenn sie nicht in der Lage waren, den Zölibat zu halten,
auch nicht an einem weiteren Verteidigungsmittel. Denn ein unerfüllbares Gelübde bedeutet das
sichere Verderben der Seele, und Gott will doch, daß sie erhalten bleibt und nicht verlorengeht.
Daraus ergibt sich, daß man in solch einem Gelübde durchaus nicht verharren soll. Wie unerfüllbar
aber das Gelübde der Enthaltsamkeit für solche ist, die mit der besonderen Gabe (Matth. 19,11f.)
nicht ausgerüstet sind, das habe ich oben dargelegt, und die Erfahrung bezeugt es, auch wenn ich
schweige; denn es ist sehr wohl bekannt, von wieviel Unsittlichkeit fast alle Klöster übervoll
sind. Und wenn einige Klöster ehrbarer und sittsamer zu sein scheinen als andere, so sind sie doch
nicht deshalb keusch, weil sie das Übel der Unkeuschheit im Inneren unterdrücken und niederhalten!
So ahndet eben Gott mit schrecklichen Strafexempeln die Vermessenheit der Menschen, wenn sie nicht
an ihre Schwachheit denken und gegen den Widerstand der Natur nach etwas trachten, das ihnen
verwehrt ist, und wenn sie unter Verachtung der Heilmittel, die ihnen der Herr an die Hand gegeben
hatte, die Zuversicht haben, sie könnten durch Trotz und Eigensinn das Gebrechen ihrer
Ungezügeltheit überwinden. Denn wie sollen wir es anders als Trotz nennen, wenn jemand darauf
aufmerksam gemacht ist, daß er die Ehe nötig hat und daß sie ihm von dem Herrn als Heilmittel
gegeben wird, und sie dann trotzdem nicht nur verachtet, sondern sich noch durch einen Eid zur
Verachtung verpflichtet?
Von den Sakramenten
IV,14,1 Mit der Predigt des Evangeliums ist noch ein anderes Hilfsmittel für
unseren Glauben verwandt: es liegt in den Sakramenten. Es ist uns nun hoch vonnöten, daß hierüber
eine klare und bestimmte Unterweisung gegeben wird, aus der wir dann lernen können, zu welchem
Zweck die Sakramente eingerichtet sind und in welcher Weise man sie heute gebraucht. Zunächst ist
es angebracht, darauf achtzuhaben, was ein Sakrament ist. Ich habe nun den Eindruck, daß es eine
einfache und sachgemäße Begriffsbestimmung ist, wenn wir sagen: ein Sakrament ist ein äußeres
Merkzeichen (symbolum), mit dem der Herr unserem Gewissen die Verheißungen seiner Freundlichkeit
gegen uns versiegelt, um der Schwachheit unseres Glaubens eine Stütze zu bieten, und mit dem
wiederum wir unsere Frömmigkeit gegen ihn sowohl vor seinem und der Engel Angesicht als auch vor
den Menschen bezeugen. Man kann auch eine noch kürzer zusammenfassende Begriffsbestimmung geben:
Sakrament heißt ein mit einem äußeren Zeichen bekräftigtes Zeugnis der göttlichen Gnade gegen
uns, bei dem zugleich auf der anderen Seite eine Bezeugung unserer Frömmigkeit Gott gegenüber
stattfindet. Welche von diesen beiden Begriffsbestimmungen man nun aber auch wählen mag, so sind
beide dem Sinne nach von der des Augustin nicht verschieden, wenn er erklärt, Sakrament sei ein
sichtbares Zeichen einer heiligen Sache, oder auch: es sei die sichtbare Gestalt der unsichtbaren
Gnade. Jedoch bringen unsere Begriffsbestimmungen die Sache selbst besser und bestimmter zur
Aussage. Denn da in solcher Kürze (wie sie Augustin walten läßt) eine gewisse Dunkelheit liegt,
die dann vielen weniger Kundigen den Anlaß zu Träumereien bietet, so habe ich mit vielen Worten
eine vollständigere Darlegung geben wollen, damit keine Unklarheit übrigbleibt.
IV,14,2 Aus welchem Grunde die Alten das Wort "Sakrament" in dem hier
vorliegenden Sinne angewandt haben, ist leicht ersichtlich. Denn der alte Übersetzer (der Bibel ins
Lateinische) hat überall, wo er das griechische Wort "mysterion" (Geheimnis) wiedergeben
wollte, besonders, wo es sich um göttliche Dinge handelte, die Übersetzung "Sakrament"
(sacramentum) gebraucht. So geschieht es zum Beispiel im Briefe an die Epheser, wenn es heißt: "...
um uns das Geheimnis (sacramentum) seines Willens kundzumachen" (Eph. 1,9; nicht Luthertext). Oder
ebenso: "Wie ihr ja gehört habt von dem Amt der Gnade Gottes, die mir an euch gegeben ist, daß
mir ist kundgeworden dieses Geheimnis (sacramentum) durch Offenbarung ..." (Eph. 3,2f.). Ähnlich
geschieht es im Kolosserbrief: "Das Geheimnis (sacramentum), das verborgen gewesen ist von der
Welt her und von den Zeiten her, nun aber ist es offenbart seinen Heiligen, denen Gott gewollt hat
kundtun, welches da sei der herrliche Reichtum dieses Geheimnisses (sacramentum) ..." (Kol.
1,26f.). Ebenso im (ersten) Brief an Timotheus, wo es heißt: "Kündlich groß ist das gottselige
Geheimnis (sacramentum): Gott ist offenbart im Fleisch ..." (1. Tim. 3,16). Der Übersetzer wollte
nun nicht das (verwandte) Wort "arcanum" (Verborgenes) gebrauchen, um nicht den Eindruck zu
erwecken, als sagte er etwas, das hinter der Größe der Dinge zurückblieb, und deshalb setzte er
für "Verborgenheit", und zwar für die Verborgenheit einer heiligen Sache, das Wort "Sakrament".
In dieser Bedeutung kommt das Wort bei den kirchlichen Schriftstellern immer wieder vor. Auch ist es
genugsam bekannt, daß das, was die Lateiner "Sakrament" nennen, bei den Griechen "Mysterion"
heißt, und diese Sinngleichheit der beiden Wörter macht allem Streit ein Ende. Von hier aus ist es
dann dazu gekommen, daß das Wort "Sakra-ment" auf solche Zeichen übertragen wurde; die eine
erhabene Darstellung hoher und geistlicher Dinge boten. Das bemerkt auch Augustin an einer Stelle.
Er sagt: "Es würde zu weit führen, wenn wir die Verschiedenheit der Zeichen erörtern wollten,
die, wenn sie sich auf göttliche Dinge beziehen, Sakramente genannt werden" (Brief 136,1,7; an
Marcellinus).
IV,14,3 Aus der damit aufgestellten Begriffsbestimmung ersehen wir nun
weiter, daß ein Sakrament nie ohne eine vorausgehende Verheißung ist, sondern daß es der
Verheißung vielmehr gleichsam als Anhängsel zugefügt wird. Dies geschieht zu dem Zweck, daß es
die Verheißung selbst bekräftigt und versiegelt und sie für uns besser bezeugt, ja,
gewissermaßen gültig sein läßt. Denn Gott sieht vor, daß es zum ersten für unsere Unwissenheit
und Trägheit, zum zweiten aber auch für unsere Schwachheit dergestalt erforderlich ist. Dabei hat
es aber Gott – um im eigentlichen Sinne zu reden – nicht sowohl nötig, sein heiliges Wort zu
bekräftigen, als vielmehr uns im Glauben an sein Wort zu stärken. Denn Gottes Wahrheit ist aus
sich selbst heraus fest und sicher genug, und sie kann von anderswoher keine bessere Bekräftigung
empfangen als von sich selbst. Da aber unser Glaube gering und schwach ist, so muß er von allen
Seiten gestützt und auf allerlei Weise tragfest gemacht werden; sonst gerät er alsbald in
Erschütterung, in Schwanken und Wanken, ja, er bricht zusammen. Und hier paßt sich nun der
barmherzige Herr in seiner unermeßlichen Güte unserem Fassungsvermögen an. Da wir aber irdische
Wesen sind und als solche, allezeit am Boden kriechend und am Fleische hängend, nichts Geistliches
zu denken und es nicht einmal aufzufassen vermögen, so macht er es so, daß er keine Beschwernis
darin findet, uns auch mit solchen irdischen Elementen zu sich hin zu führen und uns im Fleische
selbst einen Spiegel der geistlichen Güter vorzuhalten. Wenn wir nämlich, wie Chrysostomus sagt,
unleibhaft wären, so würde uns der Herr diese Güter auch nackt und unleibhaft darreichen. Nun
aber, da wir eine Seele haben, die in den Leib eingesenkt ist, so gibt er uns das Geistliche durch
das Sichtbare hindurch (Predigt 60 an das Volk). Das kommt nicht etwa daher, daß solche Gaben, die
uns in den Sakramenten dargegeben werden, in der Natur der Dinge lägen; nein, sie sind eben von
Gott bezeichnet, um diese Bedeutung zu haben.
IV,14,4 Dies ist nun der Sinn der gebräuchlichen Redeweise, das Sakrament
bestehe aus dem Wort und dem äußeren Zeichen. Wenn wir vom "Wort" sprechen, so dürfen wir
nämlich darunter nicht ein solches verstehen, das, ohne Sinn und ohne Glauben dahergeflüstert,
allein durch seinen Klang die Kraft hätte, das "Element" zu heiligen — wie wenn es sich hier
um eine Zauberbeschwörung handelte —; nein, wir müssen hier vielmehr an das Wort denken, das
gepredigt wird und uns dadurch erkennen läßt, was das sichtbare Zeichen für einen Sinn hat. Was
also (in dieser Beziehung) unter der Tyrannei des Papstes geschehen ist, das ist nicht ohne eine
ungeheuerliche Entheiligung der Geheimnisse (Sakramente) abgegangen: da meinte man nämlich, es sei
genug, wenn der Priester unter der starren Verblüffung des Volkes, das von der Sache nichts
verstand, die Weiheformel (consecrationis formula) dahermurmelte. Ja, man hat unter dem Papst mit
Absicht dafür gesorgt, daß dem Volke aus dieser Handlung nur ja keine Unterweisung zukam, indem
man nämlich vor Leuten ohne wissenschaftliche Bildung alles in lateinischer Sprache redete. Hernach
ist der Aberglaube soweit gegangen, daß man meinte, die Weihe (Konsekration) werde nur dann nach
Gebühr vorgenommen, wenn sie mit einem heiseren Gemurmel geschah, das bloß wenige vernahmen. Weit
anders dagegen lehrt Augustin über das Wort, das beim Sakrament gesprochen wird (verbum
sacramentalis). Er sagt: "Es trete das Wort zu dem Element, so wird daraus ein Sakrament. Denn
woher kommt diese gewaltige Kraft des Wassers, daß es den Leib berührt und das Herz rein wäscht,
anders als aus der Wirkung des Wortes? Und zwar nicht darum, weil es gesprochen, sondern weil es
geglaubt wird! Denn auch bei dem Wort selbst ist der verklingende Laut etwas anderes als die
bleibende Kraft. ‘Dies ist das Wort vom Glauben, das wir predigen’, sagt der Apostel (Röm.
10,8). Daher heißt es in der Apostelgeschichte: ‘Und reinigte ihre Herzen durch den Glauben ...’
(Apg. 15,9). Und der Apostel Petrus sagt: So macht uns auch die Taufe selig, die nicht das Abtun des
Unflats am Fleische ist, sondern die Verantwortung eines guten Gewissens’ (1. Petr. 3,21; nicht
Luthertext; Calvin selbst übersetzt statt "Verantwortung" in Sekt. 24: das Zeugnis ...). Es ist
das Wort vom Glauben, das wir predigen, durch das ohne jeglichen Zweifel auch die Taufe geweiht
wird, so daß sie zu reinigen vermag" (Predigten zum Johannesevangelium 80,3). Man sieht hier, wie
Augustin die Predigt fordert, damit aus ihr der Glaube erwachse. Es besteht auch kein Anlaß, daß
wir uns damit abmühen, dies zu beweisen; denn es ist deutlich genug, was Christus getan, was er uns
zu tun befohlen hat, was die Apostel befolgt haben und was die reinere Kirche innegehalten hat. Ja,
es ist bekannt, daß seit Anbeginn der Welt, sooft Gott den heiligen Vätern irgendein Zeichen
gegeben hat, damit unzertrennlich auch das Wort verbunden war, ohne das unsere Sinne durch das
bloße (d.h. hüllenlose) Anschauen in Verwirrung geraten würden. Wenn wir also das bei dem
Sakrament gesprochene Wort (verbum sacramentalis) erwähnen hören, so wollen wir darunter die
Verheißung verstehen, die, vom Diener (am Wort) mit klarer Stimme gepredigt, das Volk bei der Hand
nimmt und dahin leitet, worauf sich das Zeichen richtet und wohin es uns lenkt.
IV,14,5 Man darf auch nicht auf die Leute hören, die hiergegen mit einem
Entweder-Oder anzukämpfen suchen, das mehr scharfsinnig als stichhaltig ist. Sie sagen: Entweder
wir wissen, daß Gottes Wort, wie es dem Sakrament voraufgeht, Gottes wahrhaftiger Wille ist, oder
wir wissen es nicht. Wenn wir es wissen, so lernen wir aus dem dann folgenden Sakrament nichts
Neues. Wissen wir es aber nicht, so wird es uns auch das Sakrament nicht lehren, weil seine Kraft ja
voll und ganz im Worte liegt. Hierauf will ich kurz antworten. Die Siegel, die man an Amtsurkunden
und anderen öffentlichen Schriftstücken befestigt, sind an und für sich betrachtet nichts, weil
sie ja vergebens daran aufgehängt wären, wenn auf dem Pergament nichts geschrieben stünde; und
doch ist es so, daß sie das Geschriebene bekräftigen und versiegeln, wenn sie solchen
Schriftstücken zugefügt werden. Jene Leute können auch nicht behaupten, dies Gleichnis sei erst
neuerdings von uns aufgebracht; denn Paulus hat es selbst gebraucht, indem er die Beschneidung ein
"Siegel" nennt (Röm. 4,11). An dieser Stelle behauptet er mit voller Absicht, die Beschneidung
des Abraham sei nicht zwecks Erwerb der Gerechtigkeit geschehen, sondern sie stelle vielmehr ein
Siegel des Bundes dar, an den Abraham geglaubt hat, so daß er in diesem Glauben gerechtfertigt war.
Und ich möchte doch wissen, was für ein Anlaß dazu bestehen soll, daß jemand gewaltig daran
Anstoß nimmt, wenn wir lehren, daß die Verheißung durch die Sakramente versiegelt wird — wo
doch aus den Verheißungen selbst klar hervorgeht, daß eine durch die andere ihre Bekräftigung
erfährt! Denn je deutlicher eine Verheißung ist, desto geeigneter ist sie auch, um dem Glauben
eine Stütze zu bieten. Die Sakramente aber tragen uns die deutlichsten Verheißungen zu und haben
außerdem vor dem Worte noch den besonderen Vorzug, daß sie diese Verheißungen wie in einem Bilde
abmalen und sie uns dergestalt lebenswahr vergegenwärtigen. Man pflegt nun freilich einen
Unterschied zwischen den Sakramenten und den an die Urkunden gehängten Siegeln anzuführen, indem
man sagt: beide bestehen aus den fleischlichen Elementen dieserWelt, und deshalb können also die
Sakramente nicht ausreichen und nicht in der Lage sein, die Verheißungen Gottes, die geistlich und
ewig sind, derart zu versiegeln, wie die Anhängung von Siegeln zur Bekräftigung von fürstlichen
Verordnungen zu dienen pflegt, die sich auf unbeständige und vergängliche Dinge beziehen, von
diesem Einwand sollen wir uns nun aber nicht irremachen lassen. Denn wenn einem gläubigem Manne die
Sakramente vor die Augen treten, so bleibt er nicht an jenem fleischlichen Schaubild hängen,
sondern steigt auf den oben dargelegten Stufen der Entsprechung (analogia — zwischen der
geistlichen Bedeutung und dem sichtbaren Zeichen) in frommer Betrachtung zu den erhabenen
Geheimnissen empor, die in den Sakramenten verborgen liegen.
IV,14,6 Da nun der Herr seine Verheißungen Bündnisse nennt (Gen. 6,18; 9,9;
17,2) und die Sakramente Zeichen dieser Bündnisse, so läßt sich eben aus den Bündnissen der
Menschen ein Gleichnis anführen. Denn was sollte wohl die Schlachtung einer Sau für eine Wirkung
haben, wenn nicht Worte dazukämen, ja, wenn sie nicht vorausgingen? Gar oft werden doch Säue
geschlachtet, ohne daß dabei ein tieferes oder erhabeneres Geheimnis obwaltet. Was soll der
Handschlag (an und für sich) für eine Wirkung haben, wo man doch nicht selten auch im feindlichen
Sinne miteinander "handgemein" wird? Wo aber Worte vorangegangen sind, da werden unzweifelhaft
durch solche Zeichen die Bündnisbedingungen bekräftigt, obwohl sie schon zuvor mit Worten
abgefaßt, festgestellt und beschlossen sind. Die Sakramente sind also Übungen, die uns das Wort
Gottes gewisser verbürgen, und weil wir fleischlich sind, so werden sie unter fleischlichen Dingen
dargeboten, um uns dergestalt nach dem Auffassungsvermögen unserer trägen Art zu erziehen und uns,
wie die Lehrmeister mit Kindern zu tun pflegen, bei der Hand zu leiten. In diesem Sinne bezeichnet
Augustin das Sakrament als "sichtbares Wort" (Predigten zum Johannesevangelium 80,3; Gegen den
Manichäer Faustus 19,16), weil es uns ja Gottes Verheißungen wie auf einem Bilde dargestellt
vergegenwärtigt und sie uns in gemaltem und bildhaftem Ausdruck vor Augen stellt. Es lassen sich
auch noch andere Gleichnisse vorbringen, die dazu dienen, die Sakramente deutlicher zu bestimmen. So
geschieht es zum Beispiel, wenn wir sie als Säulen unseres Glaubens bezeichnen. Denn wie ein
Bauwerk zwar auf seinem Fundament errichtet ist und ruht, aber durch die Untersetzung von Säulen
noch sicherer gestützt wird, so ruht der Glaube auf dem Worte Gottes als auf seinem Fundament, aber
wenn die Sakramente hinzukommen, so wirken diese obendrein noch wie Säulen, auf die er sich fester
stützt. Ein ähnliches Gleichnis haben wir auch, wenn wir die Sakramente als "Spiegel"
bezeichnen, in denen sich die Reichtümer der Gnade Gottes anschauen lassen, die er uns gewährt.
Denn in den Sakramenten offenbart er sich uns, wie bereits dargetan, so weit, als es unserer
Kurzsichtigkeit gegeben ist, ihn zu erkennen, und in ihnen bezeugt er sein Wohlwollen und seine
Liebe gegen uns deutlicher, als es im Worte geschieht.
IV,14,7 Es ist auch keine hinreichend angemessene Beweisführung, wenn die
obengenannten Theologen behaupten, die Sakramente seien keine Zeugnisse der Gnade Gottes, und zwar
darum nicht, weil sie ja auch Gottlosen dargereicht würden. Tatsächlich ist es doch so, daß die
Gottlosen auf Grund der Sakramente keineswegs zu dem Empfinden kommen, Gott sei ihnen in höherem
Maße gnädig, sondern sich vielmehr eine um so ernstere Verdammnis zuziehen. Denn nach dem gleichen
Beweis wäre ja auch das Evangelium kein Zeugnis der Gnade Gottes, weil es von vielen gehört und
verachtet wird. Ja, auch Christusselber wäre dann kein Zeugnis der Gnade Gottes; denn er ist doch
von sehr vielen Leuten gesehen und gekannt worden, unter denen nur sehr wenige waren, die ihn
annahmen. Ähnliches läßt sich auch an den Urkunden beobachten. Denn jenes Siegel, das den Urheber
beglaubigen soll, wird von sehr vielen Leuten aus der großen Menge verlacht und verspottet, obwohl
sie wissen, daß es von dem Fürsten zur Versiegelung seines Willens ausgegangen ist; andere messen
ihm keinerlei Bedeutung bei, als ob es eine Sache wäre, die sie nichts anginge, andere gibt es, die
es verfluchen! Sakramente und Siegel unterliegen also völlig gleichen Bedingungen, und wenn wir das
sehen, so muß uns das weiter oben von uns angewandte Gleichnis mehr und mehr einleuchten. Es ist
also gewiß, daß uns der Herr seine Barmherzigkeit und ein Unterpfand seiner Gnade sowohl durch
sein Wort darbietet als auch durch die Sakramente. Beides wird aber nur von solchen ergriffen, die
das Wort und die Sakramente mit gewissem Glauben annehmen, wie ja auch Christus vom Vater allen zum
Heil dargeboten und vor Augen gestellt, aber doch nicht von allen erkannt und angenommen worden ist.
In der Absicht, dies darzulegen, hat Augustin an einer Stelle den Satz ausgesprochen: "Die
Wirkkraft des Wortes wird im Sakrament zum Vorschein gebracht, und zwar nicht, weil das Wort
geredet, sondern weil es geglaubt wird" (Predigten zum Johannesevangelium 80,3). Daher kommt es,
daß Paulus, wenn er zu Gläubigen spricht, in der Weise von den Sakramenten redet, daß er die
Gemeinschaft mit Christus in sie einschließt. So tut er es zum Beispiel, wenn er sagt: "Denn
wieviel euer ... getauft sind, die haben Christum angezogen" (Gal. 3,27). Oder ebenso, indem er
schreibt: "Ein Leib und ein Geist sind wir alle, die wir in Christus getauft sind" (1. Kor.
12,12f.; nicht Luthertext). Redet er dagegen von dem verkehrten Gebrauch der Sakramente, so gibt er
ihnen keinen anderen Wert als bedeutungslosen und inhaltsleeren Abbildern. Damit gibt er zu
verstehen: so sehr auch die Gottlosen und Heuchler in ihrer Verkehrtheit die Wirkung der Sakramente
unterdrücken, verdunkeln oder behindern mögen, so steht doch nichts dawider, daß diese
Sakramente, wo und sooft es Gott gefällt, ein wahrhaftes Zeugnis von der Gemeinschaft mit Christus
liefern und der Geist Gottes auch eben das darreicht, was die Sakramente verheißen. Wir stellen
also fest, daß es der Wahrheit entspricht, wenn die Sakramente als Zeugnisse der Gnade Gottes und
gleichsam als Siegel der Freundlichkeit bezeichnet werden, die Gott gegen uns im Herzen trägt, als
Siegel, die uns solche Freundlichkeit Gottes versiegeln und dadurch unseren Glauben stützen,
erhalten, festigen und mehren. Die Gründe aber, die manche Leute gegen diesen Satz beibringen, sind
völlig unbedeutend und kraftlos. Sie sagen, wenn unser Glaube gut sei, so könne er eben nicht
besser werden; denn er sei doch nur dann Glaube, wenn er sich unerschüttert, fest und unabbringbar
auf Gottes Barmherzigkeit stütze. Wer so redet, der hätte besser daran getan, mit den Aposteln
darum zu beten, der Herr möge ihm den Glauben mehren (Luk. 17,5), als unbekümmert eine solche
Vollkommenheit des Glaubens zu behaupten, wie sie nie einer von den Menschenkindern erreicht hat und
auch niemand in diesem Leben erreichen wird. Sie sollen mir doch sagen, was für einen Glauben denn
nach ihrer Meinung jener Mann gehabt hat, der da sprach: "Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem
Unglauben" (Mark. 9,24). Denn obwohl der Glaube dieses Mannes noch gar in den Anfängen steckte,
so war er doch gut und konnte durch Behebung des Unglaubens besser werden. Aber zur Widerlegung
dieser Leute gibt es keinen kräftigeren Beweis als ihr eigenes Gewissen; denn wenn sie bekennen,
daß sie Sünder sind — und das können sie doch nicht leugnen, ob sie nun wollen oder nicht —,
so müssen sie eben diese Tatsache unumgänglich der Unvollkommenheit ihres Glaubens zuschreiben!
IV,14,8 Ja, sagen sie, aber Philippus hat doch dem "Kämmerer" die
Antwort gegeben, er könne getauft werden, wenn er von ganzem Herzen glaube (Apg. 8,37)! Was soll
nun die Bestärkung (des Glaubens) durch die Taufe hier noch für einen Platz finden, wo doch der
Glaube das ganze Herz erfüllt? Ich möchte sie nun aber meinerseits fragen, ob sie es denn nicht
merken, daß ein großer Teil ihres Herzens noch leer ist an Glauben, und ob sie denn nicht
erkennen, daß der Glaube tagtäglich aufs neue wächst. Es war doch einst einer, der sich rühmte,
er würde über seinem Lernen zum alten Manne. Wenn wir Christen also alte Leute würden, ohne
unterdessen vorwärtszukommen, so wären wir dreifach elendige Menschen, wo doch unser Glaube durch
alle Altersstufen hindurch fortschreiten muß, bis er zu einem Dasein als "vollkommener Mann"
erwächst (Eph. 4,13). Wenn es also an jener Stelle heißt (Apg. 8,37): "von ganzem Herzen glauben"
so bedeutet das nicht: vollkommen an Christus glauben, sondern nur: ihn von Herzen und mit
aufrichtigem Gemüte annehmen; es bedeutet nicht, daß man von ihm gesättigt ist, sondern daß man
in glühendem Eifer hungert, dürstet und sich nach ihm sehnt. Die Schrift hat ja die Gepflogenheit,
daß sie davon spricht, es geschehe etwas "von ganzem Herzen", wenn sie zu verstehen geben will,
daß es aufrichtig und mit rechtem Willen geschieht. In diesem Sinne heißt es: "Ich suche dich
von ganzem Herzen" (Ps. 119,10), oder: "Ich danke dem Herrn von ganzem Herzen" (Ps. 111,1;
138,1), oder ähnlich. In der nämlichen Weise pflegt die Schrift, wo sie Betrüger oder Lügner
tadelt, solchen Menschen den Vorwurf zu machen, sie hätten ein doppeltes (Luther: uneiniges) Herz
(Ps. 12,3). Die obengenannten Leute sagen nun aber weiter so: wenn der Glaube durch die Sakramente
eine Mehrung erfährt, so ist der Heilige Geist umsonst gegeben; denn es ist doch seine Kraft und
sein Werk, den Glauben anzufangen, zu erhalten und zu vollenden! Ich gebe ihnen nun allerdings zu,
daß der Glaube das eigentliche und vollkömmliche Werk des Heiligen Geistes ist: sind wir von ihm
erleuchtet, so erkennen wir Gott und die Schätze seiner Güte, ohne sein Licht aber ist unser
Verstand derart blind, daß er von den geistlichen Dingen nichts erschauen, und derart stumpf, daß
er von ihnen nicht einmal einen Geruch empfangen kann. Jedoch ziehen wir statt der einen Wohltat
Gottes, die jene Theologen predigen, ihrer drei in Betracht. Denn erstens lehrt und unterweist uns
der Herr durch sein Wort, zweitens stärkt er uns durch die Sakramente, und endlich erleuchtet er
unseren Verstand durch das Licht seines Heiligen Geistes und eröffnet durch ihn dem Wort und den
Sakramenten den Zugang zu unserem Herzen; andernfalls nämlich würden sie bloß an unser Ohr
klingen oder uns vor die Augen gestellt werden, aber das Innere in keiner Weise berühren.
IV,14,9 Wenn ich nun von einer Stärkung und Mehrung des Glaubens durch die
Sakramente spreche, so möchte ich also, daß sich der Leser — wie ich es bereits mit sehr klaren
Worten ausgesprochen zu haben hoffe — auf folgendes aufmerksam machen läßt: schreibe ich den
Sakramenten diesen Dienst zu, so ist es nicht so, als ob ich der Meinung wäre, es wohnte ihnen
fortdauernd ich weiß nicht was für eine verborgene Kraft inne, durch die sie in der Lage wären,
den Glauben aus sich heraus zu fördern und zu stärken; nein, dieser Dienst begründet sich darauf,
daß die Sakramente von dem Herrn dazu eingesetzt sind, zur Festigung und Mehrung des Glaubens zu
dienen. Im übrigen vollbringen sie ihr Amt nur dann recht, wenn jener innerliche Lehrmeister, der
Heilige Geist, hinzutritt, von dessen Kraft allein die Herzen durchdrungen und die Empfindungen
bewegt werden und den Sakramenten ein Zugang zu unserer Seele offensteht. Ist der Heilige Geist
nicht dabei, so können die Sakramente unseren Herzen nicht mehr schenken, als wenn der Glanz der
Sonne blinden Augen erstrahlt oder eine Stimme an taube Ohren klingt. Zwischen dem Geist und den
Sakramenten teile ich also dergestalt, daß bei dem Geist die Kraft zum Wirken liegt, den
Sakramenten aber ausschließlich der Dienst überlassen bleibt, und zwar der Dienst, der ohne die
Wirkung des Geistes leer und wesenlos bleibt, aber von großer Kraft erfüllt ist, wenn der Geist im
Inneren am Werke ist und seine Kraft offenbart. Jetzt ist es deutlich, in welcher Weise nach der
hier vorgetragenen Auffassung ein frommes Herz durch die Sakramente im Glauben gestärkt wird: das
geschieht eben in der Weise, wie auch die Augen durch den Glanz der Sonne sehen und die Ohren beim
Klang einer Stimme hören. Nun würden aber die Augen von keinerlei Licht irgendwie berührt, wenn
sie nicht eine ihnen innewohnende Sehkraft besäßen, die nun von selbst das Licht erfaßt, und die
Ohren würden vergeblich von irgendwelchem Klang getroffen, wenn sie nicht zum Hören geboren und
zubereitet wären. Das, was nun in unseren Augen die Sehkraft bewirkt, die uns in den Stand setzt,
das Licht zu erfassen, und was in unseren Ohren das Gehör schafft, das uns fähig macht, eine
Stimme zu vernehmen, das ist in unseren Herzen das Werk des Heiligen Geistes, das sich darin
auswirkt, den Glauben anzufangen, zu stützen, zu erhalten und zu festigen. Wenn dies nun wahr ist
— und es sollte für uns ein für allemal feststehen —, dann ergibt sich daraus ebenso auch
folgende doppelte Tatsache: einerseits richten die Sakramente ohne die Kraft des Heiligen Geistes
nicht das mindeste aus, und andererseits steht nichts dawider, daß sie in unserem Herzen, das schon
vorher von jenem Lehrmeister (d.h. dem Heiligen Geiste) unterwiesen ist, den Glauben kräftiger und
größer machen. Dabei besteht nur ein Unterschied: das Vermögen zum Hören und Sehen ist unseren
Ohren und Augen von Natur mitgegeben, während Christus dagegen in besonderer Gnade, über das Maß
der Natur hinaus, solche Wirkung in unserem Herzen hervorbringt.
IV,14,10 Damit werden zugleich auch manche Einwände widerlegt, wie sie
viele Menschen in Angst halten. So sagt man: wenn wir behaupteten, daß Kreaturen zum Wachstum und
zur Bekräftigung des Glaubens dienen könnten, so geschehe damit dem Geiste Gottes Unehre; denn man
müsse doch ihn allein als den Geber solchen Wachstums und solcher Bekräftigung anerkennen. (Dieser
Einwand erledigt sich.) Denn wenn wir so reden, so nehmen wir doch damit dem Heiligen Geiste das
Lob, daß er unseren Glauben festige und wachsen lasse, keineswegs fort; nein, wir behaupten
vielmehr, daß eben dies Werk der Mehrung und Festigung unseres Glaubens nichts anderes ist, als
daß er mit der von ihm gewirkten innerlichen Erleuchtung unsere Herzen zubereitet, damit sie jene
Kräftigung empfangen, die uns von den Sakramenten an die Hand gegeben wird. Was etwa an dem bisher
Ausgeführten noch gar zu dunkel war, das wird durch das folgende Gleichnis, das ich jetzt anführen
will, völlig klarwerden. Wenn du dir vornimmst, einen Menschen mit Worten dazu zu überreden, daß
er irgend etwas tut, dann wirst du dir alle Gründe überlegen, durch die er zu deiner Ansicht
herübergezogen und geradezu genötigt werden könnte, deinem Rate willfährig zu sein. Aber alle
Mühe ist vergebens, wenn er nicht seinerseits von durchschauendem, scharfem Urteilsvermögen ist,
um damit zu der Erwägung befähigt zu sein, welches Gewicht deinen Gründen beizumessen ist; alle
Mühe wird umsonst sein, wenn er nicht seinem Wesen nach belehrbar und zum Anhören einer
Unterweisung bereit ist — und wenn er schließlich von deiner Zuverlässigkeit und Klugheit nicht
jene Meinung hat, die für ihn gleichsam ein vorläufiges Urteil bilden könnte, das ihn dazu
brächte, zu allem seine Zustimmung zu geben. Denn es gibt sehr viele hartköpfige Menschen, die du
nie mit irgendwelchen Gründen wirst lenken können; und wo deine Zuverlässigkeit in Verdacht
gezogen, wo deine Autorität verachtet ist, da wird sich auch bei belehrbaren Leuten wenig
ausrichten lassen. Auf der anderen Seite: wo die genannten Voraussetzungen alle vorliegen, da werden
sie sicherlich die Wirkung haben, daß sichder Mann, dem du deine Ratschläge zu Gehör bringst, auf
sie verläßt, während er sie im anderen Falle verlacht haben würde. Eben dies Werk tut bei uns
der Heilige Geist: damit nämlich das Wort nicht vergebens an unsere Ohren klingt und die Sakramente
nicht umsonst vor unsere Augen treten, so weist er darauf hin, daß es Gott ist, der darin mit uns
redet, er erweicht die Widerspenstigkeit unseres Herzens und bereitet es zu dem Gehorsam zu, der dem
Worte des Herrn gebührt. Kurz, er trägt jene äußerlichen Worte und Sakramente von den Ohren in
die Seele hinein. Das Wort wie auch die Sakramente bekräftigen also unseren Glauben, indem sie uns
den guten Willen des himmlischen Vaters gegen uns vor Augen stellen, durch dessen Erkenntnis die
ganze Festigkeit unseres Glaubens Bestand gewinnt und seine Kraft zunimmt. Der Geist dagegen
bekräftigt unseren Glauben, indem er solche (durch Wort und Sakramente gewirkte) Bekräftigung in
unsere Herzen eingräbt und sie dadurch wirksam macht. Indessen kann man dem Vater des Lichts nicht
verbieten, daß er, wie er unsere leiblichen Augen mit den Strahlen der Sonne hell macht, so auch
unsere Herzen durch die Sakramente erleuchtet, gleichsam wie durch einen vermittelnden Lichtschein.
IV,14,11 Daß dem äußeren Worte diese Eigenschaft (unseren Glauben zu
kräftigen und zu mehren) innewohnt, das hat der Herr dargetan, indem er es als "Samen"
bezeichnete (Matth. 13,3-23; Luk. 8,5-15). Denn wenn ein Samenkorn in ein wüst liegendes und
vernachlässigtes Stück Land gefallen ist, so kann es nicht anders als ersterben; hat man es aber
in ein gehörig bearbeitetes und gepflegtes Saatfeld geworfen, so wird es mit bestem Gewinn seine
Frucht hervorbringen. Ebenso bleibt das Wort Gottes, wenn es auf irgendeinen harten Nacken fällt,
ohne Frucht, wie wenn es gleichsam auf den Sand geworfen wäre; trifft es aber eine Seele an, die
von der Hand des Geistes vom Himmel unter den Pflug genommen ist, so wird es reichste Frucht tragen.
Wenn es nun aber um den Samen und um das Wort ganz gleich bestellt ist, und ferner das Korn aus dem
Samen geboren wird, wächst und zur Reife kommt, — weshalb sollen wir dann nicht ebenso sagen,
daß der Glaube aus dem Worte Ursprung, Wachstum und Vollendung empfängt? Beides setzt Paulus an
verschiedenen Stellen trefflich auseinander. Er will den Korinthern ins Gedächtnis zurückrufen,
wie wirksam Gott seinen Dienst benutzt habe (1. Kor. 2,4), und zu diesem Zweck rühmt er sich, das
"Amt des Geistes" innezuhaben (2. Kor. 3,6), gleich als ob mit seiner Predigt durch ein
unlösbares Band die Kraft des Heiligen Geistes verbunden wäre, um das Herz innerlich zu erleuchten
und zu bewegen. An anderer Stelle aber will er darauf aufmerksam machen, was das vom Menschen
gepredigte Wort aus sich selbst heraus für eine Kraft hat, und dazu vergleicht er die Diener (d.h.
die Prediger) mit Ackerleuten, die ihre Arbeit und ihren Fleiß daran wenden, das Land zu bebauen,
aber dann weiter nichts zu tun haben. Was würde auch Pflügen und Säen und Begießen nützen, wenn
das Gesäte nicht durch himmlische Wohltat fruchtbar gemacht würde? Von hier aus kommt Paulus zu
dem Ergebnis, daß sowohl der, der da pflanzt, als auch der, der da begießt, nichts ist, sondern
alles Gott zugeschrieben werden muß, der allein das Gedeihen gibt (1. Kor. 3,6-9). Die Apostel
machen also in ihrer Predigt die Macht des Geistes offenbar, soweit Gott die von ihm verordneten
Werkzeuge zur Entfaltung seiner geistlichen Gnade benutzt. Und doch müssen wir jenen Unterschied
festhalten, daß wir bedenken, was der Mensch aus sich selbst heraus vermag, und was Gott eigen ist.
IV,14,12 Was nun die Sakramente betrifft, so sind sie in solchem Maße
Bekräftigung unseres Glaubens, daß der Herr manchmal, wenn er die Zuversicht auf die Dinge
wegnehmen will, die er in den Sakramenten verheißen hat, die Sakramente selbst wegnimmt. Als er dem
Adam die Gabe der Unsterblichkeit nimmt und ihn daraus verstößt, da sagt er: "... daß er nicht
... breche von der Frucht des Lebens und lebe ewiglich" (Gen. 3,22). Was hören wir nun hier? War
denn etwa diese "Frucht" imstande, dem Adam die Unsterblichkeit wiederzugeben, die er bereits
verloren hatte? Nein, durchaus nicht! Aber es ist so, als ob Gott gesagt hätte: damit Adam kein
eitles Vertrauen in sich nährt, wenn er noch das Merkzeichen meiner Verheißung besitzt, so soll
ihm weggenommen werden, was ihm einige Hoffnung auf Unsterblichkeit bereiten könnte. In diesem
Sinne spricht sich auch Paulus aus; er ermahnt die Epheser, sie sollten sich daran erinnern, daß
sie Fremdlinge gewesen seien gegenüber den Verheißungen, "außer der Bürgerschaft Israels",
ohne Gott, ohne Christus (Eph. 2,12), und dabei sagt er auch, sie seien der Beschreibung nicht
teilhaftig gewesen (Eph. 2,11). Damit gibt er durch Einsetzung des einen Begriffs für einen
Verwandten (metonymice) zu verstehen, daß sie, indem sie das Unterpfand der Verheißung nicht
empfangen hatten, auch von der Verheißung selbst ausgeschlossen waren. Die obengenannten Theologen
machen nun, wie gesagt (vgl. Anfang der Sektion 10), noch einen weiteren Einwand. Sie meinen, unsere
Ansicht übertrage die Ehre Gottes auf Kreaturen: diese bekämen soviel Kraft zugesprochen, und
damit geschehe der Ehre Gottes im gleichen Maße Eintrag. Hierauf ist leicht zu antworten: wir legen
in die Kreaturen überhaupt keine Kraft hinein: Nur dies sagen wir: Gott benutzt Mittel und
Werkzeuge, von denen er selbst voraussteht, daß sie nützlich sind; es soll seiner Ehre alles
dienstbar sein, da er selbst ja Herr und Lenker über alles ist. Wie er also durch Brot und andere
Speisen unseren Leib erhält, wie er durch die Sonne die Welt hell macht, wie er sie durch das Feuer
erwärmt, — und wie doch weder das Brot noch die Sonne, noch das Feuer etwas sind, als allein
insofern er durch Vermittlung dieser Werkzeuge seine Segnungen an uns austeilt, so nährt er auch
geistlich unseren Glauben durch die Sakramente, deren einziges Amt es ist, uns seine Verheißungen
sichtbar vor Augen zu stellen, ja, ihre Unterpfänder für uns zu sein. Und wie es unsere Pflicht
ist, an die übrigen Kreaturen, die durch Gottes Wohltätigkeit für unseren Gebrauch bestimmt sind
und durch deren Dienst er uns die Geschenke seiner Güte zukommen läßt, keinerlei Vertrauen zu
heften und sie nicht als Ursachen unseres Wohlergehens zu bewundern und zu preisen, so darf unser
Vertrauen sich auch nicht an die Sakramente hängen, und Gottes Ehre darf nicht auf sie übertragen
werden, sondern unser Glaube und unser Bekenntnis müssen das alles beiseite lassen und zu dem Geber
selbst, der uns die Sakramente wie auch alle Dinge geschenkt hat, emporsteigen!
IV,14,13 Endlich gibt es manche Leute, die (zur Bekräftigung der hier
abgelehnten Ansicht) einen Beweis vorbringen, der sich auf das Wort "Sakrament" gründet. Aber
dieser Beweis ist nicht stichhaltig. Dies Wort, so sagen sie, hat bei den anerkannten (römischen)
Schriftstellern vielerlei Bedeutungen; aber darunter ist nur eine, die zu den Zeichen paßt: das ist
nämlich jene, bei der "Sakrament" einen feierlichen Eidschwur bedeutet, wie ihn der Soldat dem
Feldherrn leistet, wenn er in den Kriegsdienst eintritt. Denn wie die neu eintretenden Soldaten mit
diesem Kriegseid ihre Treue an den Feldherrn binden und das Bekenntnis ablegen, daß sie nun
Soldaten sein wollen, so bekennen wir mit unseren Zeichen Christus als unseren Feldhauptmann und
bezeugen, daß wir unter seinen Zeichen Kriegsdienst tun. Jene Theologen fügen hier auch noch
Gleichnisse an, um damit die Sache klarer zu machen. Wie die Toga, so sagen sie, die Römer von den
Griechen unterschied, die ihren griechischen Mantel trugen, und wie sich zu Rom die Stände
untereinander durch die ihnen eigenen Zeichen unterschieden, der Angehörige einer senatorischen
Familie von dem Ritter durch den Purpur und die sichelförmige Verzierung an den Schuhen, der Ritter
wiederum von dem Mann aus dem gewöhnlichen Volke durch den Ring — so tragen auch wir unsere
Merkzeichen, die uns von den Weltleuten unterscheiden sollen. Nun geht es aber aus unserer obigen
Darlegung mehr als deutlich hervor, daß die Alten (d.h. die Kirchenväter), die den Zeichen den
Namen "Sakramente" beilegten, dabei durchaus keinen Bedacht darauf genommen haben, in welchem
Sinne die (nicht kirchlichen) lateinischen Schriftsteller dieses Wort gebrauchten, sondern daß sie,
wie es ihnen zuträglich erschien, diese neue Bedeutung an das Wort geheftet haben, um mit ihm
einfach auf die heiligen Zeichen hinzuweisen. Wollen wir unseren Scharfsinn tiefer dringen lassen,
so läßt es sich vielleicht so ansehen: wenn die Kirchenväter den Begriff "Sakrament" so
gewendet haben, daß er die genannte Bedeutung bekam, so sind sie dabei genau entsprechend verfahren
wie auch bei dem Wort "Glaube" (fides), so daß es den Sinn bekam, in dem es heute gebraucht
wird; denn "Glaube" bedeutet eigentlich die "Wahrheit" (= Wahrhaftigkeit) in der Erfüllung
von Zusagen; trotzdem aber haben die Alten unter Glauben die Gewißheit oder die sichere
Überzeugung verstanden, die man der Wahrheit selbst entgegenbrachte. In der gleichen Weise ist es
mit dem Wort "Sakrament" zugegangen: obwohl es eigentlich den Eidschwur bedeutet, mit dem sich
der Soldat seinem Feldherrn angelobt, hat man daraus einen Schwur des Feldherrn gemacht, kraft
dessen er die Soldaten in seine Schar aufnimmt. Denn durch die Sakramente verheißt der Herr, er
wolle unser Gott sein und wir sollten sein Volk sein. Aber wir lassen solch spitzfindige
Untersuchungen beiseite, da ich mit zureichend deutlichen Gründen bewiesen zu haben glaube, daß
die Alten mit ihrer Verwendung von "Sakrament" nichts anderes im Auge gehabt haben, als zum
Ausdruck zu bringen, daß die Sakramente Zeichen von heiligen und geistlichen Dingen sind. Die
Gleichnisse von den äußeren Standeszeichen, die jene Leute vorbringen, lassen wir zwar gelten,
aber wir dulden es nicht, daß sie das, was bei den Sakramenten an untergeordneter Stelle steht, zum
Ersten oder Einzigen an ihnen machen. Das Erste an den Sakramenten aber ist doch das, daß sie
unserem Glauben vor Gott dienen, und das Untergeordnete, daß sie unser Bekenntnis vor den Menschen
bezeugen. In dem zuletzt genannten Sinne haben die angeführten Gleichnisse ihre Geltung.
Unterdessen aber soll jenes erste bestehen bleiben; denn die Sakramente würden, wie wir sahen,
sonst bedeutungslos werden, wenn sie nicht Hilfsmittel für unseren Glauben wären und Anhängsel an
die Lehre, die dem gleichen Gebrauch und Zweck dienstbar sein sollen (wie diese).
IV,14,14 Umgekehrt müssen wir aber auf folgendes aufmerksam gemacht werden:
wie die zuletzt genannten Leute die Kraft der Sakramente schwächen und ihren Gebrauch voll und ganz
abschaffen, so stehen auf der entgegengesetzten Seite andere, die den Sakramenten ich weiß nicht
was für verborgene Kräfte andichten, von denen man nirgendwo zu lesen bekommt, daß sie von Gott
in sie hineingelegt wären. Durch diesen Irrtum werden einfältige und unerfahrene Leute gefährlich
betrogen, indem man sie einerseits Gottes Gaben zu suchen lehrt, wo sie durchaus nicht zu finden
sind, und sie andererseits nach und nach von Gott abzieht, so daß sie statt seiner Wahrheit lauter
Eitelkeit annehmen. So haben nämlich die Schulen der Klüglinge (der Scholastiker) in großer
Einmütigkeit die Lehre vertreten, die Sakramente des "neuen Gesetzes", das heißt die
Sakramente, die heutzutage bei der christlichen Kirche in Übung stehen, verschafften uns die
Rechtfertigung und gewährten uns die Gnade, wofern wir nicht eine "Todsünde" begingen und
dadurch ihrer Wirkung einen Riegel vorschöben.Wie todbringend und verderblich diese Meinung ist,
das läßt sich gar nicht in Worte fassen, und zwar um so mehr, als sie sich schon vor vielen
Jahrhunderten unter großem Schaden für die Kirche in einem wesentlichen Teil des Erdkreises
durchgesetzt hat. Jedenfalls ist sie entschieden teuflisch; denn indem sie eine Gerechtigkeit ohne
den Glauben verspricht, stürzt sie die Seelen kopfüber ins Verderben hinein, und da sie ferner die
Ursache der Gerechtigkeit von den Sakramenten herleitet, so verstrickt sie die armen Menschenseelen,
die schon an und für sich mehr als genug auf die Erde gerichtet sind, in den Aberglauben, daß sie
sich auf den Anblick einer leiblichen Sache statt auf Gott selbst verlassen. Wollte Gott, daß wir
dies beides nicht so genau aus Erfahrung wüßten! So wenig kann jedenfalls die Rede davon sein,
daß es etwa eines ausführlichen Beweises bedürfte! Was ist denn ein Sakrament, das man ohne den
Glauben empfängt, anders als das völlig sichere verderben der Kirche? Denn von dem Sakrament her
ist doch nichts außerhalb der Verheißung zu erwarten, und die Verheißung droht den Ungläubigen
nicht weniger den Zorn an, als sie den Gläubigen die Gnade darreicht. Wer also meint, es würde ihm
durch die Sakramente mehr zuteil, als was ihm im Worte Gottes dargeboten wird und was er dann mit
wahrem Glauben ergreift, der betrügt sich selbst. Daraus ergibt sich dann auch ein Zweites: die
Zuversicht auf das Heil hängt nicht von der Teilnahme am Sakrament ab, als ob darin die
Rechtfertigung läge; denn wir wissen, daß die Rechtfertigung allein in Christus beruht und uns
nicht weniger durch die Predigt des Evangeliums als durch die Versiegelung mitgeteilt wird, die uns
die Sakramente gewähren, und daß sie auch ohne solche Versiegelung vollkömmlich bestehen kann.
Insoweit ist es wahr, was auch Augustin schreibt: "Die unsichtbare Heiligung kann ohne das
sichtbare Zeichen sein, und auf der anderen Seite kann das sichtbare Zeichen ohne die wahre
Heiligung sein" (Fragen zum Heptateuch III, 84). "Denn die Menschen ziehen", wie Augustin
ebenfalls an anderer Stelle sagt, "Christus bisweilen soweit an, daß sie die Sakramente
empfangen, bisweilen auch soweit, daß ihr Leben geheiligt wird. Das erstere kann nun Guten und
Bösen gemeinsam sein; das letztere dagegen ist den Guten und Frommen (allein) eigen" (Von der
Taufe gegen die Donatisten V,24,34).
IV,14,15 Daher kommt auch — wenn man sie recht versteht — die von dem
nämlichen Augustin häufig vermerkte Unterscheidung zwischen dem Sakrament und der von dem
Sakrament bezeichneten Sache (res sacramenti). Denn diese gibt nicht nur zu verstehen, daß Bild und
Wahrheit vom Sakrament miteinander umschlossen werden, sondern auch, daß sie nicht so sehr
miteinander zusammenhängen, daß sie nicht getrennt werden könnten, und daß auch in der
Verbundenheit selbst stets die Sache von dem Zeichen unterschieden werden muß, damit wir nicht auf
das eine übertragen, was dem anderen eigen ist. Von der Trennung (von Zeichen und Sache) spricht
er, wenn er schreibt, die Sakramente bewirkten das, was sie abbilden, allein in den Auserwählten.
Ebenso spricht er von der Trennung, indem er sich über die Juden folgendermaßen ausläßt: "Obgleich
die Sakramente allen gemeinsam waren, so war doch die Gnade nicht allen gemein — und sie ist doch
die Kraft der Sakramente! Ebenso ist auch heute das Bad der Wiedergeburt (Tit. 3,5) allen gemeinsam;
aber die Gnade selbst, vermöge deren die Glieder Christi mit ihrem Haupte wiedergeboren werden, ist
nicht allein gemeinsam" (zu Ps. 77,2). Wiederum schreibt er an anderer Stelle über das Abendmahl
des Herrn: "Auch wir empfangen heute eine sichtbare Speise; aber das Sakrament ist etwas anderes
als die Kraft des Sakraments. Wie kommt es, daß viele das Sakrament vom Altar empfangen und doch
sterben, ja, daß sie durch den Empfang des Sakraments sterben? Denn auch der Bissen, den der Herr
dem Judas gab,wurde diesem zum Gift, und zwar nicht, weil Judas etwas Böses erhalten hätte,
sondern weil er als Böser das Gute übel empfing" (Predigten zum Johannesevangelium 26,11). Etwas
nachher schreibt er: "Das Sakrament, das diese Sache meint, nämlich die Einheit am Leibe und
Blute Christi, wird mancherorten alle Tage, mancherorten auch in bestimmten Zeitabständen auf dem
Tisch des Herrn bereitet, und vom Tisch empfangen es einige zum Leben, andere zum Verderben. Die
Sache selbst aber, deren Sakrament (und Zeichen) es ist, gereicht allen, die ihrer teilhaftig
geworden sind, zum Leben und keinem zum Verderben" (Predigten zum Johannesevangelium 26,15). Etwas
vorher hatte er gesagt: "Wer davon gegessen hat, der wird nicht sterben — das ist aber der, der
zu der Kraft des Sakraments gehört, nicht zum sichtbaren Sakrament, der es innerlich ißt, nicht
äußerlich, der es mit dem Herzen ißt, und nicht der, der es mit den Zähnen zerdrückt"
(Predigten zum Johannesevangelium 26,12). Hier bekommen wir allenthalben zu hören: das Sakrament
wird durch die Unwürdigkeit dessen, der es empfängt, dergestalt von seiner Wahrheit abgetrennt,
daß nichts übrigbleibt als ein leeres und nutzloses Bild. Damit man nun nicht ein Zeichen hat, das
der Wahrheit entledigt ist, sondern vielmehr die Sache mitsamt dem Zeichen, muß man das Wort, das
darin eingeschlossen ist, im Glauben ergreifen. In dem Maße also, als man durch die Sakramente in
der Gemeinschaft mit Christus weiterkommt, wird man aus ihnen Nutzen ziehen.
IV,14,16 Wenn diese Darlegungen um ihrer Kürze willen noch zu unklar sind,
so will ich sie noch mit mehr Worten ausführen. Ich behaupte: Christus ist die Materie oder, wenn
man es so lieber will, die Substanz aller Sakramente; denn all ihren Bestand haben sie in ihm, und
außer ihm verheißen sie nichts. Um so weniger ist der Irrtum des Petrus Lombardus zu ertragen, der
die Sakramente ausdrücklich für die Ursache der Gerechtigkeit und Seligkeit erklärt, von denen
sie (doch tatsächlich) Teile sind (Sentenzen IV,1,5). Wir sollen daher billigerweise alle Ursachen
fahrenlassen, die sich der Verstand des Menschen erdichtet, und uns bei dieser einzigen (nämlich
bei Christus) festhalten lassen. Soweit uns also der Dienst der Sakramente dazu verhilft, daß
einerseits die wahre Erkenntnis Christi in uns erhalten, gefestigt und gemehrt werde, und wir
andererseits ihn völliger besitzen und seine Reichtümer genießen, soweit geht ihre Wirkung an
uns. Das geschieht aber, wenn wir das, was uns in den Sakramenten dargeboten wird, in wahrem Glauben
annehmen. Bringen es nun also die Gottlosen, so wird man fragen, mit ihrer Undankbarkeit fertig,
daß Gottes Anordnung ihre Geltung einbüßt und zunichte wird? Ich antworte darauf: was ich gesagt
habe, ist nicht so zu verstehen, als ob die Kraft oder die Wahrheit des Sakraments von dem Zustand
oder auch von dem Gutdünken dessen abhängig wäre, der es empfängt. Denn was Gott eingerichtet
hat, das bleibt fest bestehen und behält seine Natur bei, wie sehr sich auch die Menschen
verändern mögen. Aber Anbieten und Annehmen sind zwei verschiedene Dinge, und deshalb steht dem
nichts entgegen, daß das Merkzeichen, das durch das Wort des Herrn geheiligt ist, mit der Tat ist,
was es dem Namen nach sein soll, und daß es seine Kraft behält — während doch aus ihm für
einen nichtsnutzigen und gottlosen Menschen keinerlei Nutzen erwächst. Aber diese Frage löst
Augustin mit wenigen Worten tadellos; er sagt: "Wenn du es fleischlich empfängst, so hört es
nicht auf, geistlich zu sein — aber für dich ist es nicht geistlich." Wie er aber an den oben
angegebenen Stellen darlegt, daß das Sakrament eine Sache ohne jeglichen Belang ist, wenn es von
seiner Wahrheit getrennt wird (vgl. Predigten zum Johannesevangelium 26,11f.15; vorige Sektion), so
macht er anderwärts darauf aufmerksam, daß auch bei der Verbindung von Zeichen und Sache eine
Unterscheidung notwendig ist, damit wir an dem äußeren Zeichen nicht allzu fest hängen bleiben.
"Wie es von knechtischer Schwäche zeugt", sagt er, "dem Buchstaben anzuhängen und Zeichen
für die Dinge zu nehmen, so ist es auch ein Zeichen von übel umschweifendem Irrtum, die Zeichen
nutzlos auszulegen" (Von der christlichen Unterweisung III,9). Er nennt zwei Fehler, die es zu
vermeiden gilt; der eine besteht darin, daß wir die Zeichen so auffassen, als ob sie umsonst
gegeben wären, und dann in unserer Bosheit ihre verborgenen Bedeutungen verkleinern oder
herabsetzen und dadurch bewirken, daß sie uns keine Frucht zutragen; den anderen Fehler begehen wir
dann, wenn wir unsere Sinne nicht über das sichtbare Zeichen hinaus in die Höhe erheben und damit
auf das Zeichen den Lobpreis für die Güter übertragen, die uns einzig und allein von Christus
gewährt werden, und zwar durch den Heiligen Geist, der uns Christi selbst teilhaftig macht. Dies
Werk (des Heiligen Geistes) geschieht nun unter Beihilfe der äußeren Zeichen; werden diese aber,
wo sie uns doch zu Christus einladen, in eine andere Richtung gedreht, so wird ihr gesamter Nutzen
schmachvoll abgeschafft.
IV,14,17 Deshalb muß es fest stehen bleiben, daß die Sakramente keine
andere Aufgabe haben als das Wort Gottes. Diese Aufgabe besteht darin, uns Christus darzubieten und
vor Augen zu stellen und in ihm alle Schätze der himmlischen Gnade. Die Sakramente gewähren und
nutzen uns aber nichts, wenn sie nicht im Glauben empfangen werden. Ich will ein Beispiel bilden:
man kann Wein oder Wasser oder sonst irgendeine Flüssigkeit reichlich ausgießen, so wird doch
alles verfließen und verlorengehen, wenn die Mündung des Gefäßes nicht offen ist, und das
Gefäß selbst wird dann wohl um und um übergossen sein, aber doch leer und hohl bleiben. Außerdem
müssen wir uns noch hüten, nicht in einen anderen Irrtum zu verfallen, der dem eben genannten
ähnlich ist: dazu könnten uns nämlich die ein wenig zu großartigen Äußerungen verführen, die
bei den Alten geschrieben stehen, um die Würde der Sakramente zu verherrlichen. Dieser Irrtum
würde darin bestehen, daß wir der Meinung wären, an die Sakramente sei irgendeine verborgene
Kraft geknüpft oder angeheftet, vermöge deren sie uns aus sich selbst heraus die Gnadengaben des
Heiligen Geistes zuteil werden lassen könnten, so wie man Wein im Milchkrug reicht. Tatsächlich
aber ist ihnen von Gott nur dies eine Amt aufgetragen worden, uns Gottes Freundlichkeit gegen uns zu
bezeugen und zu bekräftigen, und sie können uns nicht weiter von Nutzen sein als allein, wenn der
Heilige Geist hinzutritt, der unseren Verstand und unser Herz öffnet und für solches Zeugnis
auffassungsfähig macht. Da leuchten dann auch die mannigfaltigen und verschiedenen Gaben Gottes
strahlend auf. Denn die Sakramente sind, wie ich bereits oben andeutete, für uns von Gott her das,
was von den Menschen her die Boten fröhlicher Geschehnisse sind oder die Pfänder bei der
Bekräftigung von Bündnissen; denn sie gewähren uns zwar aus sich selbst heraus nicht irgendwelche
Gnade, sondern machen das, was uns aus Gottes Freigebigkeit geschenkt ist, bekannt, weisen darauf
hin und, da sie ja Pfänder und Kennzeichen sind, bekräftigen sie es bei uns. Der Heilige Geist,
den die Sakramente nicht etwa unterschiedslos allen zutragen, sondern den der Herr den Seinen
insonderheit zuteil werden läßt, der ist es, der Gottes Gnadengaben mit sich bringt, der den
Sakramenten in uns Raum schafft, und der es bewirkt, daß sie Frucht tragen. Freilich leugnen wir
nicht, daß Gott selbst mit der wirksamsten Kraft seines Geistes seiner Stiftung zur Seite steht,
damit die von ihm verordnete Austeilung der Sakramente nicht unfruchtbar und eitel ist. Aber wir
behaupten doch, daß die innerliche Gnade des Geistes, die ja von dem äußerlichen Amt
unterschieden ist, dementsprechend auch für sich beachtet und bedacht werden muß. Gott gewährt
also in Wahrheit alles, was er in den Zeichen verheißt und bildlich darstellt, und die Zeichen
bleiben nicht ohne Wirkung, damit es sich erweist, daß ihr Geber wahrhaftig und treu ist. Es geht
hier nur um die Frage, ob Gott aus seiner eigenen oder, wie man sagt, aus der ihm innewohnenden
Kraft heraus wirkt — oder ob er den äußeren Merkzeichen seine Stellvertretung überläßt. Wir
behaupten nun aber, daß er, welche Werkzeuge er auch anwenden mag, doch von seinem alles
begründenden Wirken keineswegs Abstand nimmt. Wenn man in dieser Weise über die Sakramente lehrt,
dann wird ihre Würde herrlich gepriesen, ihr Gebrauch deutlich angezeigt, ihr Nutzen überreich
verherrlicht – und zugleich bei dem allem das beste Maß innegehalten, so daß ihnen nichts
beigelegt wird, das ihnen nicht billig zukommt, und ihnen auch andererseits nichts abgesprochen
wird, was ihnen gehört. Damit wird auch jenes Hirngespinst abgetan, bei dem die Ursache der
Rechtfertigung und die Kraft des Heiligen Geistes in die Elemente wie in Gefäße oder Wagen
eingeschlossen wird — und es wird zugleich jene vornehmste Kraft der Sakramente, die andere Leute
beiseite gelassen haben, ausdrücklich dargelegt. Hier müssen wir auch noch bemerken, daß das, was
der Diener (am Wort) in seiner äußerlichen Handlung abbildet und bezeugt, von Gott selbst im
Inneren gewirkt wird, damit nicht das, was er sich für sich allein vorbehält, auf einen
sterblichen Menschen übertragen werde. Darauf macht in verständiger Weise auch Augustin
aufmerksam; er sagt: "Wie kann es kommen, daß Mose heiligt — und auch Gott? Mose tut es nicht
an Gottes Statt. Nein, er handelt mit sichtbaren Sakramenten durch seinen Dienst, Gott aber in
unsichtbarer Gnade durch den Heiligen Geist, und darin liegt auch die ganze Frucht der sichtbaren
Sakramente. Denn was sollen die wohl nützen ohne solche Heiligung durch die unsichtbare Gnade?"
(Fragen zum Heptateuch III,84).
IV,14,18 Der Begriff "Sakrament" umfaßt in dem Sinne, wie wir ihn
bisher dargelegt haben, allgemein sämtliche Zeichen, die Gott je den Menschen aufgetragen hat, um
sie der Wahrheit seiner Verheißungen gewiß und sicher zu machen. Zuweilen haben diese Zeichen nun
nach seinem Willen in natürlichen Dingen bestanden, zuweilen hat er sie auch in Wundern an den Tag
gebracht. Beispiele für die erste Art sind unter anderem folgende Geschehnisse. Gott gab dem Adam
und der Eva den "Baum des Lebens" zum Unterpfand der Unsterblichkeit, damit sie sich auf solche
Unsterblichkeit unbekümmert Hoffnung machten, solange sie von der Frucht dieses Baumes aßen (Gen.
2,9; 3,22). Für Noah und seine Nachkommen stellte er den Regenbogen als ein Denkzeichen dafür auf,
daß er fernerhin die Erde nicht wieder durch eine Sintflut verwüsten wollte (Gen. 9,13). Diese
Zeichen sind für Adam und Noah Sakramente gewesen. Nicht, daß der Baum ihnen die Unsterblichkeit
gewährt hätte, die er sich doch selbst nicht zu geben vermochte, oder daß der Regenbogen, der
bloß ein Widerschein des Sonnenscheins an gegenüberliegenden Wolken ist, in der Lage gewesen
wäre, die Wassermassen zurückzuhalten. Nein, es waren Sakramente, weil beide ein Zeichen trugen,
das durch Gottes Wort in sie eingegraben war, damit sie Beweise und Siegel der Bundschlüsse Gottes
wären. Auch war zuvor der Baum ein Baum und der Bogen ein Bogen; als sie aber von Gottes Wort
gezeichnet waren, da wurde ihnen eine neue Gestalt zuteil, so daß sie nun anfingen, etwas zu sein,
was sie vorher nicht gewesen waren. Damit nicht jemand meint, dies werde umsonst ausgesprochen, so
ist der Bogen auch heute noch, für uns, ein Zeuge des Bundes, den der Herr mit Noah geschlossen
hat, und sooft wir ihn anschauen, lesen wir an ihm die Verheißung Gottes, daß die Erde nie durch
eine Sintflut untergehen soll. Wenn also irgendein Scheinphilosoph die Einfalt unseres Glaubens
verlachen will und dazu die Behauptung aufstellt, daß solche Vielheit von Farben auf natürliche
Weise aus dem Widerschein von Strahlen und einer gegenüberliegenden Wolke entstünde, so wollen wir
das wohl gelten lassen — aber wir lachen nun unsererseits über seinen Stumpfsinn, der Gott nicht
als den Herrn und Lenker der Natur erkennt, der alle Elemente nach seinem Ermessen zur
Dienstleistung an seiner Herrlichkeit benutzt. Wenn er der Sonne, den Sternen, der Erde und den
Steinen solche Denkzeichen aufgeprägt hätte, dann wären sie alle für uns Sakramente. Denn
weshalb ist rohes und gemünztes Silber nicht von gleichem Werte, obgleich es doch (in beiden
Fällen) das nämliche Metall ist? Eben deshalb nicht, weil das rohe Silber nichts besitzt als seine
Natur, das Silber dagegen, das mit dem amtlichen Prägestempel geschlagen ist, eine Münze wird und
eine neue Bewertung empfängt. Und dann sollte Gott nicht in der Lage sein, seine Geschöpfe mit
seinem Wort zu zeichnen, so daß sie zu Sakramenten werden, während sie zuvor bloße Elemente
waren? Beispiele für die zweite Gruppe von Zeichen waren es, als Gott dem Abraham an einem
rauchenden Ofen einen Feuerschein zeigte (Gen. 15,17), als er, um dem Gideon den Sieg zu verheißen,
das Fell mit Tau befeuchtete, während die Erde trocken blieb, und wiederum die Erde mit Tau
bedeckte, während das Fell unberührt blieb (Richt. 6,37f.), und als er den Schatten der Sonnenuhr
zehn Strich rückwärts gehen ließ, um dem Hiskia die Verheißung zu geben, daß er gesund werden
sollte (2. Kön. 20,9-11; Jes. 38,7). Da diese Ereignisse geschahen, um der Schwachheit des Glaubens
dieser Menschen Hilfe und Festigung zu verleihen, so waren auch sie Sakramente.
IV,14,19 Jedoch ist es die Aufgabe der hier geführten Erörterung, in
besonderer Weise auf jene Sakramente einzugehen, die nach dem Willen des Herrn in seiner Kirche in
regelmäßigem Gebrauch stehen sollen, um seine Diener und Knechte zu einem Glauben und zum
Bekenntnis dieses einen Glaubens heranzufordern. "Denn" — um Augustins Worte zu gebrauchen —
"die Menschen können zu keinerlei Religion, sie sei nun wahr oder falsch, zusammenwachsen, wenn
sie nicht durch ein gemeinsames Teilhaben an sichtbaren Zeichen miteinander verbunden werden"
(Gegen den Manichäer Faustus XIX,11). Da unser herrlicher Vater also diese Notwendigkeit vorsah, so
hat er seit Anbeginn für seine Knechte bestimmte Übungen der Frömmigkeit eingerichtet. Diese hat
dann der Satan auf gottlose und abergläubische Gottesdienste übertragen und damit in vielfältiger
Weise entstellt und verdorben. Hierher kommen die Handlungen, mit denen die Heiden in ihre heiligen
Dinge eingeweiht wurden, und auch die übrigen entarteten Gebräuche, die zwar von Irrtum und
Aberglauben erfüllt, aber doch zugleich auch selbst ein Zeichen dafür waren, daß die Menschen bei
dem Bekenntnis einer Religion solcher Zeichen nicht entraten können. Aber weil sich diese Bräuche
nicht auf das Wort Gottes stützten und auch keine Beziehung zur Wahrheit fanden, die doch allen
Zeichen als Ziel vorschweben muß, so sind sie nicht würdig, Erwähnung zu finden, wo man der
heiligen Merkzeichen gedenkt, die von Gott eingerichtet und von ihrem Fundament nicht abgewichen
sind, das heißt davon, daß sie Hilfsmittel für die wahre Frömmigkeit darstellen sollten. Diese
bestehen nun nicht in einfachen Zeichen, wie es der Regenbogen und der Baum (des Lebens) waren,
sondern in Zeremonien; oder, wenn man es so lieber will: die Zeichen, die hier gegeben werden, sind
Zeremonien. Und ebenso wie sie nach unserer obigen Darlegung von dem Herrn aus Zeugnisse der Gnade
und des Heils sind, so sind sie wiederum von uns aus Merkzeichen unseres Bekenntnisses, mit denen
wir öffentlich auf Gottes Namen schwören und unsererseits unsere Treue an ihn binden. Es ist daher
treffend, wenn Chrysostomus diese Zeichen an einer Stelle (vertragliche) Versprechungen nennt, in
denen uns einerseits Gott mit sich verbündet und wir uns andererseits zur Reinheit und Heiligkeit
unseres Lebens verpflichten. Denn es wird ja hier tatsächlich zwischen Gott und uns eine
gegenseitige Vertragsbindung aufgerichtet. Wie hiernämlich der Herr verheißt, daß er alles
durchstreichen und tilgen will, was wir uns durch unsere Verfehlungen an Schuld und Strafe zugezogen
haben, und wie er uns in seinem eingeborenen Sohne mit sich versöhnt, so leisten wir ihm
andererseits durch dies Bekenntnis die Verpflichtung zum Trachten nach Frömmigkeit und Unschuld.
Man kann also mit gutem Grunde sagen, daß die Sakramente solche Zeremonien sind, durch die Gott
sein Volk zum ersten darin üben will, den Glauben im Inneren zu nähren, zu erwecken und zu
bekräftigen, und zum zweiten, seine Religion auch vor den Menschen zu bekennen.
IV,14,20 Diese Sakramente waren auch je nach den verschiedenen
Zeitumständen verschieden, gemäß der Ordnung, in der es dem Herrn gefallen hat, sich bald auf die
eine, bald auf die andere Weise den Menschen kundzugeben. So ist dem Abraham und seiner
Nachkommenschaft die Beschneidung aufgetragen worden (Gen. 17,10), und zu ihr kamen dann später
Reinigungen, Opfer und andere Gebräuche auf Grund des mosaischen Gesetzes hinzu (Lev. 11-15; Lev.
1-10). Dies waren die Sakramente der Juden bis zum Kommen Christi. Durch das Kommen Christi sind sie
abgeschafft worden, und nun wurden zwei Sakramente eingerichtet, die heute bei der christlichen
Kirche in Übung stehen, nämlich die Taufe und das Abendmahl des Herrn (Matth. 29,19; 26,26-28).
Ich spreche nun hier von den Sakramenten, die dazu eingerichtet sind, von der gesamten Kirche geübt
zu werden. Denn ich lasse es zwar nicht ungern gelten, daß man auch die Handauflegung, mit der die
Diener der Kirche in ihr Amt eingewiesen werden, als Sakrament bezeichnet, aber ich zähle sie doch
nicht zu den ordentlichen Sakramenten. Welche Bedeutung man aber den übrigen "Sakramenten"
geben soll, die man allgemein als solche aufzählt, das werden wir bald sehen. Allerdings bezogen
sich auch jene alten Sakramente auf den gleichen Richtpunkt, dem heute die unsrigen dienstbar sind:
sie sollten nämlich zu Christus führen und geradezu bei der Hand zu ihm hinleiten, oder besser:
sie sollten ihn gleich Bildern vergegenwärtigen und ihn kundmachen, damit er erkannt würde. Denn
wir haben ja schon zuvor dargetan, daß die Sakramente gewissermaßen Siegel darstellen, mit denen
die Verheißungen Gottes versiegelt werden, und es ist ferner völlig sicher, daß den Menschen nie
irgendeine Verheißung Gottes zuteil geworden ist als allein in Christus (2. Kor. 1,20); sollen uns
also die Sakramente von irgendeiner Verheißung Gottes Kunde geben, so müssen sie uns notwendig
Christus zeigen! Hier ist jenes himmlische Urbild der Hütte und des im Gesetz vorgeschriebenen
Gottesdienstes zu nennen, das dem Mose auf dem Berge vor Augen gehalten wurde (Ex. 25,9.40; 26,30).
Zwischen den Sakramenten des Alten und denjenigen des Neuen Bundes besteht nur der eine Unterschied,
daß jene den verheißenen Christus andeuteten, als er noch erwartet wurde, diese dagegen Christus
als den bezeugen, der uns bereits gewährt und offenbart ist.
IV,14,21 Wenn diese Dinge Stück für Stück und in ihren Einzelheiten
erklärt sind, so werden sie viel deutlicher werden. Die Beschneidung war für die Juden ein
Merkzeichen, das sie darauf aufmerksam machen sollte, daß alles, was aus dem Samen des Menschen
hervorgeht, das heißt die gesamte Natur des Menschen, verderbt ist und des Beschneidens bedarf;
zudem war sie ein Beweis und ein Erinnerungszeichen, mit dem sie sich in der Verheißung stärken
sollten, die dem Abraham gegeben war, der Verheißung von dem gesegneten Samen, in dem "alle
Völker auf Erden gesegnet werden" sollten (Gen. 22,16), und von dem sie ja auch für sich selbst
ihren Segen erwarten durften. Dieser heilbringende Same war aber nun, wie wir von Paulus gelehrt
werden, Christus (Gal. 3,16), in dem allein sie wiederzuerlangen hofften, was sie in Adam verloren
hatten. Die Beschneidung war also für sie das, was sie nach der Lehre des Paulusfür Abraham
gewesen ist, nämlich ein "Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens" (Röm. 4,11), das heißt: ein
Siegel, vermöge dessen sie gewisser darin bestärkt werden sollten, daß ihnen ihr Glaube, mit dem
sie jenen Samen erwarteten, von Gott für Gerechtigkeit gerechnet wurde. Wir werden aber den
Vergleich zwischen Beschneidung und Taufe an anderer Stelle bei besserer Gelegenheit weiter
verfolgen. Waschungen und Reinigungen führten den Menschen des Alten Bundes ihre Unreinheit,
Unflätigkeit und Beflecktheit vor Augen, mit der sie in ihrer Natur, besudelt waren; sie sagten
ihnen aber auch ein anderes Bad zu, durch das all ihr Schmutz abgewischt und fortgewaschen werden
sollte (Hebr. 9,10.14). Dies neue Bad nun war Christus, und durch sein Blut reingewaschen (1. Joh.
1,7; Apk. 1,5) tragen wir seine Reinheit vor Gottes Angesicht, damit es all unsere Befleckung
bedeckt. Die Opfer überführten die Alten von ihrer Ungerechtigkeit und lehrten sie zugleich, daß
irgendeine Genugtuung erforderlich sei, kraft deren dem Urteil Gottes Genüge geleistet würde. Sie
erfuhren hier also, daß ein oberster Priester kommen werde, ein Mittler zwischen Gott und den
Menschen, der Gott durch das Vergießen seines Blutes und durch die Darbietung eines Opfers, das zur
Vergebung der Sünden hinreichte, Genugtuung verschaffte. Dieser oberste Priester war Christus
(Hebr. 4,14; 5,5; 9,11): er vergoß sein eigenes Blut, er war selbst das Opfer; denn er erwies sich
dem Vater gehorsam bis in den Tod (Phil. 2,8) und hat durch diesen Gehorsam den Ungehorsam des
Menschen abgetan, der Gottes Zorn hervorgerufen hatte (Röm. 5,19).
IV,14,22 Was nun unsere (heutigen) Sakramente betrifft, so bieten sie uns
Christus um so klarer dar, als er ja den Menschen auch näher offenbart ist, seitdem er vom Vater in
Wahrheit so dargezeigt worden ist, wie er verheißen war. Denn die Taufe bezeugt uns, daß wir
gereinigt und abgewaschen sind, und das Heilige Abendmahl, daß wir erlöst sind. Im Wasser wird die
Abwaschung bildlich dargestellt, im Blute die Genugtuung. Dies beides findet man in Christus, der,
wie Johannes sagt, gekommen ist "mit Wasser und Blut" (1. Joh. 5,6), das heißt: der gekommen
ist, um zu reinigen und zu erlösen. Dafür ist auch der Geist Gottes Zeuge. Ja, es sind drei, die
es zusammen bezeugen, das Wasser, das Blut und der Geist (1. Joh. 5,7f.). Im Wasser und im Blute
haben wir das Zeugnis unserer Reinigung und unserer Erlösung, der Geist aber gibt uns als der
oberste Zeuge die Gewißheit des Glaubens an solches Zeugnis. Dies erhabene Geheimnis ist uns
herrlich (in jenem Geschehnis) am Kreuze Christi vor Augen gestellt, als Wasser und Blut aus seiner
heiligen Seite flossen (Joh. 19,34), die Augustin aus diesem Grunde auch mit Recht den Brunnquell
unserer Sakramente genannt hat (Predigten zum Johannesevangelium 120,2; zu Psalm 40,10; zu Psalm
126,7; zu Psalm 138,2; Predigt 5,3). Von diesen unseren Sakramenten aber müssen wir noch ein wenig
ausführlicher sprechen. Daß sich hier auch die Gnade des Geistes reichlicher bezeugt (als bei den
alten Sakramenten), das ist, wenn man Zeit mit Zeit vergleicht, keinem Zweifel unterworfen. Denn das
gehört zur Herrlichkeit des Reiches Christi, wie wir es aus vielen Stellen, insbesondere aus dem
siebenten Kapitel des Evangeliums Johannis entnehmen (Joh. 7,38f.). In diesem Sinne muß man auch
das Wort des Paulus verstehen, unter dem Gesetz hätten "Schatten" bestanden, in Christus
dagegen sei der. "Körper" (Kol. 2,17). Er hat an dieser Stelle nicht die Absicht, die Zeugnisse
der Gnade, mit denen sich Gott vorzeiten den Vätern gegenüber als der Wahrhaftige erweisen wollte,
genau wie heute uns gegenüber in der Taufe und im Heiligen Abendmahl, ihrer Wirkung zu entledigen,
sondern er will im Wege des Vergleichs das rühmen, was uns gegeben ist, damit sich niemand darüber
verwundert, daß durch Christi Kommen die Zeremonien des Gesetzes abgeschafft sind.
IV,14,23 Die scholastische Lehrmeinung aber — um auch die noch im
Vorbeigehen zu berühren —, nach der zwischen den Sakramenten des "alten" und denen des "neuen
Gesetzes" ein so großer Unterschied bestehen soll, als ob jene die Gnade Gottes bloß angedeutet
hätten, diese sie dagegen als gegenwärtig darböten, ist voll und ganz zu verwerfen. Denn wenn
Paulus lehrt, die Väter hätten mit uns die gleiche geistliche Speise gegessen, und wenn er
erläuternd erklärt, diese Speise sei Christus (1. Kor. 10,5), so spricht er von dem Sakrament des
Alten Bundes ebenso machtvoll wie von den heutigen. Wer wollte es auch wagen, jenes Zeichen für
inhaltlos zu erklären, das doch den Juden die wahre Gemeinschaft mit Christus darbot? Auch streitet
der Stand der Erörterung, die Paulus an dieser Stelle führt, völlig klar für uns. Denn Paulus
will verhindern, daß es jemand im Vertrauen auf eine wesenlose Erkenntnis Christi, auf den leeren
Namen des Christentums und auf die äußerlichen Zeichen wagt, Gottes Urteil zu verachten. Dazu
bringe er die Beweise göttlicher Strenge vor, die sich an den Juden sehen lassen: wir sollen eben
wissen, daß die gleichen Strafen, die sie haben über sich ergehen lassen müssen, auch uns drohen,
wenn wir uns den gleichen Lastern hingeben. Damit nun aber der Vergleich paßte, mußte er zeigen,
daß hinsichtlich der Güter, deren wir uns nach seiner Weisung nicht fälschlich rühmen sollen,
zwischen uns und den Juden keine Ungleichartigkeit besteht. Daher erklärt er zunächst, daß sie
uns in den Sakramenten gleich sind, und läßt uns nicht ein Stückchen eines Vorrechts übrig, das
uns etwa zu der Hoffnung Mut machen könnte, wir würden (im Falle solcher Verachtung des Gerichts
Gottes) ungestraft bleiben. Auch dürfen wir ja unserer Taufe nicht mehr zuschreiben, als Paulus an
anderer Stelle der Beschneidung beigelegt hat, indem er sie ein "Siegel der Gerechtigkeit des
Glaubens" nennt (Röm. 4,11). Alles also, was uns heute in den Sakramenten dargeboten wird, das
empfingen vorzeiten die Juden in den ihrigen, nämlich Christus mit seinen geistlichen Reichtümern.
Die Kraft, die unsere Sakramente haben, die empfanden sie auch in den ihrigen, nämlich, daß sie
ihnen als Siegel des göttlichen Wohlwollens gegen sie dienten, zur Hoffnung auf die ewige
Seligkeit. Wären die Scholastiker geschickte Ausleger des Briefes an die Hebräer gewesen, so
wären sie nicht dermaßen in Wahngebilde verfallen; tatsächlich aber haben sie nun in diesem Brief
gelesen, mit den Zeremonien des Gesetzes seien die Sünden nicht gesühnt worden, ja, die alten
Schatten hätten keinerlei Bedeutung für die Gerechtigkeit (Hebr. 10,1), und dann haben sie den
Vergleich, der dort zur Verhandlung steht, beiseite gelassen, nur den einen Satz an sich gerissen,
daß das Gesetz seinen Dienern aus sich heraus keinen Nutzen gebracht hat — und darüber die
Meinung gewonnen, es habe sich da einfach um Bilder, gehandelt, die an Wahrheit leer gewesen wären.
Die Absicht des Apostels dagegen ist es, dem Zeremonialgesetz jeglichen Wert abzusprechen, bis man
zu Christus kommt, auf dem allein seine ganze Wirkkraft beruht.
IV,14,24 Die Scholastiker halten uns aber die Worte entgegen, die bei Paulus
über die Beschneidung des Buchstabens zu lesen stehen, nämlich, daß sie vor Gott keinen Wert
habe, keinen Nutzen bringe und eitel sei (Röm. 2,25; 1. Kor. 7,19; Gal. 6,15). Solche Aussagen
scheinen die Beschneidung doch tief unter unsere Taufe hinabzudrücken. Ich antworte darauf: nein,
durchaus nicht. Denn das nämliche hätte mit Recht auch von der Taufe gesagt werden können. Ja, es
wird tatsächlich von ihr gesagt, und zwar zuerst von Paulus selbst, indem er darlegt, daß sich
Gott um die äußerliche Abwaschung, durch die wir unsere Aufnahme in die Religion empfangen,
keineswegs kümmert, wenn nicht unser Herz innerlich gereinigt wird und auch bis zum Äußersten in
solcher Reinheit verharrt (1. Kor.10,5). Zum Zweiten wird es auch von Petrus ausgesprochen, indem
dieser bezeugt, daß die Wahrheit der Taufe nicht in der äußerlichen Abwaschung liegt, sondern in
dem Zeugnis eines guten Gewissens (1. Petr. 3,21). Aber — so wendet man ein — Paulus scheint
doch außerdem an anderer Stelle die mit der Hand vollzogene Beschneidung voll und ganz zu
verachten, indem er sie (zu ihrem Nachteil) mit der Beschneidung Christi vergleicht (Kol. 2,11). Ich
antworte darauf, daß auch an dieser Stelle der Würde der Beschneidung keinerlei Eintrag geschieht.
Paulus streitet hier gegen solche Leute, die die Beschneidung gleichsam als notwendig verlangten,
während sie doch bereits abgeschafft war. Daher ermahnt er die Gläubigen, sie sollten die alten
Schatten fahrenlassen und fest bei der Wahrheit beharren. Jene Lehrmeister, so sagt er, drängen
darauf, daß eure Leiber beschnitten werden. Ihr aber seid geistlich beschnitten, nach Seele und
Leib. Ihr habt also die Offenbarung der Sache — und die ist weit wichtiger als der Schatten! Nun
hätte aber demgegenüber jemand einwenden können: wenn sie auch die Sache hätten, so sei deshalb
doch das Bild nicht zu verachten; denn auch bei den Vätern hätte es jene Ablegung des alten
Menschen gegeben, von der das Bild redete, und trotzdem sei für sie die äußerliche Beschneidung
nicht überflüssig gewesen. Diesem Einwand kommt Paulus zuvor, indem er gleich hinzufügt, die
Kolosser seien durch die Taufe mit Christus begraben (Kol. 2,12). Damit gibt er zu verstehen, daß
die Taufe heute für die Christen das darstellt, was für die Alten die Beschneidung war, und daß
deshalb die Beschneidung den Christen nicht auferlegt werden kann, ohne daß der Taufe Unrecht
widerfährt.
IV,14,25 Weit schwieriger zu lösen ist dagegen die Frage, die uns durch
eine dann folgende Stelle aufgegeben wird, die ich auch bereits angeführt habe; da heißt es
nämlich, alle jüdischen Zeremonien seien "Schatten von dem" gewesen, "das zukünftig war",
der "Körper selbst" dagegen sei "in Christo" (Kol. 2,17). Bei weitem am schwersten
klarzustellen ist jedoch das, was in vielen Kapiteln des Briefes an die Hebräer verhandelt wird: da
lesen wir, das Blut der Tiere habe die Gewissen nicht berührt (Hebr. 9,12f.), das Gesetz habe "den
Schatten von den zukünftigen Gütern" gehabt, nicht aber das Bild der Dinge selbst (Hebr. 10,1;
8,5), die Diener des Gesetzes hätten aus den von Mose eingesetzten Zeremonien keinerlei
Vollkommenheit erlangt (Hebr. 7,19; 9,9; 10,1), und dergleichen mehr. Hier wiederhole ich nun, was
ich bereits angedeutet habe: Paulus erklärt die Zeremonien nicht deshalb für schattenhaft, weil
sie nichts Festes hätten, sondern weil ihre Erfüllung bis zur Offenbarung Christi gleichsam in der
Schwebe war. Ferner behaupte ich, daß jene Stelle (Kol. 2,17) nicht im Blick auf die Wirkkraft der
Zeremonien zu verstehen ist, sondern vielmehr im Blick auf die Art des in ihnen liegenden Hinweises.
Denn ehe Christus im Fleische geoffenbart war, deuteten ihn alle Zeichen gleichsam als abwesend
schattenhaft an, obwohl er den Gläubigen innerlich die Gegenwärtigkeit seiner Kraft, ja, seiner
selbst zu erkennen gab. Vor allem aber muß man darauf achten, daß Paulus an allen diesen Stellen
nicht beziehungslos redet, sondern im Zuge einer Auseinandersetzung; denn er hatte mit falschen
Aposteln zu kämpfen, die der Meinung waren, allein in den Zeremonien liege die Frömmigkeit, ohne
jede Rücksicht auf Christus; zur Widerlegung solcher Leute war es also genug, wenn er bloß der
Frage nachging, was die Zeremonien an und für sich für einen Wert hätten. Dem gleichen Richtpunkt
ist auch der Verfasser des Briefes an die Hebräer gefolgt. Wir wollen also bedenken, daß die
Erörterung sich hier nicht um die Zeremonien dreht, sofern sie in ihrer wahren, ursprünglichen
Bedeutung verstanden werden, sondern vielmehr, sofern sie im Sinne einer falschen und verkehrten
Auslegung verdreht sind; es geht hier nicht um den rechtmäßigen Gebrauch der Zeremonien, sondern
um den Mißbrauch, den der Aberglaube mit ihnen treibt. Was soll also verwunderliches daran sein,
wenn die Zeremonien bei solcher Absonderung von Christus jeglicher Kraft verlustig gehen? Denn alle
und jegliche Zeichen werden nichtig, wenn man die Sache wegnimmt, auf die sie hinweisen. Als
Christus es einmal mit Menschen zu tun hatte, die da meinten, das Manna sei nichts anderes gewesen,
als eine Speise für den Leib, da paßte er deshalb seine Worte an deren grobe Meinung an und sagte,
er gebe durch seinen Dienst eine bessere Speise, welche die Seelen zur Hoffnung auf die
Unsterblichkeit nährte (Joh. 6,27). Will man eine klarere Lösung haben, so geht die Sache ihrem
wesentlichen Inhalt nach auf folgendes hinaus: Erstens ist jener ganze Aufwand an Zeremonien, der im
mosaischen Gesetz bestanden hat, eine wesenlose und nichtige Sache, wenn er nicht auf Christus
gerichtet ist. Zweitens haben diese Zeremonien in der Weise die Richtung auf Christus gehabt, daß
sie erst damals ihre Erfüllung fanden, als er im Fleische geoffenbart war. Und schließlich mußten
sie mit dem Kommen Christi notwendig abgeschafft werden, genau wie der Schatten verblaßt, wenn das
Licht der Sonne erstrahlt. Jedoch schiebe ich eine noch ausführlichere Erörterung über diesen
Punkt bis an die Stelle auf, an der ich die Taufe mit der Beschneidung zu vergleichen beabsichtige.
Deshalb begnüge ich mich hier mit einer kurzen Erwähnung.
IV,14,26 Vielleicht haben sich diese armseligen Klüglinge auch von den
maßlosen Lobreden über die Sakramente täuschen lassen, die man bei den Alten mit Bezug auf unsere
(heutigen) Zeichen zu lesen bekommt. So findet sich bei Augustin der Satz, die Sakramente des "alten
Gesetzes" hätten den Retter bloß verheißen, die unsrigen dagegen gewährten das Heil (zu Ps.
73,2). Da die Scholastiker nicht bemerkten, daß diese und ähnliche Redefiguren übertreibenden
Charakter tragen, so haben sie auch ihrerseits ihre übertriebenen Lehrmeinungen von sich gegeben,
aber in einem völlig anderen Sinn, als ihn die Schriften der Alten hatten. Denn Augustin hat an der
obengenannten Stelle nichts anderes im Sinne gehabt, als was er auch an anderer Stelle schreibt,
nämlich die Sakramente des mosaischen Gesetzes hätten Christus zuvor verkündigt, die unsrigen
dagegen sagten ihn (als gegenwärtig) an (Fragen zum Heptateuch IV,33). Im gleichen Sinne heißt es
in seiner Schrift gegen Faustus, die alten Sakramente seien Verheißungen solcher Dinge gewesen, die
erst in Erfüllung gehen sollten, die unsrigen dagegen seien Hinweise auf solche, die bereits ihre
Erfüllung gefunden hätten (Gegen den Manichäer Faustus XIX,14). Er will also gleichsam sagen: die
alten Sakramente haben Christus bildlich dargestellt, als er noch erwartet wurde, die heutigen
dagegen erzeigen ihn als den Gegenwärtigen, da er uns ja bereits gegeben ist. Er redet nun aber von
der Art des Hinweises, der in den Sakramenten liegt, wie er sie auch an anderer Stelle aufzeigt,
wenn er sagt: "Das Gesetz und die Propheten hatten Sakramente, die eine zukünftige Sache zuvor
ansagten, die Sakramente unserer Zeit aber bezeugen, daß das gekommen ist, was jene noch als
zukünftig verkündigten" (Gegen die Briefe des Petilian II,37,87). Was er aber über die Sache
und die Wirkung gedacht hat (die den alten Sakramenten eigen war), das setzt er an mehreren Stellen
auseinander; so zum Beispiel, wenn er sagt, die Sakramente der Juden seien in ihren Zeichen
verschieden gewesen, in der von ihnen angedeuteten Sache dagegen gleich, sie seien verschieden
gewesen nach ihrer sichtbaren Erscheinung, aber gleich nach ihrer geistlichen Kraft (Predigten zum
Johannesevangelium 26,12). Ebenso sagt er: "Bei verschiedenen Zeichen bleibt doch der gleiche
Glaube. Denn mit der Verschiedenheit der Zeichen ist es ebenso bestellt wie mit der Verschiedenheit
von Worten. Die Worte nämlich verändern im Wechsel der Zeiten ihren Klang, und überhaupt sind ja
Worte nichts anderes als Zeichen. Die Väter haben den gleichen geistlichen Trank getrunken (wie
wir), jedoch nicht den gleichen leiblichen. Ihr seht also, wie bei gleich bleibendem Glauben die
Zeichen verändert sind.Bei ihnen war der Fels (aus dem sie tranken 1. Kor. 10) Christus, für uns
ist das, was uns auf dem Altar dargeboten wird, Christus. Sie haben als großes Sakrament das Wasser
getrunken, das aus dem Felsen floß, und was wir trinken, das ist den Gläubigen bekannt. Betrachtet
man die sichtbare Erscheinung, so ist es etwas anderes, richtet man sein Augenmerk aber auf die
Bedeutung, die damit dem Verständnis nahegebracht wird, so haben sie den gleichen geistlichen Trank
getrunken wie wir" (Predigten zum Johannesevangelium 45,9). An anderer Stelle heißt es: "Bei
den Geheimnissen (Sakramenten) war ihre Speise und ihr Trank der gleiche, den auch wir haben; aber
die Gleichheit liegt in der Bedeutung und nicht in der Erscheinung; denn es ist der gleiche
Christus, der ihnen in dem Felsen bildlich dargestellt war und uns im Fleische geoffenbart ist"
(zu Psalm 77,2). Allerdings geben wir zu, daß es auch in diesem Stück einige Verschiedenheit
zwischen den alten und den heutigen Sakramenten gibt. Beide bezeugen, daß uns die in Christus uns
zukommende väterliche Freundlichkeit Gottes und die Gaben des Heiligen Geistes dargeboten werden;
aber unsere heutigen Sakramente tun das leuchtender und klarer. In beiden wird Christus dargezeigt;
aber das geschieht in unseren Sakramenten reichlicher und völliger, eben gemäß jener
Unterschiedenheit des Alten vom Neuen Testament, von der wir oben bereits geredet haben. Das ist es,
was Augustin — den wir als den besten und zuverlässigsten Zeugen der ganzen alten Zeit häufiger
anführen — im Sinne hat, wenn er lehrt, nach der Offenbarung Christi seien Sakramente
eingerichtet worden, die zwar der Zahl nach geringer (als die früheren), hinsichtlich ihrer
Bedeutung dagegen erhabener und in ihrer Kraft vortrefflicher seien (Gegen Faustus XIX,13; Von der
christlichen Unterweisung III,9,13; Brief 54,1 an Januarius). Es ist angebracht, daß der Leser auch
noch kurz darauf hingewiesen werde, daß alles, was sich die Klüglinge von dem einmal gewirkten
Werk (opus operatum) zusammengeschwatzt haben, nicht nur falsch ist, sondern auch zu der Natur der
Sakramente im Widerspruch steht. Gott hat die Sakramente doch eingerichtet, damit die Gläubigen,
leer an allen Gütern und als arme Leute, nichts herzubringen als ihre Bettlerschaft. Daraus geht
hervor, daß sie also mit dem Empfang der Sakramente nichts vollbringen, wodurch sie sich Lob
verdienen könnten, und daß ihnen bei dieser Handlung — die im Blick auf sie von der Art ist,
daß sie nicht wirken sondern empfangen — keinerlei Werk zugeschrieben werden kann.
Von der Taufe
IV,15,1 Die Taufe ist ein Zeichen der Einweihung, durch das wir in die
Gemeinschaft der Kirche aufgenommen werden, um in Christus eingeleibt und damit zu den Kindern
Gottes gerechnet zu werden. Sie ist uns aber nun — wie das nach unserer obigen Darlegung bei allen
Sakramenten der Fall ist — von Gott zu dem Zweck gegeben, daß sie zum ersten unserem Glauben vor
ihm und zum zweiten unserem Bekenntnis vor den Menschen diene. Auf die Art und Weise jeder dieser
beiden Wirkungsformen wollen wir der Reihe nach eingehen. Unserem Glauben leistet die Taufe einen
dreifachen Dienst, den wir auch seinerseits Stück für Stück behandeln müssen. Der erste besteht
darin, daß sie uns von dem Herrn vor Augen gestellt wird, um ein Merkzeichen und Beweis unserer
Reinigung zu sein oder — um besser auseinanderzusetzen, was ich meine — gleichsam eine
unterschriebene Urkunde, mit der er uns bekräftigen will, daß alle unsere Sünden dergestalt
abgetan, ausgestrichen und getilgt sind, daß sie nie mehr vor sein Angesicht kommen, daß ihrer
nicht mehr gedacht wird und sie nicht mehr angerechnet werden. Denn er will, daß alle, die da
glauben, zur Vergebung der Sünden getauft werden. Daher haben diejenigen, die da gemeint haben, die
Taufe sei nichts anderes als ein Erkennungsmerkmal oder Kennzeichen, mit dem wir unsere Religion vor
den Menschen bekennten — so wie die Soldaten die Zeichen ihres Feldherrn tragen, um damit zu
zeigen, daß sie seine Soldaten sind —, das nicht in Erwägung gezogen, was an der Taufe das erste
war. Dies erste aber ist, daß wir die Taufe unter der Verheißung empfangen sollen: "Wer da
glaubet und getauft wird, der wird selig werden" (Mark. 16,16).
IV,15,2 In diesem Sinne ist es aufzufassen, wenn Paulus schreibt, die Kirche
sei von Christus, ihrem Ehegemahl, geheiligt worden und "gereinigt durch das Wasserbad im Wort"
des Lebens (Eph. 5,26). Und ebenso, wenn es an anderer Stelle heißt: "Nach seiner Barmherzigkeit
machte er uns selig durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung des Heiligen Geistes" (Tit.
3,5). Im gleichen Sinne lesen wir bei Petrus, daß uns die Taufe selig mache (1. Petr. 3,21). Denn
Paulus hat mit seinen Worten nicht zu verstehen geben wollen, daß unsere Abwaschung und unsere
Seligkeit durch das Wasser zustande kämen oder daß das Wasser die Kraft in sich trüge, uns zu
reinigen, die Wiedergeburt zu schaffen oder Erneuerung zu schenken. Ebenso will auch Petrus nicht
zum Ausdruck bringen, daß in diesem Sakrament die Ursache zur Seligkeit ergriffen würde, sondern
er will nur zeigen, daß wir darin die Erkenntnis und Gewißheit solcher Güter erlangen; das wird
auch durch den gegebenen Wortlaut deutlich genug dargetan. Denn Paulus nennt das Wort des Lebens und
die Taufe miteinander in enger Verbindung, als wollte er sagen: durch das Evangelium wird uns die
Botschaft von unserer Abwaschung und Reinigung zugetragen, und durch die Taufe wird solches Zeugnis
versiegelt. Und Petrus fährt (an der genannten Stelle) unmittelbar fort, jene Taufe sei nicht die
Ablegung der Befleckungen des Fleisches, sondern ein gutes Gewissen vor Gott (1. Petr. 3,21); dies
aber kommt ja aus dem Glauben. Ja, die Taufe verheißt uns keine andere Reinigung als die, welche
durch die Besprengung mit dem Blute Christi geschieht; denn dies Blut wird durch das Wasser bildlich
dargestellt, das ja in ähnlicher Weise die Eigenschaft hat, zu reinigen und abzuwaschen. Wer will
also behaupten, wir würden durch dasWasser gereinigt, während eben dies doch sicher bezeugt, daß
Christi Blut das wahre und einige Reinigungsbad ist? Daher ist es nicht möglich, einen klareren
Grund zur Widerlegung der Phantastereien solcher Leute zu suchen, die alles auf die Kraft des
Wassers beziehen, als eben aus der Bedeutung der Taufe selbst; denn die Taufe zieht unsere Sinne von
jenem sichtbaren Element (eben dem Wasser), das uns vor die Augen gebracht wird, wie von allen
anderen Mitteln ab, um sie allein an Christus zu binden.
IV,15,3 Man darf nun aber nicht glauben, die Taufe finde ihre Anwendung bloß
im Bezug auf die Vergangenheit, so daß wir also für neue Versündigungen, in die wir nach der
Taufe verfallen, andere, neue Sühnemittel suchen müßten, und zwar in wer weiß welchen anderen
Sakramenten, als ob die Kraft der Taufe erloschen wäre. Durch diesen Irrtum ist es in alter Zeit
dahin gekommen, daß manche Leute erst in äußerster Lebensgefahr, ja, erst wenn sie in den letzten
Zügen lagen, durch die Taufe eingeweiht werden wollten, damit sie dergestalt für ihr ganzes Leben
Vergebung erlangten. Gegen diese unangebrachte Vorsicht sprechen sich die alten Bischöfe in ihren
Schriften sehr oft tadelnd aus. Zu welcher Zeit wir nun die Taufe auch empfangen mögen, so müssen
wir stets das bedenken, daß wir damit zugleich für unser ganzes Leben abgewaschen und gereinigt
werden. Sooft wir also in Sünde gefallen sind, sollen wir uns unsere Taufe ins Gedächtnis
zurückrufen und unser Herz damit wappnen, damit es allezeit der Vergebung der Sünden gewiß und
sicher sei. Denn obwohl es den Anschein hat, als ob die Taufe, einmal vollzogen, nun vergangen sei,
so ist sie doch durch die späteren Sünden nicht abgetan. Denn es ist uns ja in ihr die Reinheit
Christi dargereicht worden, und die bleibt allezeit in Kraft und wird von keinerlei Flecken
überdeckt, sondern deckt alle unsere Unreinigkeiten zu und tilgt sie weg. Dennoch dürfen wir
hieraus für die Zukunft keine willkürliche Freiheit zum Sündigen herleiten, wie wir ja von dieser
Erwägung aus in keiner Weise zu solcher Vermessenheit unterwiesen werden. Nein, diese Lehre wird
nur solchen gesagt, die, nachdem sie gesündigt haben, unter ihren Sünden ermattet und bedrückt
seufzen: sie sollen einen Grund haben, um sich aufzurichten und zu trösten, damit sie sich nicht in
Verwirrung und Verzweiflung stürzen. So sagt Paulus, Christus sei uns zum Versöhner gemacht, zur
Vergebung für die voraufgegangenen Missetaten (Röm. 3,25). Damit leugnet er nicht, daß wir in
Christus eine dauernde und beständige Vergebung der Sünden empfangen bis zum Tode hin; aber er
gibt zu verstehen, daß Christus vom Vater nur den armen Sündern gegeben ist, die unter dem
Brenneisen des Gewissens verwundet sind und sich nun nach dem Arzte sehnen. Solchen Menschen wird
Gottes Barmherzigkeit dargeboten. Wer sich aber aus solcher Straffreiheit den Anlaß und eine
zügellose Freiheit zum Sündigen begründen will, der tut nichts anderes, als daß er Gottes Zorn
und Gericht gegen sich hervorruft.
IV,15,4 Ich weiß nun freilich, daß sich allgemein eine andere Ansicht
durchgesetzt hat: danach erlangen wir nach der Taufe die Vergebung durch die Wohltat der Buße und
der Schlüssel(gewalt), während sie uns in der ersten Wiedergeburt allein durch die Taufe zuteil
wird. Aber die Leute, die sich das erdichten, befinden sich darin auf einem Irrweg, daß sie nicht
bedenken, wie die Schlüsselgewalt, von der sie reden, dergestalt von der Taufe abhängig ist, daß
sie auf keine Weise von ihr getrennt werden kann. Der Sünder empfängt die Vergebung durch den
Dienst der Kirche, das heißt also: nicht ohne die Predigt des Evangeliums. Was hat diese nun aber
für einen Inhalt? Doch den, daß wir durch Christi Blut von unseren Sünden gereinigt werden! Was
aber ist das Zeichen und Zeugnis dieses Reinigungsbades anders als die Taufe? Wir sehen also, daß
jene (kirchliche) Lossprechung (in der "Schlüsselgewalt") zur Taufe in Beziehung steht.Der
Irrtum, von dem ich hier rede, hat uns nun das ersonnene Sakrament der Buße erwachsen lassen, von
dem ich schon manches kurz ausgeführt habe und den Rest an dem dafür vorgesehenen Platz behandeln
werde. Es ist nun aber nichts Verwunderliches dabei, wenn die Menschen, die in der Grobheit ihres
Wesens maßlos an äußerlichen Dingen festhängen, auch in diesem Stück den Fehler an den Tag
gelegt haben, daß sie sich mit der reinen Einrichtung Gottes nicht zufriedengaben und deshalb neue
Mittel aufbrachten, die sie sich selbst ausgedacht hatten. Als ob die Taufe nicht selbst das "Sakrament
der Buße" darstellte! Wenn uns die Buße nun für das ganze Leben anempfohlen wird, so muß auch
die Kraft der Taufe bis zu den gleichen Grenzen ausgedehnt werden. Daher unterliegt es keinem
Zweifel, daß alle Frommen sich im ganzen Lauf ihres Lebens, sooft sie vom Bewußtsein ihrer Sünde
gequält werden, ihre Taufe wieder ins Gedächtnis zu rufen wagen, um sich dadurch in der Zuversicht
auf jene einige, dauernde Abwaschung zu stärken, die wir im Blute Christi haben.
IV,15,5 Noch eine zweite Frucht gewährt uns die Taufe, weil sie uns nämlich
unsere Abtötung (mortificatio) in Christus und das neue Leben (nova vita) in ihm zeigt. Denn wir
sind, so sagt Paulus, "in seinen Tod getauft", "mit ihm begraben in den Tod", um nun "in
Neuheit des Lebens unseren Wandel zu führen" (Röm. 6,3f.). Mit diesen Worten ermahnt uns der
Apostel nicht bloß zur Nachfolge Christi, als ob er etwa sagte, wir würden durch die Taufe dazu
ermuntert, nach dem Vorbild des Sterbens Christi unseren Begierden zu sterben und nach dem Beispiel
seiner Auferweckung zur Gerechtigkeit aufzuerstehen. Nein, er geht der Sache tiefer auf den Grund,
indem er darauf hinweist, daß uns Christus durch die Taufe seines Todes teilhaftig gemacht hat, so
daß wir in solchen Tod eingeleibt werden (Röm. 6,5). Und wie der Zweig seine Substanz und seine
Nahrung aus der Wurzel zieht, in die er eingeleibt ist, so erfahren auch die, welche die Taufe mit
dem ihr zukommenden Glauben annehmen, in Wahrheit die Wirkkraft des Todes Christi in der Abtötung
ihres Fleisches und zugleich die Wirkkraft seiner Auferstehung in ihrer Lebendigmachung durch den
Geist (Röm. 6,8). Von da aus nimmt Paulus auch den Anlaß zu einer Ermahnung: sind wir Christen, so
müssen wir auch der Sünde "gestorben sein" und "der Gerechtigkeit leben" (Röm. 6,11). Den
gleichen Beweis verwendet er an anderer Stelle, indem er schreibt, wir seien "beschnitten" und
hätten den alten Menschen ausgezogen, nachdem wir "durch die Taufe mit Christo begraben" sind
(Kol. 2,11f.). In diesem Sinne hat er die Taufe an der oben bereits angeführten Stelle auch als "Bad
der Wiedergeburt und Erneuerung" bezeichnet (Tit. 3,5). Es wird uns also in der Taufe zunächst
die gnadenweise Vergebung der Sünden und die Zurechnung der Gerechtigkeit verheißen und alsdann
die Gnade des Heiligen Geistes, die uns zu neuem Leben umgestaltet.
IV,15,6 Schließlich empfängt unser Glaube aus der Taufe auch den Nutzen,
daß sie uns mit Gewißheit bezeugt, daß wir nicht nur in Christi Tod und Leben eingeleibt, sondern
auch selbst dergestalt mit Christus geeint sind, daß wir aller seiner Güter teilhaftig werden.
Denn dazu hat er die Taufe an seinem eigenen Leibe geweiht und geheiligt (Matth. 3,13-17), daß er
mit uns gemeinsam an ihr teilhätte und sie nun das festeste Band der Einung und Gemeinschaft
darstellte, die er mit uns einzugehen sich herabgelassen hat. Daher beweist Paulus daraus, daß wir
in der Taufe "Christum angezogen" haben, den Satz, daß wir Gottes Kinder sind (Gal. 3,26f.). So
sehen wir, daß die Erfüllung der Taufe in Christus liegt: ihn nennen wir aus diesem Grunde auch im
eigentlichen Sinne den, an dem die Taufe hängt (proprium fidei obiectum). Es ist daher nicht
verwunderlich, daß die Apostel nach unseren Berichten auf seinen Namen getauft haben (Apg. 8,16;
19,5), obwohl ihnen doch die Weisung geworden war, auf den "Namen des Vaters und des Sohnes und
des Heiligen Geistes" zu taufen (Matth. 28,19). Denn alles, was uns in der Taufe an Gaben Gottes
vorgelegt wird, das kann man allein in Christus finden. Doch kann es nicht anders sein, als daß
der, der auf Christus tauft, zugleich auch den Namen des Vaters und des Heiligen Geistes anruft.
Denn wir empfangen die Reinigung durch das Blut Christi darum, weil der barmherzige Vater uns in
seiner unvergleichlichen Freundlichkeit zu Gnaden hat annehmen wollen und dazu diesen Mittler
zwischen sich und uns gestellt hat, damit er uns bei ihm Gunst erwirkte. Die Wiedergeburt aber
empfangen wir aus Christi Tod und Auferstehung nur dann, wenn wir, durch den Geist geheiligt, mit
einer neuen, geistlichen Natur erfüllt werden. Daher steht es so, daß wir die Ursache unserer
Reinigung wie unserer Wiedergeburt im Vater, ihren Wirkgrund in Christus und ihre Wirkung im
Heiligen Geiste erlangen und gleichsam in Unterschiedenheit anschauen. So hat zuerst Johannes, so
haben alsdann auch die Apostel mit der "Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden" getauft
(Matth. 3,6.11; Luk. 3,3.16; Joh. 3,23; 4,1; Apg. 2,38.41). Dabei verstanden sie unter "Buße"
solche Wiedergeburt und unter "Vergebung der Sünden" jene Abwaschung (im obigen Sinne).
IV,15,7 Durch diese Darlegungen wird es auch völlig gewiß, daß das Amt des
Johannes (nämlich des Täufers) durchaus das gleiche gewesen ist, wie es hernach den Aposteln
zugewiesen wurde. Denn die verschiedenen Hände, von denen die Taufe verwaltet wird, machen die
Taufe selbst nicht anders; nein, das Gleichbleiben der Lehre zeigt, daß auch die gleiche Taufe
besteht. Johannes und die Apostel waren einhellig in einer Lehre, beide haben sie zur Buße, beide
zur Vergebung der Sünden, beide auf den Namen Christi getauft, von dem die Buße und die Vergebung
der Sünden kam. Johannes sagte von ihm: "Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde
trägt" (Joh. 1,29), und damit erklärte er ihn für das Opfer, das dem Vater wohlgefällig ist,
für den Erwirker der Gerechtigkeit und den Geber des Heils. Was hätten die Apostel wohl diesem
Bekenntnis hinzufügen können? Deshalb darf sich niemand dadurch irremachen lassen, daß sich die
Alten Mühe geben, die Taufe des Johannes von derjenigen der Apostel zu unterscheiden. Denn die
Männer der Alten Kirche dürfen bei uns nicht in solcher Wertschätzung stehen, daß dadurch die
Gewißheit der Schrift ins Wanken gebracht wird. Wer wird wohl mehr auf Chrysostomus hören, der da
erklärt, in die Taufe des Johannes sei die Vergebung der Sünden nicht eingeschlossen gewesen
(Predigten zum Matthäusevangelium 10,1), als auf Lukas, der im Gegenteil behauptet, Johannes habe
die "Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden" verkündigt (Luk. 3,3)? Ebensowenig annehmbar
ist die spitzfindige Meinung des Augustin, in der Taufe des Johannes seien die Sünden in Hoffnung
vergeben worden, in der Taufe Christi dagegen erfolge eine tatsächliche Vergebung (Von der Taufe
gegen die Donatisten V,10,12). Denn der Evangelist bezeugt klar und deutlich, daß Johannes in
seiner Taufe die Vergebung der Sünden verheißen hat, und wie soll es unter solchen Umständen
erforderlich sein, diese Aussagen abzuschwächen, wo doch kein Zwang dazu vorliegt? Will aber jemand
aus dem Worte Gottes erfahren, welcher Unterschied zwischen diesen beiden Taufen bestanden hat, so
wird er keinen anderen finden als den, daß Johannes auf den taufte, der da kommen sollte, die
Apostel aber auf den, der sich bereits offenbart hatte (Luk. 3,16; Apg. 19,4).
IV,15,8 Die Tatsache, daß nach der Auferstehung Christi die Gnadengaben des
Heiligen Geistes reichlicher ausgegossen worden sind, hat nichts damit zu schaffen, daß man etwa
eine Verschiedenheit der beiden Taufen behaupten könnte. Denn die Taufe, die noch zur Zeit des
Erdenwandels Christi von den Aposteln verwaltet wurde, ist als seine Taufe bezeichnet worden, und
doch war mit ihr kein größerer Reichtum des Geistes gegeben als mit der Taufe des Johannes. Ja,
selbst nach der Himmelfahrt wurden die Samaritaner, obwohl sie doch auf den Namen Jesu getauft
worden waren, nicht über das gewöhnliche Maß hinaus mit dem Geiste begabt, das auch den früheren
Gläubigen zuteil geworden war — bis Petrus und Johannes zu ihnen gesandt wurden, um ihnen die
Hände aufzulegen (Apg. 3,14.17). Nur eine einzige Tatsache hat nach meinem Dafürhalten die Männer
der Alten Kirche zu ihrer Behauptung veranlaßt, die Taufe des Johannes sei nur eine Vorbereitung
auf die Taufe der Apostel: sie lasen nämlich, Paulus hätte Leute, die die Taufe des Johannes schon
einmal empfangen hatten, zum zweiten Male getauft (Apg. 19,3.5). Aber in was für einen Irrtum sie
dabei geraten sind, das wird anderwärts an der dafür vorgesehenen Stelle aufs deutlichste
auseinandergesetzt werden. Was soll es nun bedeuten, wenn Johannes sagte, er taufe zwar mit Wasser,
es werde aber Christus kommen, um mit dem Heiligen Geist und mit Feuer zu taufen (Matth. 3,11)?
Diese Frage läßt sich mit wenigen Worten lösen. Denn Johannes hatte nicht etwa die Absicht, die
eine Taufe von der anderen zu unterscheiden, nein, er verglich seine Person mit Christi Person und
legte dar, wie er seinen Dienst mit Wasser tat, Christus dagegen der Geber des Heiligen Geistes war,
der dann solche Kraft auch mit einem sichtbaren Wunder ans Licht bringen sollte, an dem Tage
nämlich, als er den Aposteln unter feurigen Zungen den Heiligen Geist senden würde (Apg. 2,3). Was
konnten nun die Apostel darüber (d.h. über das Amt des Johannes) hinaus beanspruchen? Was können
auch die beanspruchen, die heutzutage Taufen vollziehen? Denn sie sind doch bloß Diener an einem
äußerlichen Zeichen, Christus dagegen ist der Geber der inwendigen Gnade. So lehren es eben die
gleichen Theologen der Alten Kirche selbst, und zwar vor allem Augustin, der sich in seinem Kampf
gegen die Donatisten vornehmlich auf den Satz stützt, der Täufer möge sein, wer er wolle, so habe
doch Christus allein bei der Taufe die Führung inne (Gegen den Brief des Parmenian II,11,23).
IV,15,9 Das, was wir von der Abtötung (des Fleisches) wie auch von der
Abwaschung gesagt haben, wurde im Volke Israel schattenhaft angedeutet, und Paulus sagt aus diesem
Grunde, das Volk sei "mit der Wolke und mit dem Meer" getauft worden (1. Kor. 10,2). Die
Abtötung wurde bildlich dargestellt, als der Herr dem Volke bei seiner Befreiung aus der Hand und
aus der grausamen Knechtschaft des Pharao einen Weg durch das Rote Meer bahnte und den Pharao selbst
samt den Feinden, den Ägyptern, die dem Volke im Rücken nachstellten und es über dem Nacken
bedrohten, ertränkte (Ex. 14,21.26-28). Denn in der gleichen Weise verheißt der Herr auch uns in
der Taufe und zeigt er es uns durch das von ihm gegebene Zeichen, daß wir aus der Gefangenschaft
Ägyptens, das heißt aus der Knechtschaft der Sünde, durch seine Kraft herausgeführt und befreit
sind, und daß unser Pharao, das heißt der Teufel, ertränkt ist, obwohl er auch so noch nicht
davon abläßt, uns zu quälen und zu ermüden. Wie aber jener ägyptische Pharao nicht in der Tiefe
des Meeres versenkt war, sondern am Ufer dahingestreckt lag und die Israeliten mit seinem
furchtbaren Anblick noch in Schrecken jagte, aber doch keinen Schaden zu tun vermochte — so droht
auch unser Pharao noch, er zeigt seine Waffen, er gibt sich uns kund, aber besiegen kann er uns
nicht!In der "Wolke" (Num. 9,15; Ex. 13,21) lag ein Merkzeichen der Reinigung. Denn wie der Herr
jene Israeliten mit einer über ihnen schwebenden Wolke bedeckte und ihnen dadurch Kühlung
gewährte, damit sie bei der erbarmungslosen Glut der Sonne nicht ermatteten und dahinsanken, so
erkennen auch wir in der Taufe, daß wir durch Christi Blut Deckung und Schutz erfahren, damit
Gottes Strenge, die in Wahrheit eine unerträgliche Flamme ist, nicht mehr auf uns laste. Freilich
war dies Geheimnis damals noch dunkel und wurde es nur von wenigen erkannt; aber da es keine andere
Art und Weise gibt, die Seligkeit zu erlangen, als sie in diesen beiden Gnadengaben (Abtötung und
Abwaschung) liegt, so wollte Gott den alten Vätern, die er zu Erben angenommen hatte, die
Merkzeichen nicht vorenthalten, die diese beiden Gaben veranschaulichten.
IV,15,10 Jetzt leuchtet auch ein, wie verkehrt die von manchen Leuten in
älterer Zeit vertretene und von anderen bis jetzt noch festgehaltene Lehre ist, durch die Taufe
würden wir von der Erbsünde und von der Verderbnis, die sich von Adam aus auf seine gesamte
Nachkommenschaft ausgebreitet hat, losgesprochen und frei gemacht und zu jener Gerechtigkeit, jener
Reinheit unserer Natur zurückgebracht, die Adam behalten hätte, wenn er in der Unschuld verblieben
wäre, in welcher er anfangs erschaffen war. Denn diese Art Lehrer haben nie und nimmer erfaßt, was
Erbsünde, was ursprüngliche Gerechtigkeit und was die Gnadengabe der Taufe ist. Nun haben wir aber
in einer früheren Erörterung schon festgestellt, daß die Erbsünde die Bosheit und Verderbnis
unserer Natur ist, die uns erstens des Zorns Gottes schuldig macht und dann (zweitens) auch die
Werke in uns hervorbringt, die die Schrift als "Werke des Fleisches" bezeichnet (Gal. 5,19). Wir
müssen also hier diese beiden Dinge getrennt voneinander betrachten. Erstens: Weil wir in allen
Stücken unserer Natur dergestalt verdorben und verkehrt sind, so werden wir schon allein um solcher
Verderbtheit willen vor Gott verdientermaßen als verdammt und überführt angesehen; denn ihm ist
nichts wohlgefällig als Gerechtigkeit, Unschuld und Reinheit. Und so tragen sogar die Kindlein vom
Mutterleibe her ihre Verdammnis in sich: sie haben zwar die Früchte ihrer Ungerechtigkeit noch
nicht an den Tag gebracht, aber der Same ist schon in ihrem Inneren beschlossen. Ja, ihre ganze
Natur ist gewissermaßen ein Same der Sünde, und deshalb kann es nicht geschehen, daß sie Gott
nicht verhaßt und abscheulich wäre. Die Gläubigen erlangen nun durch die Taufe die Gewißheit,
daß diese Verdammnis aufgehoben und von ihnen genommen ist; denn durch dies Zeichen gibt uns ja der
Herr, wie bereits gesagt, die Zusage, daß ein vollständiger und vollgültiger Erlaß geschehen
ist, sowohl der Schuld, die uns hätte zugerechnet werden, als auch der Strafe, die wir um solcher
Schuld willen hätten auf uns nehmen müssen. Zugleich erfassen die Gläubigen die Gerechtigkeit —
aber eine solche, wie sie das Volk Gottes in diesem Leben erlangen kann, nämlich eine
Gerechtigkeit, die allein durch Zurechnung zustande kommt, weil nämlich der Herr in seiner
Barmherzigkeit die Seinen als gerecht und unschuldig gelten läßt.
IV,15,11 Zum zweiten ist zu beachten, daß solche Verkehrtheit niemals in
uns untätig bleibt, sondern fort und fort neue Früchte hervorbringt, nämlich jene Werke des
Fleisches, die wir weiter oben beschrieben haben (vergleiche Buch II, Kapitel 1, Sektion 8). Es geht
hier nicht anders als bei einem brennenden Ofen, der immerfort Flammen und Funken aus sich
herausbläst, oder bei einer Quelle, die Wasser ohne Ende aus sich hervorsprudelt. Denn die
Begehrlichkeit kommt bei den Menschen nie voll und ganz zum verschwinden oder zum Erlöschen, bis
sie durch den Tod von dem Leibe des Todes befreit werden und sich damit selbst völlig ausziehen.
Die Taufe gibt uns zwar die Verheißung, daß unser Pharao (vergleiche Sektion 9)ertränkt ist, sie
verheißt uns die Abtötung der Sünde, aber nicht so, daß die Sünde nun nicht mehr bestünde oder
uns nicht mehr zu schaffen machte, sondern nur in der Weise, daß sie uns nicht mehr überwindet.
Denn solange wir in das Gefängnis unseres Leibes eingeschlossen dahinleben, werden in uns
Überreste der Sünde wohnen, sie werden aber, wenn wir im Glauben die Verheißung festhalten, die
uns Gott in der Taufe gegeben hat, nicht herrschen und das Regiment führen. Es soll sich aber
niemand betrügen, niemand soll sich in seiner Bosheit gefallen, wenn er hört, daß die Sünde
allezeit in uns wohnt. Denn das wird nicht gesagt, damit solche, die auch ohnehin mehr als genug zum
Sündigen geneigt sind, über ihren Sünden sorglos einschlafen; nein, es ist nur gesagt, damit
Menschen, die von ihrem Fleische gekitzelt und gestochen werden, nicht ermatten und verzweifeln.
Solche Leute sollen vielmehr bedenken, daß sie einen großen Fortschritt gemacht haben, wenn sie es
erfahren, daß ihre Begehrlichkeit von Tag zu Tag ein wenig geringer wird — bis sie an das Ziel
gelangt sind, dem sie zustreben, nämlich zu dem letzten Vergehen ihres Fleisches, das sich in dem
Vergehen dieses sterblichen Lebens vollendet. Unterdessen sollen sie nicht davon ablassen, tapfer zu
kämpfen, nach einem Fortschreiten zu streben und sich zum völligen Siege anzustacheln. Denn auch
das muß ihre Anstrengungen um so mehr schärfen, daß sie sehen, wie ihnen, nachdem sie sich lange
Zeit heftig abgemüht haben, doch noch gar viel Arbeit übrigbleibt. So müssen wir dafür halten:
wir werden zur Abtötung unseres Fleisches getauft, die von der Taufe an bei uns ihren Anfang nimmt,
die wir Tag für Tag weiter treiben, die aber ihre Vollendung dann empfangen wird, wenn wir aus
diesem Leben zu dem Herrn hinüberwandern.
IV,15,12 Wir sprechen hier nichts anderes aus, als was der Apostel Paulus im
siebenten Kapitel des Briefes an die Römer mit höchster Klarheit darlegt. Er hatte ja zunächst
von der gnadenweisen Gerechtigkeit gehandelt. Nun gab es aber einige gottlose Leute, die von da aus
zu der Folgerung kamen, man könne sein Leben nach eigener Willkür führen, weil wir ja durch die
Verdienste unserer Werke doch Gottes Wohlgefallen nicht erlangten. Demgegenüber fährt Paulus nun
fort und erklärt, daß alle, die mit der Gerechtigkeit Christi umkleidet werden, zugleich durch den
Geist ihre Wiedergeburt empfangen und ein Unterpfand solcher Wiedergeburt in der Taufe besitzen
(Röm. 6,3ff.). Daraufhin ermahnt er die Gläubigen, der Sünde in ihren Gliedern keine Herrschaft
zu gestatten (Röm. 6,12). Und da er nun wußte, daß bei den Gläubigen allezeit einige Schwachheit
bestehen werde, so fügte er, damit sie dadurch nicht entmutigt würden, den Trost hinzu, sie
stünden nicht unter dem Gesetz (Röm. 6,14). Nun konnte es jedoch abermals den Anschein gewinnen,
als könnten die Christen übermütig werden, und zwar eben darum, weil sie ja nicht unter dem Joch
des Gesetzes stünden. Deshalb geht Paulus im weiteren darauf ein, von welcher Art diese Abschaffung
des Gesetzes ist (Röm. 7,1-6), und zugleich, welchen Gebrauch das Gesetz bei uns findet (Röm.
7,1-13) — eine Frage, die er bereits zweimal aufgeschoben hatte. Der Hauptinhalt dieser
Darlegungen ist nun der: wir sind von der Strenge des Gesetzes frei gemacht, um mit Christus in
festem Lebenszusammenhang zu stehen. Das Amt des Gesetzes besteht darin, daß wir von unserer
Verkehrtheit überführt werden, um unsere Ohnmacht und unser Elend zu bekennen. Weil nun aber diese
Verkehrtheit der Natur an einem unheiligen Menschen, der ohne die Furcht Gottes seinen Begierden die
Zügel schießen läßt, nicht so leicht in die Erscheinung tritt, so nimmt Paulus einen
wiedergeborenen Menschen als Beispiel, das heißt sich selbst. Er sagt also, daß er fort und fort
mit den Überresten seines Fleisches zu kämpfen hat und daß er von elender Knechtschaft in Fesseln
gehalten wird, so daß er sich dem Gehorsam gegen das göttliche Gesetz nicht völlig zu weihen
vermag. So ist er genötigt, unter Seufzen den Ausruf zu tun: "Ich elender Mensch, wer wird mich
erlösen von diesem Leibe, der dem Tode unterworfen ist?" (Röm. 7,24; nicht ganz Luthertext).
Wenn nun die Kinder Gottes in einem Kerker gefangengehalten werden, solange sie leben, so müssen
sie notwendig über der Betrachtung ihrer gefährlichen Lage in großer Angst sein, sofern dieser
Furcht nicht entgegengetreten wird. Zu diesem Zweck fügt daher Paulus den Trost an: "So ist nun
nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind" (Röm. 8,1). Damit lehrt er, daß die,
welche der Herr einmal zu Gnaden angenommen, in die Gemeinschaft mit seinem Christus eingeleibt und
durch die Taufe in die Gemeinschaft der Kirche aufgenommen hat, wenn sie im Glauben an Christus
verharren, zwar von der Sünde berannt werden und gar die Sünde in sich herumtragen mögen, aber
dennoch von Schuld und Verdammnis los sind. Wenn das eine einfache und sachgerechte Auslegung (der
Worte) des Paulus ist, so besteht kein Grund, daß jemand meint, wir trügen hier eine
ungebräuchliche Lehre vor.
IV,15,13 Unserem Bekenntnis vor den Menschen aber dient die Taufe in
folgender Weise. Sie ist nämlich ein Merkzeichen, mit dem wir öffentlich bekennen, daß wir zum
Volke Gottes gerechnet werden wollen, mit dem wir bezeugen, daß wir mit allen Christenmenschen zur
Verehrung des einen Gottes und zu einer Religion in Eintracht verbunden sind, und mit dem wir
endlich unserem Glauben vor der Öffentlichkeit Ausdruck geben, damit nicht nur unsere Herzen das
Lob Gottes atmen, sondern auch unsere Zunge und alle Glieder unseres Leibes mit allen Zeichen, die
sie von sich geben können, davon widerhallen. Denn in solcher Weise wird, wie es sich gehört,
alles, was wir haben, in den Dienst der Ehre Gottes gestellt, von der alles erfüllt sein muß, und
zugleich werden die übrigen Menschen durch unser Beispiel zu gleichem Eifer angespornt. Dies hatte
Paulus im Auge, als er die Korinther fragte, ob sie nicht in Christi Namen getauft worden seien (1.
Kor. 1,13). Denn damit deutet er an, daß sie sich eben dadurch, daß sie auf Christi Namen getauft
waren, ihm angelobt hatten, daß sie sich auf seinen Namen eidlich verpflichtet und vor den Menschen
ihre Treue an ihn gebunden hatten, so daß sie jetzt niemand anders mehr zu bekennen vermochten als
Christus allein — wofern sie nicht das Bekenntnis ableugnen wollten, das sie in der Taufe abgelegt
hatten.
IV,15,14 Nachdem wir nun dargetan haben, was unser Herr mit der Einsetzung
der Taufe bezweckt hat, können wir auch leicht ein Urteil darüber gewinnen, in welcher Weise wir
sie gebrauchen oder empfangen sollen. Denn sofern sie dazu gegeben ist, unseren Glauben
aufzurichten, zu erhalten und zu festigen, müssen wir sie gleichsam wie aus der Hand ihres Gebers
nehmen und billigerweise die Gewißheit und die Überzeugung haben, daß er es ist, der durch das
Zeichen zu uns redet, daß er es ist, der uns reinigt und abwäscht und die Erinnerung an unsere
Missetaten austilgt, daß er es ist, der uns seines Todes teilhaftig macht, der dem Satan das Reich
wegnimmt, der die Kräfte unserer Begehrlichkeit schwächt, ja, der mit uns in eins zusammenwächst,
so daß wir als solche, die ihn angezogen haben, für Kinder Gottes gelten. Diese Gaben, so behaupte
ich, reicht er unserer Seele inwendig so wahrhaftig und gewiß dar, so gewiß wir sehen, wie unser
Leib äußerlich abgewaschen, untergetaucht und umspült wird. Denn es besteht hier eine
Entsprechung oder ein Gleichnis, und die bilden die sicherste Regel bei den Sakramenten: wir sollen
in leiblichen Dingen die geistlichen empfangen, als ob sie uns vor Augen gestellt wären; denn es
hat dem Herrn gefallen, sie unter solchen Bildern zur Darstellung zu bringen. Das beruht nun nicht
darauf, daß solche Gnadengaben etwa an das Sakrament angebunden oder in es eingeschlossen wären,
damit sie uns durch die Kraft des Sakraments zuteil würden; nein, es geschieht nur darum, weil der
Herr uns unter diesen Merkzeichen seinen Willen bezeugt, nämlich eben dies, daß er uns das alles
ge-währen will. Er gewährt uns aber auch nicht nur eine Augenweide, indem er uns etwa bloß das
äußerliche Schaubild sehen ließe, sondern er führt uns an die Sache selbst heran und bringt das,
was er bildlich darstellt, zugleich wirkungskräftig zur Erfüllung.
IV,15,15 Ein Beweis für diese Ausführungen mag der Hauptmann Cornelius
sein. Er war schon zuvor der Vergebung der Sünden teilhaftig geworden, hatte schon zuvor die
sichtbaren Gnadengaben des Heiligen Geistes zum Geschenk erhalten; dann empfing er die Taufe (Apg.
10,48); aber er suchte nun aus der Taufe nicht eine reichlichere Vergebung zu erlangen, sondern dies
Unterpfand sollte ihm zu einer gewisseren Übung im Glauben, ja, zu einer Vermehrung seiner
Zuversicht dienen. Vielleicht mag aber jemand den Einwand gemacht haben: Warum sagte dann aber
Ananias zu Paulus, er solle seine Sünden durch die Taufe abwaschen (Apg. 22,16)? Was soll das für
eine Bedeutung gehabt haben, wenn doch durch die Kraft der Taufe selbst keine Abwaschung der Sünden
stattfindet? Ich antworte darauf folgendes: Wenn uns der Herr, soweit es das Empfinden unseres
Glaubens berührt, etwas darreicht, so heißt es, daß wir es empfangen, erlangen und uns erwirken,
und zwar ganz gleich, ob solche Gabe ein erstmaliges Zeugnis darstellt oder ob sie ein bereits
gegebenes Zeugnis stärker und gewisser bekräftigt. Ananias hatte also nur dies eine im Sinn: Damit
du, Paulus, Gewißheit erlangst, daß dir deine Sünden vergeben sind, so laß dich taufen; denn der
Herr verheißt in der Taufe die Vergebung der Sünden: die nimm an, und dann sei unbesorgt. Ich habe
allerdings nicht die Absicht, die Kraft der Taufe zu schmälern, als ob also zum Zeichen nicht Sache
und Wahrheit hinzuträten, sofern Gott durch die äußerlichen Mittel wirkt. Jedoch erlangen wir aus
diesem Sakrament wie aus allen anderen nur soviel, wie wir im Glauben empfangen. Fehlt der Glaube,
so wird das Sakrament zum Beweis unserer Undankbarkeit, der uns vor Gott als Angeklagte hinstellt,
weil wir uns der im Sakrament gegebenen Verheißung gegenüber ungläubig verhalten haben. Insofern
aber die Taufe ein Merkzeichen unseres Bekenntnisses ist, sollen wir dadurch das Zeugnis ablegen,
daß unsere Zuversicht in Gottes Barmherzigkeit und unsere Reinheit in der Vergebung der Sünden
besteht, die uns durch Jesus Christus zugekommen ist, und daß wir in die Kirche Gottes eintreten,
um mit allen Gläubigen in einer Einmütigkeit des Glaubens und der Liebe einträchtig zu leben.
Dies letztere hatte Paulus im Sinn, als er sagte, wir seien alle in einem Geiste getauft, um ein
Leib zu sein (1. Kor. 12,13).
IV,15,16 Wir haben nun oben festgestellt, daß das Sakrament nicht nach der
Hand dessen zu beurteilen ist, der es verwaltet, sondern gleichsam nach Gottes eigener Hand, weil es
ja ohne jeden Zweifel von Gott ausgegangen ist. Ist das aber wahr, so läßt sich daraus entnehmen,
daß dem Sakrament durch die Würdigkeit dessen, der es austeilt, nichts hinzugetan oder weggenommen
wird. Und wie es bei den Menschen, wenn ein Brief ausgesandt wird, nichts ausmacht, wer der
Briefbote oder wie dieser geartet ist, wofern nur die Handschrift und das Zeichen (des Absenders)
genugsam bekannt sind, so muß es auch uns genügen, bei den Sakramenten die Handschrift und das
Zeichen unseres Herrn zu erkennen, von welchem Boten sie uns auch schließlich zugetragen werden
mögen. Damit haben wir eine treffende Widerlegung des Irrtums der Donatisten, die die Kraft und den
Wert des Sakraments nach der Würdigkeit des Dieners (der Kirche) bemaßen. Von der gleichen Art
sind heutzutage unsere Wiedertäufer,die uns, weil wir die Taufe im päpstlichen Reiche von
Gottlosen und Götzendienern empfangen haben, bestreiten, daß wir rechtmäßig getauft seien, und
deshalb mit wilder Schärfe die Wiedertaufe verlangen. Gegen die Albernheiten dieser Leute werden
wir nun mit einem hinreichend stichhaltigen Beweisgrund gewappnet, wenn wir bedenken, daß wir durch
die Taufe nicht in den Namen irgendeines Menschen eingeweiht werden, sondern in den Namen "des
Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes" (Matth. 23,19), und daß deshalb die Taufe nicht
Sache eines Menschen, sondern Gottes Sache ist, von wem sie auch schließlich ausgeteilt sein mag.
Mögen die Leute, die uns getauft haben, auch noch so wenig Ahnung von Gott und der ganzen
Frömmigkeit gehabt, mögen sie sie auch noch so sehr verachtet haben, so haben sie uns doch nicht
dazu getauft, daß wir mit ihnen an ihrer Unwissenheit und Heiligtumsschändung Gemeinschaft haben
sollten, sondern sie haben uns zum Glauben an Jesus Christus getauft; denn sie haben nicht ihren
eigenen, sondern Gottes Namen angerufen und uns auch auf keinen anderen Namen getauft. War diese
Taufe aber Gottes Taufe, so trug sie auch unzweifelhaft die Verheißung von der Vergebung der
Sünden, der Abtötung des Fleisches, der geistlichen Lebendigmachung und des Teilhabens an Christus
in sich. In der gleichen Weise hat es den Juden nichts geschadet, daß sie von unreinen und
abtrünnigen Priestern beschnitten worden waren, auch wurde deshalb das Zeichen nicht geltungslos,
so daß es erforderlich gewesen wäre, es zu wiederholen, nein, es war genug, wenn man zu der
reinen, ursprünglichen Art zurückkehrte. Die Wiedertäufer wenden ein, die Taufe müsse doch in
der Versammlung der Frommen gefeiert werden; aber dieser Einwand hat nicht die Wirkung, die ganze
Kraft einer Sache zum Verlöschen zu bringen, die zu einem Teil in Verderbnis geraten ist. Denn wenn
wir lehren, was gebührenderweise geschehen sollte, damit die Taufe rein und von jeglicher
Befleckung ledig sei, so schaffen wir Gottes Einrichtung nicht ab, so sehr sie auch die
Götzendiener verderben mögen. Obgleich nämlich die Beschneidung einst durch viele abergläubische
Gebräuche verunstaltet war, so hörte sie deshalb doch nicht auf, als Merkzeichen der Gnade zu
gelten, und als Josia und Hiskia aus ganz Israel diejenigen sammelten, die von Gott abgefallen
waren, da riefen sie diese Leute dennoch nicht zu einer zweiten Beschneidung auf.
IV,15,17 Nun fragen uns aber die Wiedertäufer, was für ein Glaube denn von
unserer Seite eine Reihe von Jahren hindurch auf die Taufe gefolgt sei. Sie wollen mit dieser Frage
ihre Meinung durchsetzen, unsere Taufe sei eben ohne Gültigkeit gewesen, da sie ja nur dann an uns
geheiligt wird, wenn Wort und Verheißung im Glauben angenommen sind. Auf diese Frage geben wir die
Antwort: Wir waren allerdings blind und ungläubig und haben lange Zeit hindurch die Verheißung,
die uns in der Laufe gegeben war, nicht festgehalten. Die Verheißung selbst aber war von Gott und
ist deshalb allezeit unerschüttert, fest und wahrhaftig geblieben. Denn obwohl alle Menschen
lügenhaft und treubrüchig sind, so hört doch Gott nicht auf, wahrhaftig zu sein (Röm. 3,3f.),
obwohl sie alle verloren sind, so bleibt doch Christus das Heil! Wir geben also zu, daß uns die
Taufe zu jener Zeit nicht das mindeste genützt hat; denn die Verheißung, die uns in ihr
dargereicht wird und ohne welche sie nichts ist, lag vernachlässigt da. Jetzt aber, da wir durch
Gottes Gnade anfangen, umzukehren, jetzt klagen wir unsere Blindheit und Herzenshärtigkeit an, daß
wir uns so großer Güte Gottes gegenüber so lange undankbar verhalten haben. Jedoch sind wir des
Glaubens, daß die Verheißung selbst nicht zunichte geworden ist; nein, wir erwägen vielmehr: Gott
verheißt durch die Taufe die Vergebung der Sünden, und auf Grund dieser Verheißung wird er sie
ohne Zweifel allen gewähren, die da glauben. Diese Verheißung ist uns in der Taufe dargeboten
worden; also wollen wir sie im Glauben erfassen! Lange Zeit hindurch zwar war sie für uns um
unseres Unglaubens willen begraben — so wollen wir sie also jetzt durch den Glauben ergreifen! Als
daher der Herr das jüdische Volk zur reuigen Umkehr auffordert, da gibt er ihm keine Vorschrift
über eine Wiederholung der Beschneidung — obwohl es doch, wie gesagt, von gottlosen und
frevlerischen Händen beschnitten war und lange Zeit hindurch in der Umstrickung durch dich
nämliche Gottlosigkeit gelebt hatte — nein, er dringt allein auf die Bekehrung des Herzens. Denn
so sehr der Bund von diesem Volk verletzt worden war, so blieb doch das Merkzeichen solchen Bundes
auf Grund der Einsetzung des Herrn allezeit fest und unverletzlich. Die reuige Umkehr war also die
einzige Bedingung für die Wiederaufnahme des Volkes in den Bund, den Gott in der Beschneidung
einmal mit ihm geschlossen hatte — in der Beschneidung, die es allerdings durch die Hand
bundbrüchiger Priester empfangen und seinerseits, soviel es das vermochte, aufs neue befleckt und
in ihrer Wirkung zum Erlöschen gebracht hatte.
IV,15,18 Jetzt hoffen aber die Wiedertäufer ein feuriges Geschoß gegen uns
loszuschleudern, indem sie darauf verweisen, daß Paulus doch Leute wiedergetauft habe, die die
Taufe des Johannes schon einmal empfangen hatten (Apg. 19,3.5). Nun war aber doch nach unserem
Zugeständnis die Taufe des Johannes voll und ganz die gleiche wie heutzutage die unsrige: wie also
jene Leute (Apg. 19), die zuvor verkehrt unterwiesen waren, nach ihrer Unterweisung im rechten
Glauben auf solchen Glauben wiedergetauft wurden, so ist auch jene (von uns unter dem Papsttum
empfangene) Taufe, die ohne die wahre Lehre blieb, (an und für sich) für nichts zu achten, und wir
müssen aufs neue getauft werden, und zwar auf die wahre Religion, in der wir jetzt erstmalig
unterwiesen sind. (Soweit die gegnerische Meinung.) Manche haben nun die Ansicht, es habe da einen
falschen Nachfolger des Johannes gegeben, der diese Leute (von denen Apg. 19 die Rede ist) mit der
ersten Taufe in einem eitlen Aberglauben eingeweiht hätte. Eine Vermutung in dieser Richtung
scheinen sie der Tatsache zu entnehmen, daß die genannten Johannesjünger bekennen, sie seien ohne
jegliche Kunde vom Heiligen Geiste, während doch Johannes nie und nimmer Jünger von solcher
Unkundigkeit von sich ausgesandt hätte. Nun ist es aber nicht wahrscheinlich, daß es (überhaupt)
Juden gegeben haben sollte, die — auch wenn sie durchaus keine Taufe empfangen hätten —
jeglicher Kenntnis des Heiligen Geistes bar gewesen wären, wo dieser doch in so vielen Zeugnissen
der Schrift kundgemacht wird. Wenn diese Johannesjünger also die Antwort geben, sie wüßten nicht,
"ob ein heiliger Geist sei" (Apg. 19,2), so ist das so zu verstehen, als wenn sie gesagt
hätten, sie hätten noch nicht gehört, ob die Gnadengaben des Geistes, über die sie von Paulus
befragt wurden, den Jüngern Christi zuteil würden. Ich gebe nun aber meinerseits zu, daß die
Taufe, die diese Leute empfangen hatten, die wahrhaftige Taufe des Johannes und (damit) ein und
dasselbe gewesen ist wie die Taufe Christi. Dagegen bestreite ich, daß sie aufs neue getauft worden
wären. Was bedeuten nun die Worte: "Da ließen sie sich taufen auf den Namen ... Jesu" (Apg.
19,5)? Manche erläutern diese Stelle so, als ob diese Jünger durch Paulus nur in der lauteren
Lehre unterwiesen worden wären. Ich möchte es aber einfältiger so verstehen, daß sie durch
Auflegung der Hände die Taufe des Heiligen Geistes, das heißt die sichtbaren Gnadengaben des
Geistes, zum Geschenk bekommen haben. Es ist ja nicht neu, daß eben diese Gaben mit dem Namen "Taufe"
bezeichnet werden. So wird berichtet, daß sich die Apostel am Tage der Pfingsten an die Worte des
Herrn von der Taufe mit Feuer und Heiligem Geist erinnert haben (Apg. 1,5). Und Petrus erwähnt,
daß ihm die nämlichen Worte (Christi) ins Gedächtnis gekommen sind, als er die Gnadengaben
gewahrte, die sich auf Cornelius, sein Haus und seine Verwandtschaft ergossen hatten (Apg. 11,16).Zu
der hier gegebenen Deutung unserer Stelle (Apg. 19) steht es auch nicht im Widerspruch, daß es
nachher weiter heißt: "Und da Paulus die Hände auf sie legte, kam der Heilige Geist auf sie"
(Apg. 19,6). Denn Lukas erzählt hier nicht zwei verschiedene Vorgänge, sondern er schließt sich
der bei den Hebräern gebräuchlichen Erzählungsform an: diese stellen zunächst den wesentlichen
Inhalt der Sache an die Spitze und legen die Sache dann ausführlicher dar. Dies kann (an unserer
Stelle) jedermann an dem Zusammenhang der Worte selbst beobachten. Lukas sagt nämlich: "Da sie
das hörten, ließen sie sich taufen auf den Namen ... Jesu. Und da Paulus die Hände auf sie legte,
kam der Heilige Geist auf sie" (Apg. 19,5f.). In der zweiten Aussage wird beschrieben, wie es bei
der (im ersten Satzglied allgemein erwähnten) Taufe (im einzelnen) zugegangen ist. Wenn nämlich
die Unwissenheit (dieser Jünger) die frühere Taufe mit einem Mangel behaftete, so daß sie durch
eine zweite zurechtgebracht werden müßte, so hätten von allen Menschen zuallererst die Apostel
wiedergetauft werden müssen, die all die drei Jahre nach ihrer Taufe kaum ein geringes Stücklein
der reinen Lehre in sich aufgenommen hatten. Und wieviel Ströme würden bei uns wohl hinreichend
sein, um so viele Taufen zu wiederholen, soviel Unwissenheit durch des Herrn Barmherzigkeit Tag für
Tag an uns gestraft wird?
IV,15,19 Kraft, Würde, Nutzen und Zweck dieses Geheimnisses (Sakraments)
müssen, wenn ich mich nicht irre, jetzt zureichend geklärt sein. Was nun das äußerliche
Merkzeichen (d.h. die äußerliche Gestaltung der Taufe) betrifft, — ach, wenn da doch Christi
ursprüngliche Einrichtung in dem Maße ihre Gültigkeit behalten hätte, daß sie imstande gewesen
wäre, den Vorwitz der Menschen in Schranken zu halten! (Tatsächlich aber war es ganz anders.) Als
ob es eine verächtliche Sache wäre, nach Christi Weisung mit Wasser getauft zu werden, so hat man
eine Einsegnung oder besser eine Verzauberung des Wassers erfunden, die dazu führte, daß die
wahrheitsgemäße Weihe des Wassers befleckt wurde. Dann hat man nachher noch die Wachskerze und das
Salböl folgen lassen, und man war der Meinung, erst das Anblasen (des Täuflings durch den
Priester) eröffnete der Taufe den Zugang. Es ist mir zwar durchaus bekannt, wie althergebracht
dieses Gemisch von fremdartigen Zusätzen ist; aber es ist trotzdem recht und billig, daß ich samt
allen Frommen alles mit Abscheu von mir weise, was die Menschen zu Christi Einsetzung hinzuzufügen
sich erdreistet haben. Als nun der Satan gewahrte, wie durch die törichte Leichtgläubigkeit der
Welt fast schon in den Ausgangszeiten des Evangeliums seine Betrügereien ohne Mühe zur Annahme
gelangten, da ging er weiter vor und brachte noch gröberen Spott und Hohn auf: daher kommt es denn,
daß man in zügelloser Willkür das Spützen und anderes Possenzeug zu offenbarer Schmähung der
Taufe eingeführt hat. An dergleichen Erfahrungen sollen wir lernen, daß es nichts Heiligeres,
nichts Besseres und nichts Gefahrloseres gibt, als daß man sich an der Autorität Christi allein
genügen läßt. Daher wäre es besser, man ließe allen schaubühnenhaften Prunk beiseite, der die
Augen der Einfältigen blendet und ihre Sinne abstumpft, und hielte folgendes Verfahren ein: Sooft
jemand getauft werden soll, läßt man ihn bei der Versammlung der Gläubigen gegenwärtig sein und
stellt ihn Gott dar, wobei die ganze Kirche wie ein Zeuge ihr Augenmerk auf den Vorgang hat und
über den Täufling betet; darauf wird das Glaubensbekenntnis gesprochen, in welchem der Neuling
unterwiesen werden soll, die Verheißungen werden mitgeteilt, die für die Taufe gelten; dann wird
der Neuling auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft (Matth. 28,19),
und schließlich wird er unter Gebet und Danksagung entlassen. Bei diesem Verfahren wäre nichts
ausgelassen, was zur Sache gehört, und jene eine Zeremonie, die von Gott, dem Urheber des
Sakraments, ausgegangen ist, würde ohne Überdeckung durch irgendwelchen fremdartigen Schmutz aufs
klarste erstrahlen. Im übrigen macht es rein nichts aus, ob der Täufling ganz untergetaucht wird,
ob das einmal oder dreimal geschieht, oder ob man ihn bloß mit Wasser übergießt und damit
besprengt. Das muß vielmehr nach der Verschiedenheit der Länder den Kirchen freistehen. Allerdings
bedeutet das Wort "Taufen" selbst soviel wie "Untertauchen", und es steht fest, daß die
Alte Kirche den Brauch der Untertauchung festgehalten hat.
IV,15,20 Weiter ist es belangreich zu wissen, daß es ein verkehrtes
Verfahren ist, wenn sich amtlose Leute die Verwaltung der Taufe anmaßen. Denn die Ausübung der
Taufe ist wie auch die Austeilung des Heiligen Abendmahls ein Teil des kirchlichen Amtes. Auch hat
doch Christus den Auftrag zum Taufen nicht an Frauen oder an irgendwelche beliebigen Menschen
erteilt, sondern er hat diese Aufgabe denen zugewiesen, die er als Apostel eingesetzt hatte. Und
wenn er seinen Jüngern gebot, sie sollten bei der Austeilung des Heiligen Abendmahls so verfahren,
wie er es selbst vor ihren Augen gemacht hatte, so hatte er dabei doch unzweifelhaft, da er ja das
Amt eines rechten Verwalters dieses Sakraments ausübte, den Willen, daß sie bei ihrem Tun seinem
Beispiel nachfolgen sollten. Es hat sich nun seit vielen Jahrhunderten, ja, bereits seit der
Ursprungszeit der Kirche der Gebrauch durchgesetzt, daß bei Lebensgefahr auch Leute aus dem Volke ("Laien")
die Taufe übten, sofern kein Diener am Wort zeitig genug zugegen war. Ich sehe nun aber nicht, mit
was für einer stichhaltigen Begründung man das verteidigen könnte. Auch die Alten selbst, die
diese Sitte entweder innehielten oder doch duldeten, waren sich nicht darüber im klaren, ob es mit
Recht so gemacht würde. Denn Augustin gibt diesem Zweifel Ausdruck, wenn er sagt: "Wenn schon ein
Laie unter dem Druck der Not die Taufe erteilt hat, so weiß ich nicht, ob es fromm gehandelt wäre,
wenn jemand behauptete, man müsse eine solche Taufe wiederholen. Denn wenn dergleichen ohne jede
zwingende Notwendigkeit geschieht, so ist es die Anmaßung eines fremden Amtes; drängt dagegen die
Not, so ist es entweder überhaupt kein Vergehen oder doch ein läßliches" (Gegen den Brief des
Parmenian II,13,29). Was die Frauen betrifft, so ist auf dem Konzil zu Karthago ohne jede Ausnahme
der Beschluß gefaßt worden, sie sollten es sich unter keinen Umständen herausnehmen, zu taufen.
Aber, so wird man entgegnen, es besteht doch die Gefahr, daß der Kranke, falls er ohne Taufe
dahinscheidet, der Gnadengabe der Wiedergeburt verlustig geht! Nein, durchaus nicht. Wenn Gott die
Verheißung, gibt, daß er unser Gott sein will und der Gott unseres Samens nach uns (Gen. 17,7), so
kündigt er uns damit an, daß er unsere Kinder schon vor ihrer Geburt zu den Seinen annimmt. In
jenem Wort ist ihr Heil beschlossen. Und es wird sich doch niemand erdreisten, Gott dermaßen seine
Verachtung zu bezeugen, daß er es bestreiten wollte, daß Gottes Verheißung aus sich selbst heraus
stark genug ist, ihre Wirkung zu zeitigen! Wieviel Schaden jener übelerdachte Glaubenssatz mit sich
gebracht hat, nach welchem die Taufe heilsnotwendig sein soll, das merken nur wenige, und deshalb
nimmt man sich auch recht wenig vor ihm in acht. Denn wenn sich einmal die Ansicht durchgesetzt hat,
daß alle verlorengehen, denen es nicht beschieden war, mit Wasser getauft zu werden, so ist ja
unsere Lage übler als die des Alten Volkes, es steht dann geradezu so, als ob der Gnade Gottes bei
uns engere Grenzen gezogen wären als unter dem Gesetz; denn unter solchen Umständen muß man ja
meinen, Christus sei nicht gekommen, die Verheißungen zu erfüllen, sondern sie zunichtezumachen,
weil ja dann die Verheißung an und für sich, die dazumal Wirkkraft genug besaß, um einem Kinde
vor Ablauf des achten Tages (an dem dieBeschneidung stattfinden sollte) das Heil zu verschaffen,
heute ohne die Beihilfe des Zeichens keine Gültigkeit hätte.
IV,15,21 Was für eine Gepflogenheit vor Lebzeiten des Augustin geherrscht
hat, das ergibt sich zunächst aus Tertullian, der berichtet, einer Frau sei es nicht gestattet, in
der Kirche zu reden, auch nicht zu lehren, zu taufen und zu opfern, damit sie nicht die Aufgabe
eines dem Manne, geschweige denn eines dem Priester zustehenden Amtes für sich beanspruchte (De
velandis virginibus 9). Ein vollgültiger Zeuge für den gleichen Sachverhalt ist Epiphanius, der an
einer Stelle dem Marcion vorwirft, er gäbe den Frauen die Freiheit zu taufen (Gegen den Ketzer
Marcion Panarion 42,4). Ich kenne auch sehr wohl die Antwort derjenigen, die die entgegengesetzte
Ansicht vertreten; sie sagen nämlich, es bestehe doch ein großer Unterschied zwischen der
gewöhnlichen Übung und einem außerordentlichen Mittel, das beim Drang der äußersten Not zur
Anwendung komme. Epiphanius aber erklärt, es sei Hohn und Spott, wenn man den Frauen die Freiheit
zum Taufen gebe, und er macht dabei keine Ausnahme: daraus ergibt sich also deutlich genug, daß
dieser Unfug von ihm verdammt wird, so daß er unter keinem Vorwande beschönigt werden kann (ebenda
42,4). Auch im dritten Buche (seiner Schrift), wo er die Lehre vertritt, selbst die heilige Mutter
Christi habe solche Erlaubnis nicht gehabt, fügt er keine Einschränkung hinzu (ebenda 79,3).
IV,15,22 Unangebracht ist es, wenn man hier das Beispiel der Zippora
anführt (Ex. 4,25). Da sich nämlich der Engel Gottes beruhigte, nachdem Zippora einen Stein
genommen und ihren Sohn damit beschnitten hatte, so zieht man daraus fälschlich die Folgerung: also
habe ihr Tun die Billigung Gottes gefunden. Wäre das richtig, so müßte man auch behaupten, der
Gottesdienst, den die von Assyrien herangeführten Heiden aufgerichtet hatten, habe Gott
wohlgefallen. Es läßt sich aber mit anderen triftigen Gründen nachweisen, daß es unbedacht ist,
wenn man das Vorgehen jener törichten Frau als etwas zur Nachahmung Bestimmtes hinstellt. Es würde
schon voll und ganz zur Widerlegung dieser Ansicht genügen, wenn ich sagte: dies vorgehen der Frau
ist etwas Einzigartiges gewesen und darf deshalb nicht als Beispiel verwendet werden, zumal da man
nirgendwo zu lesen bekommt, daß in alter Zeit die Priester in besonderer Weise den Auftrag zur
Beschneidung überkommen haben, und Beschneidung und Taufe also (in dieser Hinsicht) verschieden
gestellt sind. Christi Worte nämlich sind klar und deutlich: "Gehet hin ... und lehret alle
Völker und taufet sie ..." (Matth. 28,19). Denn er hat ja die nämlichen Männer zu Herolden des
Evangeliums und zu Dienern der Taufe eingesetzt; nun darf sich aber in der Kirche nach dem Zeugnis
des Apostels niemand eine Ehre anmaßen, er sei denn "berufen ... gleichwie Aaron" (Hebr. 5,4);
wer also tauft, ohne rechtmäßig berufen zu sein, der greift in ein fremdes Amt (vgl. 1. Petr.
4,15). Paulus spricht es doch laut und deutlich aus, daß auch bei ganz geringfügigen Dingen wie
bei Speise und Trank alles "Sünde" ist, was wir mit bedenklichem Gewissen angreifen (Röm.
14,23). Läßt man also die Taufe durch Frauen geschehen, so liegt darin eine noch viel schwerere
Versündigung, weil ja auf diese Weise offenkundig die von Christus gelehrte Regel verletzt wird;
denn wir wissen, daß es uns verboten ist, das auseinanderzureißen, was Gott verbindet. Aber alles
dies lasse ich beiseite; ich möchte nur, daß der Leser sein Augenmerk darauf richtet, daß Zippora
nichts weniger im Sinne hatte, als Gott einen Dienst zu leisten. Sie sah ihren Sohn in Gefahr, und
nun geriet sie in Ärger und Murren hinein und schleuderte, nicht ohne Entrüstung, seine Vorhaut
zur Erde; damit be-schimpfte sie aber ihren Mann derart, daß sie zugleich gegen Gott selbst
zürnte. Kurz, es liegt auf der Hand, daß ihr ganzes Verhalten aus innerlicher Zuchtlosigkeit
erwachsen ist; denn sie empörte sich gegen Gott und ihren Mann, weil sie sich genötigt sah, das
Blut ihres Sohnes zu vergießen. Zudem ist auch zu bedenken: selbst wenn sie sich in allen anderen
Dingen rechtschaffen verhalten hätte, so bliebe es doch jedenfalls ein unentschuldbarer Vorwitz,
daß sie ihren Sohn in Gegenwart ihres Mannes beschnitt und — und dabei war doch dieser ihr Mann
nicht irgendein beliebiger amtloser Mensch, sondern eben Mose, Gottes vornehmster Prophet, der so
groß war, daß in Israel nie ein größerer aufgestanden ist als er. Zippora hatte also zu ihrem
Tun ebensowenig das Recht, wie es etwa (auch nach der Meinung der Gegner) heutzutage die Frauen (zur
Taufe) unter den Augen eines Bischofs hätten. Aber diese Erörterung wird ohne Not alsbald von dem
Grundsatz zur Klärung gebracht: wenn es Kindern widerfährt, daß sie aus dem gegenwärtigen Leben
wieder ausziehen müssen, ehe es ihnen geschenkt war, im Wasser untergetaucht (d.h. getauft) zu
werden, so werden sie dadurch nicht vom Himmelreich ausgeschlossen. Im Gegenteil: wir haben bereits
gesehen, daß wir Gottes Bund keine geringe Unehre widerfahren lassen, wenn wir uns nicht auf ihn
verlassen (und etwa so tun), als ob er an und für sich kraftlos wäre. Denn seine Wirkung ist weder
von der Taufe noch von irgendwelchen Zusätzen abhängig. Das Sakrament kommt dann wie ein Siegel
hinterher; aber nicht, als ob es Gottes Verheißung, die an und für sich kraftlos wäre, erst
Geltung verschaffte, sondern es soll sie uns ausschließlich bekräftigen. Daraus ergibt sich: die
Kinder der Gläubigen werden nicht zu dem Zweck getauft, daß sie nun erst Kinder Gottes würden,
während sie zuvor fremd außerhalb der Kirche gestanden hätten; nein, sie werden darum mit einem
feierlichen Zeichen in die Kirche aufgenommen, weil sie kraft der Gnadengabe der Verheißung schon
zuvor zum Leibe Christi gehört haben. Wenn also bei der Unterlassung des Zeichens weder Trägheit
noch Geringschätzung, noch Nachlässigkeit waltet, so sind wir vor aller Gefahr sicher. Es ist also
viel heiliger, wenn wir der Anordnung Gottes solche Ehrerbietung erweisen, daß wir keine Sakramente
anderswoher suchen als daher, wo der Herr sie niedergelegt hat. Und können wir solche Sakramente
nicht von der Kirche erlangen — so gilt doch: Gottes Gnade ist nicht dergestalt an die Sakramente
gebunden, daß wir sie nicht (auch ohne sie) im Glauben aus dem Worte Gottes erlangten!
Die Kindertaufe steht mit Christi Stiftung und mit dem Wesen des Zeichens aufs beste
im Einklang
IV,16,1 Nun haben aber zu unserer Zeit gewisse krankhafte Geister wegen der
Kindertaufe schwere Wirrnisse in der Kirche erregt, und sie lassen auch noch nicht davon ab, Aufruhr
zu machen. Ich kann angesichts dieser Tatsache nicht umhin, hier einen Anhang folgen zu lassen, um
das Wüten dieser Leute in Schranken zu weisen. Wenn dieser Anhang jemandem zu weitläufig vorkommt,
so bitte ich, der Betreffende wolle bei sich erwägen, wie doch die Reinheit der Lehre bei einer so
ausnehmend wichtigen Sache und wie ebenfalls der Friede der Kirche bei uns von solchem Wert sein
müssen, daß man etwas, das zu ihrer Herbeiführung beitragen mag, ohne Widerwillen aufnehmen muß.
Außerdem werde ich mich bemühen, diese Erörterung derartig einzurichten, daß sie nicht wenig
dazu dienen wird, das Geheimnis der Taufe klarer zu erläutern. Der Beweisgrund, mit dem die
genannten Leute gegen die Kindertaufe angehen, ist dem Anschein nach wirklich beifallswürdig: sie
erklären nämlich, die Kindertaufe sei auf keine Einsetzung Gottes begründet, sondern bloß durch
die Vermessenheit und den verkehrten Vorwitz der Menschen aufgebracht worden und dann in törichter
Leichtfertigkeit ohne Überlegung zur Annahme gekommen. (Dieser Beweisgrund scheint gut zu sein.)
Denn wenn sich ein Sakrament nicht auf das sichere Fundament des Wortes Gottes stützt, so hängt es
an einem Faden. Was will man aber sagen, wenn es sich bei rechter Betrachtung der Sache klar
herausstellen wird, daß man solche Schmach fälschlich und unbillig der heiligen Anordnung Gottes
aufbrennt? Wir wollen also zunächst die Entstehung der Kindertaufe untersuchen. Und wenn es sich
dann herausstellen sollte, daß sie allein von der Unbedachtheit der Menschen ersonnen ist, so
wollen wir sie fahrenlassen und die wahre Übung der Taufe ausschließlich nach dem Worte Gottes
bemessen. Erweist es sich aber, daß die Kindertaufe durchaus nicht ohne die gewisse Autorität
Gottes besteht, so müssen wir uns davor hüten, durch Untergrabung der heiligen Einrichtungen
Gottes auch gegen ihren Urheber selbst Verachtung zu zeigen.
IV,16,2 Zunächst ist es ein hinreichend bekannter und bei allen Frommen
angenommener Satz, daß die rechte Betrachtung der Zeichen nicht bloß auf den äußeren Zeremonien
beruht, sondern vor allem von der Verheißung abhängt und von den geistlichen Geheimnissen, zu
deren Darstellung der Herr eben die Zeremonien anordnet. Wer also gründlich feststellen will, was
für einen Wert die Taufe hat, welchem Zweck sie dient, kurz, was sie überhaupt ist, der darf seine
Erkenntnis nicht bei dem "Element" oder bei dem leiblichen Anblick stehenbleiben lassen, sondern
muß sie vielmehr zu den Verheißungen Gottes emporrichten, die uns darin dargeboten, und zu den
tieferen Verborgenheiten, die uns darin vergegenwärtigt werden. Wer die kennt, der hat die
wohlbegründete Wahrheit der Taufe und sozusagen ihre ganze Substanz erfaßt, und von da aus wird er
dann auch darüber belehrt werden, was die äußerliche Besprengung für einen Sinn und Nutzen hat.
Und auf der anderen Seite: wer jene entscheidenden Dinge verächtlich beiseite läßt und seinen
Sinn voll und ganz an die äußere Zeremonie geheftet und festgebunden hält, der wird weder die
Kraft noch das eigentliche wesender Taufe verstehen, ja, er wird nicht einmal begreifen, was das
Wasser (dabei) bedeutet und welchen Nutzen es hat. Dieser Satz ist von zu vielen und zu klaren
Zeugnissen der Schrift bewiesen, als daß es vonnöten wäre, vorderhand nochweiter auf ihn
einzugehen. Es bleibt uns also noch die Aufgabe übrig, auf Grund der in der Taufe gegebenen
Verheißungen danach zu forschen, was die Kraft und das Wesen der Taufe ist. Die Schrift zeigt, daß
wir in der Taufe erstens auf die Reinigung von den Sünden hingewiesen werden, die wir durch Christi
Blut erlangen. Zum Zweiten werden wir in der Taufe nach dem Zeugnis der Schrift auf die Ertötung
des Fleisches hingewiesen, die in dem Teilhaben am Tode Christi besteht, durch welchen die
Gläubigen zu einem neuen Leben wieder, geboren werden, — und damit auch (drittens) auf die
Gemeinschaft mit Christus. Zu dieser Hauptsumme läßt sich alles in Beziehung setzen, was in der
Schrift über die Taufe gelehrt ist; abgesehen davon, daß die Taufe außerdem auch ein Merkzeichen
für die Bezeugung der Religion vor den Menschen ist.
IV,16,3 Nun stand aber für das Volk Gottes vor Einrichtung der Taufe an
deren Stelle die Beschneidung, und wir wollen also untersuchen, welcher Unterschied zwischen diesen
beiden Zeichen besteht und in welchen gemeinsamen Eigenschaften sie übereinstimmen. Daraus soll
dann auch deutlich werden, was vom einen zum anderen hinüberführt. Als der Herr dem Abraham den
Auftrag gibt, die Beschneidung zu üben, da sagt er vorweg, er wolle sein und seines Samens Gott
sein (Gen. 17,7.10). Dabei fügt er hinzu, wie die Fülle und der vollgenügende Reichtum aller
Dinge bei ihm liegt (Gen. 17,1.6.8), damit Abraham dafür hält, daß seine Hand für ihn der
Brunnquell alles Guten sein werde. In diesen Worten ist die Verheißung des ewigen Lebens enthalten.
So legt sie Christus aus und entnimmt ihnen den Beweis, um die Unsterblichkeit und Auferstehung der
Gläubigen darzutun. Denn Gott, so sagt er, "ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen"
(Matth. 22,32; Luk. 20,38). In dem gleichen Sinne äußert sich Paulus: er will den Ephesern zeigen,
aus was für einem Verderben sie der Herr befreit hatte, und dazu zieht er aus der Tatsache, daß
sie zu dem Bund der Beschneidung keinen Zutritt gehabt hatten, die Folgerung, sie seien damals "ohne
Christum", "ohne Gott", "ohne Hoffnung" und "fremd den Testamenten der Verheißung"
gewesen (Eph. 2,12) — denn alles das umschloß eben dieser Bund! Nun besteht aber der erste Zugang
zu Gott, der erste Schritt zu unsterblichem Leben in der Vergebung der Sünden. Daher ergibt sich,
daß der Verheißung von unserer Reinigung, die uns in der Taufe gegeben wird, diese (in der
Beschneidung gegebene) entspricht. Nachher legt der Herr dem Abraham die Verpflichtung auf, in
Aufrichtigkeit und Unschuld des Herzens "vor ihm zu wandeln" (Gen. 17,1) — das steht zu der
Abtötung und Wiedergeburt in Beziehung (wie sie in der Taufe zur Darstellung kommt). Und damit sich
niemand im unklaren darüber ist, daß die Beschneidung ein Zeichen der Abtötung ist, so gibt Mose
an anderer Stelle noch eine deutlichere Darlegung, indem er nämlich das israelitische Volk dazu
ermahnt, dem Herrn die Vorhaut seines Herzens zu beschneiden (Deut. 10,16), und zwar darum, weil es
"aus allen Völkern" der Erde zu Gottes Volk erwählt worden sei (Deut. 10,15). Wie Gott, als er
sich die Nachkommenschaft des Abraham zum Volke annimmt, den Befehl zur Beschneidung gibt (Gen. 17),
so tut Mose kund, daß das Volk an seinem Herzen beschnitten werden muß, und damit legt er eben
dar, was die Wahrheit (d.h. das wahre Wesen) der fleischlichen Beschneidung ist (Deut. 30,6). Und
damit sich keiner aus eigener Kraft um solche Herzensbeschneidung mühte, so lehrt Mose, daß sie
ein Werk der Gnade Gottes ist. Das alles wird von den Propheten so oft eingeschärft, daß es nicht
erforderlich ist, hier die vielen Zeugnisse aufzuführen, die einem ohne weiteres immer wieder
begegnen.Wir stellen also fest, daß den Vätern in der Beschneidung die gleiche geistliche
Verheißung zuteil geworden ist, wie sie uns in der Taufe gegeben wird; denn die Beschneidung gab
ihnen eine bildliche Darstellung der Vergebung der Sünden und der Abtötung des Fleisches. Und
außerdem: wie nach unserer obigen Darlegung das Fundament der Taufe Christus ist, in welchem diese
beiden Gaben (Vergebung der Sünden und Abtötung des Fleisches) liegen, so ist er zweifellos auch
das Fundament der Beschneidung. Denn er wird dem Abraham verheißen, und in ihm der Segen über alle
Völker. Zur Versiegelung dieser Gnade aber wird ja das Zeichen der Beschneidung hinzugefügt.
IV,16,4 Jetzt läßt sich ohne Mühe feststellen, was in diesen beiden
Zeichen Ähnliches liegt und was sie voneinander unterscheidet. Die Verheißung, in der nach unserer
Darstellung die Kraft der Zeichen besteht, ist bei beiden dieselbe: es ist eben die Verheißung der
väterlichen Huld Gottes, der Vergebung der Sünden und des ewigen Lebens. Zweitens ist auch die im
Bilde veranschaulichte Sache (res figurata) eine und dieselbe, nämlich die Wiedergeburt. Das
Fundament, auf dem die Erfüllung dieser Dinge beruht, ist bei beiden das gleiche. Daher liegt in
dem inwendigen Geheimnis, auf Grund dessen die ganze Kraft und Eigenart der Sakramente beurteilt
werden muß, keinerlei Unterschied. Der Unterschied, der noch bleibt, der liegt in der äußerlichen
Zeremonie, die doch das geringste Stück ist — denn das wichtigste beruht ja auf der Verheißung
und der im Bilde veranschaulichten Sache. Daher kann man feststellen, daß sich alles, was zur
Beschneidung paßt, zugleich auch auf die Taufe bezieht, abgesehen von dem Unterschied in der
äußerlichen Zeremonie. Auf diesen Zusammenhang und diesen Vergleich werden wir bei der Hand
geleitet durch die Regel des Apostels, in der uns geboten wird, alle Auslegung der Schrift nach dem
Verhältnismaß des Glaubens (analogia fidei) auszurichten (Röm. 12,3.6). Und in der Tat tritt die
Wahrheit in diesem Stück dermaßen vor uns hin, daß wir sie schier betasten können. Denn genau
wie einst für die Juden der erste Schritt in die Kirche in der Beschneidung bestand, weil sie ihnen
ja gewissermaßen als Merkzeichen diente, vermöge dessen sie Gewißheit davon erlangten, daß sie
in Gottes Volk und Hausgenossenschaft aufgenommen wurden, und mit dem sie auch wiederum ihrerseits
versprachen, Gott nachzufolgen — genau so werden auch wir durch die Taufe Gott geweiht, um zu
seinem Volke hinzugerechnet zu werden und uns wiederum auch selbst eidlich an ihn zu binden. Daraus
ergibt sich unstreitig, daß die Taufe an die Stelle der Beschneidung getreten ist, um an uns das
gleiche Amt zu erfüllen.
IV,16,5 Wir wollen jetzt der Frage nachgehen, ob es recht ist, wenn man die
Taufe auch Kindern zuteil werden läßt. Wenn sich nun hier jemand bloß bei dem Element des Wassers
und bei der äußerlichen Übung aufhalten will, es aber nicht unternimmt, seinen Sinn dem
geistlichen Geheimnis zuzuwenden — müssen wir dann nicht sagen, daß der sich gar zu albern
verhält, ja, Wahnvorstellungen hegt? Trägt man aber diesem geistlichen Geheimnis Rechnung, so wird
man ohne Zweifel feststellen, daß die Taufe den Kindern mit Recht zugedient wird, und zwar weil sie
ihnen eben zukommt. Denn der Herr hat in alter Zeit die Kinder nicht der Beschneidung gewürdigt,
ohne sie (damit) all der Dinge teilhaftig zu machen, die dazumal durch die Beschneidung angezeigt
wurden. Sonst, wenn er sein Volk mit trügerischen Merkzeichen verführt hätte, so hätte er mit
ihm ja in lauter Gaukeleien seinen Spott getrieben — und das ist schon abscheulich anzuhören!
Denn er gibt doch ausdrücklich kund, daß die Beschneidung eines Kindleins gleich einem Siegel
wirken sollte, um die Verheißung des Bundes zu versiegeln. Bleibt der Bund nun aber fest und
unerschüttert bestehen, so kommt er heute den Kindern der Christen nicht weniger zu, als er sich
unter dem Alten Testament auf die Kinder der Juden bezog. Und wenn sie nun der im Zeichen
veranschaulichten Sache teilhaftig sind, weshalb soll ihnen dann das Zeichen vorenthalten werden?
Wenn sie die Wahrheit erlangen, weshalb soll man ihnen das Bild verwehren? Allerdings hängt bei dem
Sakrament das äußere Zeichen derart mit dem Wort zusammen, daß es nicht von ihm losgerissen
werden kann. Soll aber (trotzdem) eine Unterscheidung stattfinden, so frage ich: welches von beiden
wollen wir denn höher achten? Es ist doch in der Tat so: da wir sehen, daß das Zeichen dem Worte
dienstbar ist, so werden wir sagen, daß es ihm nachsteht, und wir werden ihm den niedrigeren Platz
zuweisen. Wenn also das Wort (in) der Taufe für die Kinder bestimmt ist — weshalb soll man ihnen
dann das Zeichen, das heißt: das Anhängsel zum Wort, vorenthalten? Wenn außer diesem einen Grunde
auch keine anderen zur Verfügung stünden, so würde er doch vollauf hinreichen, um alle zu
widerlegen, die hätten Einspruch erheben wollen. Man macht aber den Einwand, für die Beschneidung
habe ein festgelegter Tag bestanden (für die Taufe dagegen nicht). Aber das ist offenkundig eine
Ausflucht. Wir geben zu, daß wir nicht mehr wie die Juden an bestimmte Tage gebunden sind, aber
wenn der Herr zwar keinen Tag vorschreibender trotzdem erklärt, daß es ihm wohlgefällt, daß die
Kinder in feierlichem Brauch in seinen Bund aufgenommen werden — was verlangen wir dann mehr?
IV,16,6 Jedoch eröffnet uns die Schrift eine noch gewissere Erkenntnis der
Wahrheit. Denn es ist doch im höchsten Maße offenkundig, daß der Bund, den der Herr einmal mit
Abraham geschlossen hat, für die Christen heute nicht weniger Bestand besitzt als einst für das
jüdische Volk, und daß sich darum auch jenes Wort nicht weniger auf die Christen bezieht als
damals auf die Juden (vgl. Gen. 17,10). Wir müßten sonst schon der Meinung sein, Christus hätte
durch sein Kommen die Gnade des Vaters vermindert oder verkürzt — und solche Meinung wäre ja
nicht frei von abscheulicher Gotteslästerung! So wurden also die Kinder der Juden, weil sie, zu
Erben des Bundes gemacht, von den Kindern der Gottlosen unterschieden wurden, als "heiliger Same"
bezeichnet (Esra 9,2), und eben aus dem nämlichen Grunde gelten nun die Kinder der Christen als
heilig, selbst wenn nur einer der Eltern, von denen sie abstammen, gläubig ist, und nach dem
Zeugnis des Apostels unterscheiden sie sich von dem unreinen Samen der Abgöttischen (1. Kor. 7,14).
Nun hat der Herr, gleich nachdem er mit Abraham den Bund geschlossen hatte, das Gebot gegeben,
diesen Bund in einem äußeren Zeichen den Kindern zu versiegeln (Gen. 17,12); was für einen Grund
sollen also die Christen angeben können, weshalb sie diesen Bund nicht auch heute vor ihren Kindern
bezeugen und versiegeln sollten? Es soll mir auch keiner den Einwand machen, nach der Vorschrift des
Herrn sei kein anderes Merkzeichen zur Bekräftigung seines Bundes bestimmt gewesen als eben die
Beschneidung, und die sei ja schon seit langer Zeit abgeschafft. Denn hier läßt sich leicht
entgegnen: Gott hat für die Zeit des Alten Testaments zur Bekräftigung seines Bundes die
Beschneidung eingesetzt; nachdem diese nun abgeschafft ist, bleibt doch allezeit die gleiche
Begründung zu solcher Bekräftigung bestehen, die wir mit den Juden gemeinsam haben. Daher muß man
fort und fort fleißig darauf achthaben, was den Juden und uns gemeinsam ist und was jene gesondert
von uns besitzen. Der Bund ist gemeinsam, gemeinsam ist auch die Ursache zu seiner Bekräftigung.
Nur die Art und Weise solcher Bekräftigung ist verschieden: das war nämlich für sie die
Beschneidung, an deren Stelle dann für uns die Taufe getreten ist. Sonst, nämlich wenn das
Zeugnis, vermöge dessen die Juden über das Heil ihres Samens Gewißheit bekamen, uns entrissen
würde, hätte Christi Kommen die Wirkung gehabt, daß Gottes Gnade für uns dunkler und schwächer
bezeugt wäre, als sie es früher für die Juden war. Das kann man nun aber nicht ohne die
schlimmste Schmähung Christi aussprechen; denn durch ihn hat sich doch die grenzenlose Güte des
Vaters deutlicher und freundlicher auf die Erde ergossen und den Menschen kundgetan als je zuvor.
Wir müssen also notwendig zugeben, daß solche Güte Gottes heute wahrhaftig nicht engherziger
verborgen gehalten und auch nicht mit einem geringeren Zeugnis verherrlicht werden darf, als es
einst unter den dunklen Schatten des Gesetzes geschehen ist.
IV,16,7 Nun wollte also Jesus, der Herr, einen Beweis geben, an dem die Welt
begreifen sollte, daß sein Kommen nicht einer Eingrenzung der Barmherzigkeit des Vaters diente,
sondern vielmehr ihrer Ausbreitung; und zu diesem Zweck nahm er die Kindlein, die man zu ihm
brachte, freundlich in die Arme und tadelte die Jünger, die sie von, dem Zutritt zu ihm
fernzuhalten versuchten, weil sie damit eben die, denen das Himmelreich gehörte, von ihm
wegleiteten, durch den doch allein der Zugang zum Himmel offen steht (Matth. 19,13-15). Aber, so
könnte jemand sagen, was hat denn diese Umarmung, die Christus übt, mit der Taufe für
Ähnlichkeit? Denn es wird doch nicht erzählt, daß Jesus diese Kinder getauft habe; sondern wir
hören bloß, daß er sie aufgenommen, umarmt und gesegnet hat. Wenn wir also seinem Vorbild
nachfolgen wollen, so wollen wir den Kindern mit Gebeten zur Seite stehen, aber sie nicht taufen.
Wir dagegen wollen Christi Verhalten etwas aufmerksamer bedenken als solche Art Menschen. Denn man
darf nicht leichthin über die Tatsache hinweggehen, daß Christus dem Gebot, ihm die Kindlein zu
bringen, die Ursache hinzufügt: "Denn solcher ist das Himmelreich" (Matth. 19,14). Hernach
bezeugt er dann seinen Willen mit der Tat, indem er die Kindlein in die Arme nimmt und sie dem Vater
durch sein Gebet und seinen Segen anbefiehlt. Wenn es recht und billig ist, Christus die Kinder
zuzuführen — weshalb denn nicht auch, sie zur Taufe zuzulassen, die doch das Merkzeichen unserer
Einung und Gemeinschaft mit Christus ist? Wenn "solcher ist das Himmelreich", weshalb soll man
ihnen dann das Zeichen verweigern, mit dem ihnen gleichsam der Zugang zur Kirche eröffnet wird,
damit sie, darin aufgenommen, den Erben des Himmelreichs zugerechnet werden? Wie ungerecht verfahren
wir doch, wenn wir die abweisen, die Christus zu sich einlädt, wenn wir die, die er mit seinen
Gaben ziert, (dieser Gaben) berauben, wenn wir die ausschließen, die er selbst aus freien Stücken
zu sich läßt: Und wenn wir eine Erörterung darüber anstellen sollen, wie sehr sich die Taufe von
dem unterscheidet, was Christus an dieser Stelle getan hat, so müssen wir doch fragen, wieviel
höher soll uns denn etwa die Taufe stehen, in der wir (bloß) bezeugen, daß die Kinder in Gottes
Bund eingeschlossen werden, als das Aufnehmen und Umarmen, die Handauflegung und das (segnende)
Gebet, mit denen Christus in eigener Person erklärt, daß sie ihm gehören und von ihm geheiligt
werden? Unsere Widersacher bringen aber auch noch eine andere Ausflucht vor, mit der sie sich
bemühen, der hier angezogenen Stelle auszuweichen; aber damit legen die nur ihre eigene
Unwissenheit an den Tag. Sie ziehen nämlich aus Christi Wort: "Lasset die Kindlein zu mir kommen"
die spitzfindige Folgerung, diese Kinder wären schon etwas älter gewesen, weil sie doch bereits in
der Tage gewesen wären, zu ihm zu "kommen". Aber diese Kinder werden von den Evangelisten als
"brephe kai paidia" bezeichnet, und mit solchen Ausdrücken meinen die Griechen Kindlein, die
noch an der Mutter Brust hängen. "Kommen" ist also einfach für"herannahen" gesetzt! Da
sieht man aber, was für Trügereien solche Leute zum Vorwand zu nehmen genötigt werden, die sich
gegen die Wahrheit verhärtet haben! Ferner machen sie geltend, das Himmelreich werde an dieser
Stelle nicht den Kindern (im Sinne des Kindesalters) zugesprochen, sondern solchen (Menschen, auch
Erwachsenen), die ihnen ähnlich seien; denn es heiße ja "solcher", nicht "ihrer". Aber
dieser Einwand ist um nichts stichhaltiger als der vorige. Denn wenn man das gelten läßt — was
soll dann wohl aus Christi Begründung werden, mit der er doch zeigen will, daß ihm Kinder dem
Alter nach nicht fremd sind? Er gebietet, man solle Kinder zu ihm kommen lassen, und darum ist
nichts deutlicher, als daß er ein wirkliches Kindesalter meint! Damit dies sein Gebot nicht
widersinnig erscheint, setzt er hinzu: "Denn solcher ist das Himmelreich." Darunter müssen doch
(nach Lage der Dinge) notwendig auch die Kinder (im Sinne des Kindesalters) mit beschlossen sein;
wenn es aber so steht, dann ist es auch völlig deutlich, daß der Ausdruck "solcher" die Kinder
selbst und solche bezeichnet, die ihnen ähnlich sind.
IV,16,8 Jetzt gibt es keinen mehr, der nicht einsähe, daß die Kindertaufe
keineswegs "vom Menschen aus zusammengeschmiedet worden" ist — sie stützt sich ja auf eine so
kräftige Billigung der Schrift! Auch ist es kein hinreichend schönscheinendes Geschwätz, was
diejenigen vorbringen, die den Einwand erheben, man finde es doch nirgendwo (berichtet), daß auch
nur ein einziges Kind durch die Hand der Apostel getauft worden wäre. Nun wird das allerdings von
den Evangelisten nicht ausdrücklich berichtet; aber auf der anderen Seite werden, sooft sich auch
die Taufe einer Familie erwähnt findet, die Kinder nicht ausgeschlossen. Wer will nun also —
vorausgesetzt, daß er eben nicht wahnwitzig ist — daraus den Schluß ziehen, die Kinder seien
nicht getauft worden? Wenn solcherlei Beweisgründe etwas gelten sollten, so müßten in gleicher
Weise auch die Frauen vom Abendmahl des Herrn ausgeschlossen werden, weil wir nirgendwo zu lesen
bekommen, daß sie zur Zeit der Apostel dazu zugelassen worden sind (Apg. 16,15.32). Wir begnügen
uns hier eben mit der Regel des Glaubens, denn wenn wir erwägen, was die Einsetzung des Abendmahls
für einen Sinn hat, so werden wir daraufhin auch leicht ein Urteil darüber gewinnen, welchen
Menschen an seiner Ausübung Anteil zu geben ist. Das gleiche beobachten wir auch bei der Taufe.
Denn sobald wir darauf achten, zu welchem Zweck sie eingerichtet ist, liegt es für uns auch klar
auf der Hand, daß sie den Kindern nicht weniger zukommt als Menschen von höherem Lebensalter. Man
kann sie also den Kindern nicht wegnehmen, ohne dadurch dem Willen des Gebers, das heißt dem Willen
Gottes, offen Eintrag zu tun. Wenn die Wiedertäufer aber bei dem einfältigen Volke die Behauptung
ausstreuen, es sei nach Christi Auferstehung eine lange Reihe von Jahren vergangen, in denen die
Kindertaufe unbekannt gewesen sei, so ist das eine ganz jämmerliche Lüge. Denn es gibt keinen
(kirchlichen) Schriftsteller, er mag noch so alt sein, der nicht mit Sicherheit den Ursprung der
Kindertaufe auf die Zeit der Apostel zurückführte.
IV,16,9 Damit nun niemand die Kindertaufe als unnütz und müßig verachtet,
bleibt uns noch übrig aufzuzeigen, welche Früchte aus dieser Übung sowohl den Gläubigen
erwachsen, die ihre Kinder zur Taufe vor die Kirche bringen, als auch den Kindern selbst, die mit
dem geheiligten Wasser getauft werden. Wenn es allerdings jemandem in den Sinn kommt, die
Kindertaufe unter diesem Vorwand (nämlich sie brächte keinen Nutzen) zu verlachen, der treibt auch
mit dem von dem Herrn gegebenen Gebot der Beschneidung seinen Spott. Denn was sollten solche Leute
wohl zum Kampf gegen die Kindertaufe vorbringen können, das nicht auf das Beschneidungsgebot
zurückfiele? Auf diese Weise ahndet der Herr die Anmaßung derer, die gleich verdammen, was sie mit
dem Empfinden ihres Fleisches nicht begreifen. Jedoch rüstet uns Gott noch mit anderen Waffen aus,
um der Torheit dieser Leute entgegenzutreten. Diese heilige Einrichtung, durch die unserem Glauben,
wie wir es erfahren, in herrlichster Tröstung Hilfe zuteil wird, verdient es nämlich nicht, als
überflüssig bezeichnet zu werden. Denn das Zeichen Gottes, das einem jungen Knaben gegeben wird,
bekräftigt wie ein aufgedrücktes Siegel die Verheißung, die dem frommen Vater oder der frommen
Mutter gegeben ist, und erklärt es für abgemacht, daß der Herr nicht nur der Gott des Vaters oder
der Mutter, sondern auch der Gott ihres Samens sein und nicht nur ihnen selbst mit seiner Güte und
Gnade begegnen will, sondern auch ihren Nachfahren bis ins tausendste Glied. Da nun hierbei Gottes
unermeßliche Freundlichkeit an den Tag tritt, so gibt sie solchen Menschen zunächst den reichsten
Anlaß, seinen Ruhm zu preisen, und durchdringt ihr frommes Herz mit ungewöhnlicher Freude, durch
welche sie zugleich um so kräftiger dazu angereizt werden, solch frommen Vater wiederzulieben, weil
sie ja wahrnehmen, wie er um ihretwillen auch für ihre Nachkommenschaft sorgt. Ich kümmere mich
auch nicht darum, wenn hier jemand einwendet, zur Bekräftigung des Heils unserer Kinder müsse auch
die Verheißung (allein) genügen. Denn es hat Gott (nun einmal) anders gefallen: er hat unsere
Schwachheit erkannt und hat ihr eben in demselben Maße, in dem er sie erkannt hat, in dieser Sache
Nachsicht widerfahren lassen wollen. Wer also die Verheißung, daß sich Gottes Barmherzigkeit auch
auf seine Kinder ausdehnen soll, annimmt, der soll bedenken, daß es seine pflichtmäßige Aufgabe
ist, solche Kinder zur Zeichnung mit dem Merkzeichen dieser Barmherzigkeit vor die Kirche zu tragen
und sich daraufhin zu um so gewisserer Zuversicht zu ermuntern, weil er ja mit eigenen Augen sieht,
wie der Bund des Herrn auf den Leib seiner eigenen Kinder aufgeprägt ist. Auf der anderen Seite
empfangen auch die Kinder aus ihrer Taufe mancherlei Gewinn, weil sie ja dadurch in den Leib der
Kirche eingefügt werden und damit den anderen Gliedern (an diesem Leibe) noch wesentlich
nachdrücklicher anbefohlen sind. Und wenn sie dann herangewachsen sind, so werden sie durch ihre
Taufe nicht wenig zum ernsten Trachten nach der Verehrung Gottes angespornt, der sie ja durch das
feierliche Merkzeichen ihrer Adoption zu Kindern angenommen hat, ehe sie ihn ihres Alters halben als
Vater zu erkennen vermochten. Und schließlich muß uns aufs höchste jenes Fluchwort schrecken,
nach welchem Gott als Vergelter auftreten will, wenn es jemand verächtlich von sich weist, seinen
Sohn mit dem Merkzeichen des Bundes zu zeichnen, weil ja durch solche Verachtung des Zeichens die
dargebotene Gnade abgewiesen und gleichsam abgeschworen wird (Gen. 17,14).
IV,16,10 Jetzt wollen wir die Beweisgründe erörtern, mit denen gewisse
rasende Tiere unaufhörlich gegen diese heilige Einrichtung Gottes anrennen. Zunächst: da sie wohl
merken, wie sie durch die Ähnlichkeit von Taufe und Beschneidung über alle Maßen ins Gedränge
und in die Enge geraten, so geben sie sich Mühe, diese beiden Zeichen durch einen großen Gegensatz
voneinander loszutrennen, damit es nur ja den Anschein gewinnt, daß das eine mit dem anderen nichts
gemein hätte. Sie behaupten nämlich, es würden hier (erstens) verschiedene Dinge bezeichnet, der
Bund sei (zweitens) ein völlig anderer, und (drittens) auch der Ausdruck "Kinder" sei nicht in
gleichem Sinne gebraucht. a) Wenn sie nun aber jene erste Behauptung zu beweisen trachten, so wenden
sie vor, die Beschneidung sei ein Zeichen der Abtötung, nicht aber derTaufe gewesen. Das geben wir
ihnen wahrlich mit größter Bereitwilligkeit zu. Denn es gewahrt uns den besten Beistand. Wir
benutzen auch zu unserem Beweis keinen anderen Satz als den, daß Taufe und Beschneidung Zeichen der
Abtötung sind. Auf Grund dessen stellen wir fest, daß die Taufe an die Stelle der Beschneidung
getreten ist, damit sie uns das gleiche veranschaulicht, was die Beschneidung vorzeiten den Juden
als Zeichen vor Augen hielt. b) Und wenn es gilt, die Verschiedenheit des Bundes zu verteidigen —
in was für barbarischer Verwegenheit zerreißen und verderben sie dann die Schrift! Das geschieht
nicht etwa an einer einzigen Stelle, sondern so, daß sie nichts heil und unversehrt lassen! Die
Juden schildern sie uns nämlich als dermaßen fleischlich, daß sie mehr dem Vieh gleichen als den
Menschen. Sie erklären eben, der Bund, der mit den Juden geschlossen worden sei, gehe nicht über
das zeitliche Leben hinaus, und die Verheißungen, die ihnen zuteil geworden wären, bezögen sich
bloß auf gegenwärtige und leibliche Güter. Was würde, wenn sich diese Lehre durchsetzte, anders
übrigbleiben, als daß das jüdische Volk eine Zeitlang durch Gottes Wohltat gesättigt worden sei
— nicht anders, als man eine Sauherde im Roben mästet —, um dann schließlich im ewigen
Verderben zugrunde zu gehen? Denn wenn wir die Beschneidung und die mit ihr verbundenen
Verheißungen anführen, dann antworten sie sogleich, die Beschneidung sei ein unter dem Buchstaben
stehendes Zeichen (literale signum), und ihre Verheißungen seien fleischlich gewesen.
IV,16,11 In der Tat, wenn die Beschneidung ein unter dem Buchstaben
stehendes Zeichen war, dann muß man über die Taufe genau in der gleichen Weise urteilen. Denn der
Apostel erklärt im zweiten Kapitel des Briefes an die Kolosser das eine Zeichen nicht mehr für
geistlich als das andere (Kol. 2,11). Er sagt nämlich, wir seien in Christo "beschnitten mit der
Beschneidung ohne Hände", "durch Ablegung des sündlichen Leibes", der "in unserem Fleische"
wohnte; und diese Beschneidung nennt er die "Beschneidung Christi". Dann fügt er zur
Erläuterung dieses Satzes hinzu, wir seien "mit Christus begraben durch die Taufe" (Kol. 2,12).
Was will Paulus nun mit diesen Worten anders sagen, als daß die Erfüllung und die Wahrheit der
Taufe zugleich die Wahrheit und die Erfüllung der Beschneidung ist, weil sie ja beide eine und
dieselbe Sache bildlich veranschaulichen? Denn er bemüht sich doch zu beweisen, daß die Taufe für
die Christen das gleiche ist, was früher für die Juden die Beschneidung war. Da wir aber schon
deutlich auseinandergesetzt haben, daß die Verheißungen beider Zeichen und auch die in ihnen
dargestellten Geheimnisse miteinander zusammenstimmen, so wollen wir uns vorderhand nicht dabei
aufhalten. Ich möchte die Gläubigen nur ermahnen, auch ohne daß ich etwas sage, bei sich zu
bedenken, ob man ein Zeichen, dem nichts als Geistliches und Himmlisches innewohnt, für irdisch und
für Buchstabensache halten darf. Damit sie nun aber ihren Nebeldampf nicht bei schlichten Leuten an
den Mann bringen, wollen wir die Behauptung, mit der sie diese unverschämte Lüge zu decken suchen,
im Vorbeigehen entkräften. Es ist gewisser als gewiß, daß die vornehmsten Verheißungen, in die
der Bund verfaßt war, den Gott unter dem Alten Testament mit den Israeliten geschlossen hat,
geistlich gewesen sind und sich auf das ewige Leben bezogen haben. Ebenso sicher ist es, daß diese
Verheißungen, wie es sich gebührte, von den Vätern auch geistlich aufgenommen worden sind, damit
sie aus ihnen Zuversicht auf das ewige Leben schöpften, nach dem sie sich mit allen Regungen ihres
Herzens sehnten. Indessen leugnen wir aber durchaus nicht, daß Gott ihnen sein Wohlwollen auch mit
irdischen und fleischlichen Wohltaten bezeugt hat, und behaupten auch, daß durch diese Wohltaten
jene Hoffnung auf die geistlichen Verheißungen bekräftigt worden ist. So geschahes, als er seinem
Knecht Abraham die ewige Seligkeit zusagte: er wollte ihm einen handgreiflichen Beweis seiner Huld
vor Augen stellen und fügte darum die weitere Verheißung hinzu, nach welcher Abraham das Land
Kanaan besitzen sollte (Gen. 15,1.18). Man muß also alle irdischen Verheißungen, die dem
jüdischen Volk zuteil geworden sind, in dem Sinne auffassen, daß die geistliche Verheißung als
die Hauptsache stets den ersten Platz innehat und die anderen darauf bezogen werden. Da ich diese
Dinge aber bei der Darlegung des Unterschieds zwischen dem Alten und Neuen Testament ausführlicher
behandelt habe, so begnüge ich mich hier mit einer recht kurzen Erwähnung.
IV,16,12 c) Im Bezug auf die Bezeichnung "Kinder" finden sie (zwischen
Beschneidung und Taufe) den Unterschied, daß unter dem Alten Testament diejenigen als Kinder
Abrahams erscheinen, die ihren (natürlichen) Ursprung von seinem Samen herleiteten, während dieser
Begriff heute diejenigen meint, die seinem Glauben nachfolgen. Deshalb habe, so behaupten sie
weiter, jene fleischliche Kinderschaft, die durch die Beschneidung in die Gemeinschaft des Bundes
aufgenommen wurde, die geistlichen Kinder des Neuen Testaments bildlich veranschaulicht, die aus
Gottes Wort zu unsterblichem Leben wiedergeboren seien. In diesen Worten sehen wir freilich ein
geringes Fünklein von Wahrheit; aber diese oberflächlichen Geister vergehen sich darin schwer,
daß sie das an sich reißen, was ihnen zuerst in die Hand gerät, und sich dabei auf das eine Wort
hartnäckig versteifen, während man doch eigentlich weiter gehen und vieles miteinander vergleichen
müßte. Von da aus kann es dann nicht anders zugehen, als daß sie gleich auf irrige Vorstellungen
geraten; denn sie gehen bei keiner Sache auf eine gründliche Erkenntnis aus. Wir geben allerdings
zu, daß der fleischliche Same Abrahams eine Zeitlang den Platz des geistlichen Samens innegehabt
hat, der durch den Glauben in ihn eingeleibt wird. Denn wir werden seine Kinder genannt, ob auch
zwischen ihm und uns keinerlei natürliche Verwandtschaft besteht (Gal. 4,28; Röm. 4,12). Wenn sie
nun aber der Meinung sind — und diese Ansicht geben sie völlig klar zu erkennen —, daß dem
fleischlichen Samen Abrahams niemals die geistliche Segnung Gottes verheißen worden sei, dann sind
sie darin bei weitem im Irrtum. Daher müssen wir uns nach einem besseren Richtpunkt ausrichten, zu
dem wir durch die völlig sichere Führung der Schrift hingeleitet werden. Der Herr verheißt also
dem Abraham einen zukünftigen Samen, in dem "alle Völker der Erde gesegnet werden sollen", und
zugleich gibt er ihm die Zusage, er wolle sein und seines Samens Gott sein (Gen. 12,3; 17,6). Alle,
die nun Christus als den Geber solchen Segens im Glauben annehmen, die sind Erben dieser Verheißung
und heißen deshalb "Kinder Abrahams".
IV,16,13 Allerdings haben sich nach der Auferstehung Christi die Grenzen des
Reiches Gottes weit und breit zu allen Völkern hin unterschiedslos zu erweitern angefangen, damit
nach Christi Wort von allen Seiten die Gläubigen versammelt werden, um "mit Abraham und Isaak und
Jakob" in himmlischer Herrlichkeit zu Tische zu sitzen (Matth. 8,11). Aber Gott hatte trotzdem
schon viele hundert Jahre zuvor die Juden mit solch großer Barmherzigkeit umfaßt. Und da er unter
Übergehung aller anderen dieses eine Volk auserwählt hatte, um in ihm eine Zeitlang seine Gnade
beschlossen sein zu lassen, so erklärte er es auch für sein "Eigentum" und für das von ihm
erworbene Volk (Ex. 19,5). Zur Bezeugung solcher Wohltätigkeit wurde dem Volke die Beschneidung
gegeben, die ein Merkzeichen darstellte, das die Juden darüber unterweisen sollte, daß Gott der
Hüter ihres Heils sei. Durch solche Erkenntnis wurden ihre Herzen zur Hoffnung auf das ewige Leben
aufgerichtet. Denn was soll dem wohl fehlen, den Gott einmal in seine Hut aufgenommen hat? Daher
bedient sich auch der Apostel, um zu beweisen, daß die Heiden zusammen mit den Juden Abrahams
Kinder sind, folgender Redeweise: "Abraham ist im Glauben gerechtfertigt worden, als er noch
unbeschnitten war. Das Zeichen aber der Beschneidung empfing er dann zum Siegel der Gerechtigkeit
des Glaubens ..., auf daß er würde ein Vater aller, die da glauben und nicht beschnitten sind, ...
und würde auch ein Vater der Beschneidung, und zwar nicht derer, die sich allein der Beschneidung
rühmen, sondern auch wandeln in den Fußtapfen des Glaubens, welcher war in unserem Vater Abraham,
als er noch nicht beschnitten war" (Röm. 4,10-12; gelegentlich nicht Luthertext). Sehen wir da
nicht, wie beide in ihrer Würde gleichgestellt werden? Denn eine Zeitlang, soweit es Gott bestimmt
hatte, war Abraham ein Vater der Beschneidung. Als dann, wie der Apostel an anderer Stelle schreibt
(Eph. 2,14), der Zaun abgebrochen war, der die Heiden von den Juden trennte, und damit auch den
Heiden der Zugang zum Reiche Gottes eröffnet wurde, da wurde Abraham auch zu ihrem Vater, und zwar
ohne das Zeichen der Beschneidung, weil sie ja an Stelle der Beschneidung die Taufe haben. Wenn aber
Paulus ausdrücklich erklärt, Abraham sei nicht der Vater derer, die bloß aus der Beschneidung
sind (Röm. 4,12), so ist das gesagt, um die Überheblichkeit gewisser Leute zu dämpfen, die die
Sorge um die Frömmigkeit beiseite ließen und sich bloß der Zeremonien rühmten. Es geschieht in
der gleichen Weise, wie man auch heute der Eitelkeit derer entgegentreten könnte, die bei der Taufe
nichts suchen als das Wasser.
IV,16,14 Aber hiergegen wird man eine andere Stelle aus dem Apostel, und
zwar Römer 9,7, anführen: da lehrt er, die, welche nach dem Fleische (Abrahams Nachkommen) sind,
seien nicht Abrahams Kinder (Röm. 9,7f.), sondern zu seinem Samen würden nur die gerechnet, die
"Kinder der Verheißung" sind. Denn es hat den Anschein, als wollte er hier zu verstehen geben,
daß die fleischliche Verwandtschaft mit Abraham, die wir doch auf eine gewisse Stufe stellen,
nichts sei. Wir müssen jedoch aufmerksamer darauf achten, was für einen Fall der Apostel an dieser
Stelle behandelt. Er will nämlich den Juden zeigen, wie gar nicht die Güte Gottes an den Samen
Abrahams gebunden ist, ja, wie rein nichts die fleischliche Verwandtschaft mit ihm aus sich selbst
heraus schafft, und zum Beweis dafür verweist er auf Ismael und Esau; denn diese wurden doch,
obwohl sie nach dem Fleisch echte Nachkommen des Abraham waren, verworfen, als ob sie Fremde wären,
während der Segen auf Isaak und Jakob ruhte. Daraus ergibt sich, was Paulus dann hernach behauptet:
das Heil hängt von Gottes Barmherzigkeit ab, mit der er begegnet, wem er will (Röm. 10,15f.), und
die Juden haben keinen Grund, weshalb sie sich unter Berufung auf den Bund gefallen oder rühmen
sollten, sofern sie nicht das Gesetz des Bundes innehalten, das heißt: dem Wort gehorchen. Und
wiederum: nachdem er den Juden das eitle Vertrauen auf ihre Herkunft weggenommen hatte, gewahrte er
nun doch auf der anderen Seite, daß der Bund, den Gott einmal mit der Nachkommenschaft Abrahams
eingegangen war, in keiner Weise ungültig werden konnte, und deshalb setzt er im elften Kapitel
auseinander, daß die fleischliche Verwandtschaft des Abraham ihrer Würde nicht beraubt werden
kann; denn um ihretwillen sind ja, so lehrt er, die Juden die ersten und geborenen Erben des
Evangeliums, wofern sie nicht wegen ihrer Undankbarkeit als Unwürdige verworfen sind, freilich dann
so, daß der himmlische Segen nicht voll und ganz von ihrem Volke gewichen ist. Aus diesem Grunde
nennt er sie, so widerspenstig und bundbrüchig sie auch waren, nichtsdestoweniger "heilig"(Röm.
11,16) — soviel Ehre läßt er dem heiligen Geschlecht zuteil werden, das Gott seines heiligen
Bundes gewürdigt hätte —, uns dagegen betrachtet er im Verhältnis zu ihnen gleichsam als
nachgeborene oder auch als unzeitig geborene Kinder Abrahams, und zwar durch Aufnahme in die
Kindschaft, nicht auf Grund natürlicher Abkunft, wie wenn ein Reis von seinem Baum
heruntergeschlagen ist und auf einen fremden Stamm gepfropft wird (Röm. 11,17). Damit die Juden
also nicht um ihr Vorrecht gebracht würden, so mußte ihnen das Evangelium an erster Stelle
verkündigt werden. Denn sie sind in Gottes Hausgenossenschaft gleichsam die Erstgeborenen. Deshalb
mußte ihnen diese Würde zuteil werden, bis sie die angebotene Ehre verwarfen und es mit ihrer
Undankbarkeit dahin brachten, daß sie nun auf die Heiden überging. Mit wieviel Halsstarrigkeit sie
nun aber auch dabei beharren mögen, mit dem Evangelium Krieg zu führen, so dürfen wir sie deshalb
trotzdem nicht verachten, wenn wir doch bedenken, daß um der Verheißung willen Gottes Segen immer
noch unter ihnen bleibt, wie denn jedenfalls der Apostel bezeugt, daß dieser Segen nie ganz von
ihnen weichen wird; "denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen" (Röm. 11,29).
IV,16,15 Da sehen wir, was die Verheißung, die der Nachkommenschaft des
Abraham gegeben worden ist, für einen Wert hat und auf welcher Waage sie gewogen werden muß. Daher
zweifeln wir allerdings nicht daran, daß bei der Unterscheidung zwischen den Erben des Reiches und
den Bastarden und Fremden allein Gottes Erwählung nach freiem Rechte das Regiment führt; zugleich
jedoch erkennen wir, daß es ihm gefallen hat, den Samen Abrahams in besonderer Weise mit seiner
Barmherzigkeit zu umfangen und diese Barmherzigkeit, damit sie als besser bezeugt gelte, durch die
Beschneidung zu versiegeln. Mit der christlichen Kirche ist es nun durchaus ebenso bestellt. Denn
wie Paulus oben auseinandersetzt, daß die Juden durch ihre Eltern geheiligt würden, so lehrt er an
anderer Stelle, daß die Kinder der Christen von ihren Eltern die gleiche Heiligung empfangen (1.
Kor. 7,14). Daraus ergibt sich, daß sie verdientermaßen von anderen abgesondert werden, die
ihrerseits als unrein beschuldigt werden. Wer kann nun noch daran zweifeln, daß es völlig verkehrt
ist, wenn die Wiedertäufer jetzt weiter die Behauptung folgen lassen, die Kinder, die dazumal
beschnitten worden seien, hätten bloß die geistliche Kindschaft bildlich veranschaulicht, die sich
aus der Wiedergeburt durch das Wort Gottes erhebt? So spitzfindig nämlich philosophiert der Apostel
nicht, wenn er doch schreibt, Christus sei ein "Diener der Beschneidung", um die Verheißungen
zu erfüllen, die den Vätern gegeben waren (Röm. 15,8); denn das ist doch gerade, als wenn er sich
in folgender Weise ausspräche: da der Bund, der mit Abraham geschlossen ist, auf seinen Samen Bezug
hat, so ist Christus, um das vom Vater einmal gegebene Wort zu erfüllen und einzulösen, dem
jüdischen Volke zum Heil gekommen. Sieht man nun, wie nach dem Urteil des Paulus auch nach der
Auferstehung Christi die Verheißung des Bundes nicht nur sinnbildlich (allegorice), sondern dem
Wortlaut nach an dem fleischlichen Samen Abrahams in Erfüllung gehen mußte? Hierher gehört es
auch, daß Petrus Apostelgeschichte 2,39 den Juden die Kunde gibt, daß ihnen und ihrem Samen kraft
Bundesrechts die Wohltat des Evangeliums zukomme, und daß er sie dann gleich im folgenden Kapitel
als "des Bundes Kinder", das heißt seine Erben, bezeichnet (Apg. 3,25). Hiervon weicht auch
nicht wesentlich die andere oben bereits angeführte Stelle aus dem Apostel ab, an der er
dafürhält und behauptet, daß die Beschneidung, die den Kindern aufgeprägt ist, ein Zeichen der
Gemeinschaft darstellt, die sie mit Christus haben (Eph. 2,11f.). Und wahrlich — was soll denn,
wenn wir auf das Geschwätz der Wiedertäufer hören, aus jener Verheißung werden, mit der der Herr
im zweiten Hauptstück (Gebot) seines Gesetzes seinen Knechten die Zusage gibt, er wolle ihrem Samen
bis ins tausendste Glied "Barmherzigkeit tun"? Sollen wir hier etwa zu Allegorien unsere
Zuflucht nehmen? Aber das wäre doch eine gar zu possenhafte Ausflucht. Oder sollen wir etwa
behaupten, das sei abgeschafft? Aber damit würde das Gesetz der Auflösung verfallen — und
Christus wollte es doch vielmehr bekräftigen, sofern es uns zum Guten und zum Leben gereicht! Es
soll also keiner Auseinandersetzung unterworfen sein, daß Gott gegen die Seinen so gütig und
freigebig ist, daß er um ihretwillen auch die Kinder, die sie gezeugt haben, zu seinem Volke
gezählt haben will.
IV,16,16 Die Unterscheidungen, die die Wiedertäufer außerdem zwischen
Taufe und Beschneidung einzutragen sich bemühen, sind nicht nur lächerlich und alles Scheins einer
Begründung ledig, sondern auch untereinander widerspruchsvoll. Denn sie behaupten zunächst, die
Taufe beziehe sich auf den ersten Tag des geistlichen Streites, die Beschneidung dagegen auf den
achten, nachdem die Abtötung bereits vollendet sei. Aber gleich darauf vergessen sie diesen Satz,
kehren das Liedlein um und nennen die Beschneidung eine bildliche Darstellung der Abtötung des
Fleisches, die Taufe dagegen das Begrabenwerden des Fleisches, zu dem nur die kommen könnten, die
bereits gestorben wären. Welche Wahnvorstellungen geisteskranker Leute könnten wohl in solcher
Leichtfertigkeit auseinanderbersten? Denn nach dem ersten Satz muß die Taufe vor der Beschneidung
den Vorrang haben, nach dem zweiten wird sie auf einen untergeordneten Platz verwiesen. Jedoch ist
das Beispiel nicht neu, daß die Geister der Menschen, sobald sie alles, was sie sich erträumt
haben, als gewissestes Wort Gottes anbeten, dergestalt auf und nieder wirbeln. Wir behaupten also,
daß jener erstgenannte Unterschied eine reine Träumerei darstellt. Wenn man schon den achten Tag
(an dem die Beschneidung statt, finden sollte) zum Anlaß für allegorische Deutungen nehmen wollte,
so durfte es trotzdem nicht in dieser Weise geschehen. Viel besser wäre es, wenn man die Zahl acht
nach dem Vorgang der Alten auf die am achten Tage (nach Beginn der Leidenszeit) erfolgte
Auferstehung bezöge, weil wir ja wissen, daß auf ihr die Neuheit des Lebens beruht, oder auf den
ganzen Lauf des gegenwärtigen Lebens, in dem ja die Abtötung immerfort weitergehen muß, bis es zu
seinem Ende gekommen und damit auch die Abtötung des Fleisches vollkommen geworden ist. Jedoch
läßt es sich auch so ansehen, daß Gott auf die Zartheit des Alters hat Rücksicht nehmen wollen,
indem er die Beschneidung auf den achten Tag aufschob, weil ja die (dadurch entstehende) Verwundung
für die eben erst Geborenen, die noch von der Mutter her eine rötliche Haut hatten, recht
gefährlich werden mußte. Wieviel mehr Kraft mag nun die zweite Behauptung der Wiedertäufer haben,
daß wir, schon zuvor gestorben, durch die Taufe begraben würden? Denn die Schrift erhebt doch
ausdrücklich Einspruch dagegen und sagt, daß wir mit der Bestimmung in den Tod begraben werden,
daß wir ersterben und daraufhin nach solcher Abtötung trachten (Röm. 6,4)! Ebenso geschickt ist
die Ausflucht: wenn die Taufe der Beschneidung gleichgestaltet werden sollte, so dürften Mädchen
eben nicht getauft werden. Denn es ist doch völlig abgemacht, daß durch das Zeichen der
Beschneidung die Heiligung des Samens Israels bezeugt wurde; ist es aber so, dann ergibt sich daraus
auch ohne Zweifel, daß dies Zeichen zur Heiligung von männlichen wie weiblichen Nachkommen
gleichermaßen gegeben war. Es wurden aber allein die Leiber der Knäblein mit diesem Zeichen
versehen, weil es bei ihnen von Natur aus möglich war; aber doch so, daß die Mädchen durch die
Knaben gewissermaßen Mitgenossen und Teilhaberinnen an diesem Zeichen waren. Wir wollen also
dergleichen Albernheiten der Wiedertäufer weit von uns fern sein lassen und an der Ähnlichkeit von
Taufe und Beschneidung festhalten; denn wir sehen, daß diese in dem inwendigen Geheimnis, in den
(mit ihnen verbundenen) Verheißungen, in der Ausübung und in der Wirkung ganz hervorragend
zustande kommt.
IV,16,17 Eine sehr stichhaltige Begründung, weshalb man die Kinder von der
Taufe fernhalten müßte, meinen die Wiedertäufer auch vorzuschützen, indem sie darauf verweisen,
daß die Kinder ihres Alters wegen noch nicht imstande seien, das in der Taufe dargestellte
Geheimnis zu erfassen. Denn dies Geheimnis (so sagen sie) ist doch die geistliche Wiedergeburt, die
nicht in die erste Kindheit fallen kann. Daher ziehen sie die Folgerung, man müsse die Kinder, ehe
sie zu dem Alter herangewachsen seien, das zu einer zweiten Geburt paßte, für nichts anderes
achten als eben für Kinder Adams. Aber gegen alle diese Behauptungen erhebt Gottes Wahrheit
allenthalben Widerspruch. Denn wenn man diese Kinder unter Adams Kindern lassen muß, so läßt man
sie damit im Tode; denn in Adam können wir nichts als sterben. Demgegenüber aber gebietet
Christus, man solle ihm die Kinder zuführen (Matth. 19,14). Und warum das? Weil er das Leben ist!
Um sie also lebendig zu machen, macht er sie seiner teilhaftig — während die Wiedertäufer sie
unterdessen weit von ihm wegweisen und dem Tode überantworten. Wenn sie nämlich die Ausflucht
machen, diese Kinder gingen doch, wenn man sie als Adams Kinder betrachtete, deshalb nicht verloren,
so wird ihr Irrtum vom Zeugnis der Schrift mehr als genug widerlegt. Denn sie spricht es aus, daß
in Adam alle sterben (1. Kor. 15,22), und daraus folgt dann doch, daß keine Hoffnung auf Leben mehr
übrigbleibt als allein in Christus. Damit wir also zu Erben des Lebens werden, müssen wir mit ihm
Gemeinschaft haben. Und da auf der anderen Seite anderwärts geschrieben steht, daß wir von Natur
allesamt dem Zorn Gottes verfallen (Eph. 2,3) und in Sünden empfangen sind (Ps. 51,7), womit doch
fort und fort die Verdammnis verbunden ist, so müssen wir also aus unserer Natur ausziehen, bevor
uns ein Zugang zum Reiche Gottes offensteht. Und wie sollte sich wohl eine deutlichere Aussage
finden lassen als die, daß "Fleisch und Blut das Reich Gottes nicht ererben können" (1. Kor.
15,50)? Es muß also alles, was uns eigen ist, abgetan werden — und das wird nicht ohne
Wiedergeburt geschehen —; dann (erst) werden wir diesen Besitz des Reiches schauen! Und endlich:
redet Christus wahrheitsgemäß, wenn er verkündigt, daß er das Leben ist (Joh. 11,25; 14,6), so
müssen wir notwendig in ihn eingeleibt werden, damit wir aus der Knechtschaft des Todes befreit
werden. Aber, so sagen sie, wie sollen denn Kinder wiedergeboren werden, die noch mit gar keiner
Erkenntnis von Gut und Böse ausgestattet sind? Wir antworten dagegen: wenn das Werk Gottes auch
unserem Begreifen nicht zugänglich ist, so ist es trotzdem nicht etwa nicht vorhanden. Ferner ist
völlig klar, daß die Kinder, die errettet werden sollen — und zweifellos werden aus diesem
Lebensalter durchaus einige errettet —, zuvor von dem Herrn wiedergeboren werden. Denn wenn sie
die ihnen angeborene Verderbtheit vom Mutterleibe an mitbringen, so müssen sie von ihr gereinigt
sein, ehe sie in Gottes Reich eingelassen werden; denn da kommt nichts Beflecktes oder Besudeltes
hinein (Apk. 21,27). Wenn sie als Sünder geboren werden, wie es doch David sowohl als Paulus
behaupten (Eph. 2,3; Ps. 51,7), so bleiben sie Gott entweder mißfällig und verhaßt — oder sie
müssen gerechtfertigt werden. Und was suchen wir weiter, wo doch der Richter selbst offen erklärt,
daß der Zugang zum Leben keinem offensteht als den Wiedergeborenen (Joh. 3,3)? Um
widerspruchslustige Leute von der Art der Wiedertäufer zum Schweigen zu bringen, so hat er an
Johannes dem Täufer, den er (schon) im Mutterleibe heiligte, einen Beweis dafür erbracht, was er
bei den anderen zu tun vermag (Luk. 1,15). Nichts werden die Wiedertäufer auch mit der Ausflucht
erreichen, mit der sie hier spielen: sie sagen nämlich, das sei (nur) einmal so geschehen, und
daraus ergebe sich nicht gleich die Folgerung, daß der Herr mit den Kindern durchweg so zu
verfahren pflege. Denn in dieser Weise führen wir unseren Beweis auch nicht! Wir wollen nur zeigen,
daß es unbillig und böswillig ist, wenn sie Gottes Kraft in soenge Grenzen zwängen, in die sie
sich nicht einschließen läßt. Ebensoviel Gewicht hat auch eine zweite Ausflucht, die sie machen.
Sie bringen nämlich die Behauptung vor, nach der gebräuchlichen Gepflogenheit der Schrift bedeute
die Wendung "Vom Mutterleibe an" ebensoviel wie "Von früher Jugend auf". Aber es läßt
sich doch klar und deutlich wahrnehmen, daß der Engel, als er dem Zacharias jene Botschaft kundtat
(Luk. 1,15), etwas anderes im Sinne gehabt hat, nämlich daß das Kind, noch nicht geboren, mit dem
Heiligen Geist erfüllt werden sollte. Wir wollen also nicht versuchen, Gott ein Gesetz
aufzuerlegen, daß er etwa die, die er will, nicht in der gleichen Weise heiligen könnte, wie er
das Kindlein Johannes geheiligt hat; denn seiner Kraft ist doch (seither) nichts abgegangen.
IV,16,18 Gewißlich ist Christus dazu von frühester Jugend auf geheiligt
worden, daß er seine Auserwählten von jedem beliebigen Lebensalter an ohne Unterschied in sich
heiligte. Denn wie er zur Vernichtung der Schuld des Ungehorsams, der in unserem Fleische begangen
worden war, eben dies Fleisch selber anzog, um um unsertwillen und an unserer Statt den vollkommenen
Gehorsam zu leisten, so wurde er auch "empfangen vom Heiligen Geiste", damit er, in dem von ihm
angenommenen Fleische mit seiner Heiligkeit voll und ganz durchdrungen, ihn auch auf uns
überfließen ließe. Haben wir in Christus (seit seinen frühesten Kindertagen) das vollkommenste
Vorbild aller Gnadengaben, mit denen Gott seine Kinder beschenkt, so kann er uns eben auch in dem
Stück als Beweis dienen, daß das kindliche Alter nicht gar so sehr im Widerspruch zur Heiligung
steht. Wie dem auch sei, so stellen wir doch unstreitig fest, daß keiner von den Auser, wählten
(also auch kein Kind!) aus dem gegenwärtigen Leben abberufen wird, der nicht zuvor durch den Geist
Gottes geheiligt und wiedergeboren würde. Wenn die Wiedertäufer dagegen den Einwand erheben, der
Heilige Geist kenne in der Schrift keine andere Wiedergeburt als die, welche "aus unvergänglichem
Samen", das heißt durch das Wort Gottes, geschehen sei (1. Petr. 1,23), so ist das eine verkehrte
Auslegung jener Petrus-Stelle; denn Petrus faßt darin einzig die Gläubigen zusammen, die durch die
Predigt des Evangeliums unterwiesen worden waren. Wir geben freilich zu, daß für solche Gläubige
das Wort des Herrn der einzige Same ihrer geistlichen Wiedergeburt ist; aber wir bestreiten, daß
man daraus entnehmen könnte, daß Kinder nicht durch Gottes Kraft wiedergeboren werden könnten;
denn diese Kraft kann er so leicht und so mühelos handhaben, wie sie für uns unbegreiflich und
bewunderungswürdig ist. Ferner wäre es auch nicht gefahrlos genug, dem Herrn das Vermögen
abzusprechen, sich auch den Kindern auf irgendeine Weise kundzugeben und dadurch erkennbar zu
machen.
IV,16,19 Aber, so sagen sie, der Glaube kommt doch aus dem Hören (Röm.
10,17), und davon haben doch die Kinder noch gar keine Erfahrung gewonnen; auch können sie nicht in
der Lage sein, Gott zu erkennen, weil Mose lehrt, daß ihnen die Erkenntnis des Guten und Bösen
abgeht (Deut. 1,39). Aber die Wiedertäufer bemerken nicht, daß der Apostel, wenn er das Hören
(der Predigt) für den Anfang des Glaubens erklärt, allein die gewöhnliche Ordnung und
Austeilungsform beschreibt, die der Herr bei der Berufung der Seinen innezuhalten pflegt, ihm aber
keine bleibende Regel setzt, so daß er kein anderes Verfahren einschlagen könnte. Eine solche
andere Weise hat er unzweifelhaft bei der Berufung vieler Menschen angewandt, die er auf innerliche
Weise durch die Erleuchtung vermittelst des Heiligen Geistes ohne jedes Dazwischentreten der Predigt
mit der wahren Erkenntnis seiner selbst beschenkt hat. Wenn die Wiedertäufer aber der Ansicht sind,
es sei recht widersinnig, wenn man den Kindern, denen dochMose (schon) das Begreifen von Gut und
Böse abspricht, irgendwelche Erkenntnis Gottes zuschreiben wollte, so möchte ich doch, daß sie
mir die Frage beantworteten, welche Gefahr denn darin liegen soll, wenn man sagt, daß sie nun ein
Stücklein der Gnade empfangen, deren vollen Reichtum sie bald nachher genießen sollen. Denn die
Fülle des Lebens besteht doch in der vollkommenen Erkenntnis Gottes; wenn nun aber einige unter den
Kindern, die der Tod gleich in ihrer frühesten Jugend aus diesem Leben hinwegnimmt, in das ewige
Leben übergehen, so werden sie damit also unzweifelhaft zum Anschauen des Angesichts Gottes in
seiner vollendeten Gegenwärtigkeit zugelassen. Wenn der Herr also solche Kinder mit dem vollen
Strahlenglanz seines Lichtes erleuchten wird — weshalb sollte er sie dann nicht auch, wenn es ihm
gefällt, für die gegenwärtige Zeit mit einem geringen Fünklein solchen Lichtes bestrahlen, vor
allem wo er sie doch erst dann ihrer Unwissenheit entkleidet, wenn er sie aus dem Knechthaus des
Fleisches hinwegnimmt? Ach sage dies nicht, weil ich unbedacht behaupten wollte, die Kinder seien
mit dem nämlichen Glauben begabt, den wir in uns erfahren, oder sie hätten überhaupt eine dem
Glauben ähnliche Erkenntnis — das möchte ich lieber in der Schwebe lassen —, sondern nur, um
die törichte Anmaßung solcher Leute ein wenig in Schranken zu weisen, die, je wie ihnen die Backen
aufgeblasen sind, alles Erdenkliche unbekümmert bestreiten oder behaupten.
IV,16,20 Um aber ihrer Ansicht in diesem Stück einen noch kräftigeren
Nachdruck zu verschaffen, fügen sie die Behauptung hinzu, die Taufe sei doch das Sakrament der
Buße und des Glaubens; aus diesem Grunde aber müsse man sich, da doch weder Buße noch Glauben in
die zarteste Kindheit fielen, davor in acht nehmen, daß diese Bedeutung des Sakraments durch
Zulassung der Kinder zur Gemeinschaft an der Taufe eitel und inhaltslos würde. Aber diese Geschosse
richten sich nun mehr gegen Gott als gegen uns. Denn es geht aus vielen Zeugnissen der Schrift
völlig deutlich hervor, daß auch die Beschneidung ein Zeichen der Buße gewesen ist. Zudem wird
sie von Paulus als "Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens" bezeichnet (Röm. 4,11). Man muß
also Gott selbst darüber zur Rechenschaft ziehen, weshalb er geboten hat, die Beschneidung den
Leibern der Kinder aufzuprägen. Denn da es nun mit Taufe und Beschneidung gleich bestellt ist, so
können sie der Beschneidung nichts geben, ohne es zugleich auch der Taufe zuzugestehen. Wenn sie
sich hier wieder nach ihrer gewohnten Ausflucht umsehen, damals seien durch das kindliche Alter die
geistlichen Kinder bildlich veranschaulicht gewesen, so ist ihnen der Weg schon verrammelt. Wir
behaupten also: da Gott die Beschneidung, die doch ein Sakrament der Buße und des Glaubens war, den
Kindern hat zuteil werden lassen, so kann es nicht widersinnig erscheinen, wenn sie nun auch der
Taufe teilhaftig werden, es sei denn, daß man gegen Gottes Einsetzung offen seine Wut auslassen
wollte. Jedoch erstrahlt wie in allen Taten Gottes, so auch eben in dieser genug Weisheit und
Gerechtigkeit, um den Widerstand der Gottlosen zu dämpfen. Denn obwohl die Kinder in dem
Augenblick, da sie beschnitten wurden, mit ihrem Verstand noch nicht begriffen, was jenes Zeichen
für eine Bedeutung hätte, so wurden sie trotzdem in Wahrheit zur Abtötung ihrer verderbten und
befleckten Natur beschnitten, um dann später, wenn sie herangewachsen waren, ihre Betrachtung auf
solche Abtötung zu richten. Kurzum, dieser Einwand läßt sich ohne Mühe durch die Erwägung aus
der Welt schaffen: die Kinder werden auf ihre künftige Buße und ihren künftigen Glauben hin
getauft; beide haben in ihnen noch keine Gestalt gewonnen, aber durch das verborgene Wirken des
Geistes liegt dennoch der Same zu beiden in ihnen beschlossen. Durch diese Antwort wird dann auch
alles auf einmal umgestoßen, was sie von der Bedeutung der Taufe hernehmen und gegen uns kehren.
Dazu gehört auch der Lob-preis, mit dem die Taufe von Paulus ausgezeichnet wird, indem er sie das
Bad der Wiedergeburt und Erneuerung" nennt (Tit. 3,5). Daraus ziehen sie den Schluß, die Taufe
dürfte also niemand gewährt werden, er sei denn dieser Dinge fähig. Aber wir können dann eben
auf der anderen Seite wieder einwenden, daß dann auch die Beschneidung, die doch die Wiedergeburt
bezeichnete, niemandem anders als Wiedergeborenen hätte erteilt werden dürfen. Und auf diese Weise
würde dann Gottes Einsetzung von uns verdammt werden. Daher haben, wie ich schon mehrfach berührt
habe, alle Beweisgründe, die dazu angetan sind, die Beschneidung ins Wanken zu bringen, auch zur
Bekämpfung der Taufe keine Kraft. Sie können auch nicht entwischen, wenn sie sagen: was sich mit
Sicherheit auf Gottes Autorität stütze, das sei für uns fest und unerschütterlich, auch wenn
keine Begründung dafür erkennbar wäre, diese Ehrerbietung aber komme weder der Kindertaufe noch
anderen ähnlichen Dingen zu, weil sie uns nicht durch ein ausdrückliches Wort Gottes anbefohlen
seien. Denn sie bleiben dann immerfort in dem Entweder-Oder befangen: Gottes Gebot, die Kinder zu
beschneiden, war entweder rechtmäßig und keinerlei Ausflüchten unterworfen — oder es war eben
tadelnswert; lag nun aber nichts Ungereimtes oder Widersinniges in diesem Gebot, so wird man auch
bei der Übung der Kindertaufe nichts Widersinniges aufweisen können.
IV,16,21 Den Makel der Widersinnigkeit, den sie uns nun an dieser Stelle
aufzubrennen versuchen, wischen wir folgendermaßen ab. Wenn Menschen, die der Herr seiner
Erwählung gewürdigt hat, nach Empfang des Zeichens der Wiedergeburt aus diesem gegenwärtigen
Leben wieder ausziehen, ehe sie herangewachsen sind, so erneuert er sie mit der uns unbegreiflichen
Kraft seines Geistes auf eine Weise, von der er selbst allein vorsieht, daß sie zum Ziele führt.
Widerfährt es ihnen, zu einem Alter aufzuwachsen, in dem sie über die Wahrheit der Taufe
unterwiesen werden können, so werden sie dadurch um so mehr zum Eifer um jene Erneuerung
angefeuert, wo sie ja nun erfahren, daß sie mit dem Merkzeichen solcher Erneuerung schon gleich
seid frühester Jugend beschenkt worden sind, um im ganzen Lauf ihres Lebens nach ihr zu trachten.
Eben hierauf muß es bezogen werden, wenn Paulus an zwei Stellen lehrt, wir würden durch die Taufe
mit Christus begraben (Röm. 6,4; Kol. 2,12). Denn er meint hier nicht, daß der, der durch die
Taufe eingeweiht werden soll, schon vorher mit Christus begraben sein muß, sondern er legt die
Lehre, die der Taufe zugrunde liegt, schlicht dar, und zwar solchen gegenüber, die bereits getauft
sind. Es werden also nicht einmal wahnwitzige Leute auf Grund dieser Stelle die Meinung verteidigen
können, diese Lehre gehe der Taufe vorauf. In dieser Weise machten Mose und die Propheten das Volk
darauf aufmerksam, was die Beschneidung für eine Bedeutung hatte, mit der doch die Hörer schon als
Kinder gezeichnet worden waren (Deut. 10,16; Jer. 4,4)! Den gleichen Sinn hat es, wenn Paulus auch
an die Galater schreibt, als sie getauft worden wären, da hätten sie "Christum angezogen"
(Gal. 3,27). Wozu das? Sie sollten eben fortan Christo leben, weil sie ihm vorher nicht gelebt
hatten! Und obwohl bei älteren Menschen der Empfang des Zeichens auf das Begreifen des Geheimnisses
folgen soll, so muß doch bald dargelegt werden, daß es mit den Kindern eine andere Bewandtnis hat.
Anders läßt sich auch jene Petrusstelle nicht auffassen, in der die Wiedertäufer einen
wesentlichen Schutz zu finden meinen; Petrus sagt da von der Taufe, sie sei nicht eine Abwaschung
zum Abtun der Befleckungen des Leibes, sondern das Zeugnis eines guten Gewissens vor Gott, durch die
Auferstehung Christi (1. Petr. 3,21). Auf Grund dieser Stelle behaupten sie nun, der Kindertaufe
werde nichts übriggelassen, als daß sie eine eitle Sache, ein Nebelrauch sei, und zwar, weil eben
dieseWahrheit (von der Petrus redet) weit von ihr weg sei. Aber hier versündigen sie sich abermals
durch die irrige Meinung, die darin besteht, daß sie verlangen, die Sache müsse stets in der
zeitlichen Reihenfolge dem Zeichen vorausgehen. Denn auch die Wahrheit der Beschneidung bestand in
dem nämlichen "Zeugnis eines guten Gewissens". Hätte diese Wahrheit nun unumgänglich (der
Zeit nach) vorausgehen müssen, so wären die Kinder nie und nimmer auf Gottes Geheiß beschnitten
worden. Aber indem der Herr selbst zeigt, daß der Wahrheit der Beschneidung das Zeugnis eines guten
Gewissens innewohnt, und indem er trotzdem gleichzeitig die Weisung gibt, die kleinen Kinder zu
beschneiden, gibt er genugsam zu verstehen, daß in dieser Hinsicht die Beschneidung auf die
künftige Zeit hin erteilt wird. Daher darf man in der Kindertaufe an gegenwärtiger Wirkung nicht
mehr suchen, als daß sie den Bund, den der Herr mit den Kindern geschlossen hat, bekräftigt und
als gültig erweist. Die sonstige Bedeutung dieses Sakraments wird dann später folgen, zu der Zeit,
die Gott selber vorgesehen hat.
IV,16,22 Ich nehme an, daß es jetzt keinen mehr gibt, der nicht deutlich
gewahrte, daß alle derartigen Beweisgründe lauter Verkehrungen der Schrift darstellen. Die
übrigen, die von der gleichen Art sind, wollen wir in Eile durchgehen. Die Wiedertäufer machen den
Einwurf, die Taufe werde doch zur Vergebung der Sünden erteilt. Ist das zugestanden, so wird es
unsere Meinung überreichlich stützen. Denn da wir als Sünder geboren werden, so haben wir bereits
vom Mutterleibe her Vergebung und Verzeihung nötig. Und da ferner Gott diesem Lebensalter die
Hoffnung auf Barmherzigkeit nicht abschneidet, sondern sie vielmehr gewiß macht, weshalb sollen wir
ihm dann das Zeichen, das doch weit niedriger steht als die Sache selbst, wegreißen? Deshalb kehren
wir das Geschoß, das sie sich bemühten gegen uns zu schleudern, gegen sie selbst und sagen: die
Kinder erhalten die Vergebung der Sünden zum Geschenk, also darf man ihnen auch das Zeichen
(solcher Vergebung) nicht rauben. Zugleich bringen sie auch ein Wort aus dem Briefe an die Epheser
vor, nach welchem die Kirche von dem Herrn gereinigt ist "durch das Wasserbad im Wort" des
Lebens (Eph. 5,26). Nun hätte man kein Wort anführen können, das zur Widerlegung ihres Irrtums
geeigneter gewesen wäre. Denn aus ihm ergibt sich für uns ein bequemer Beweis: wenn Christus will,
dass die Abwaschung, mit der er seine Kirche reinigt, in der Taufe bezeugt sei, so erscheint es
nicht billig, dass jene Abwaschung bei den Kindern dies Zeugnis entbehren soll, die doch mit Recht
auf die Seite der Kirche gerechnet werden, da sie ja Erben des Himmelreichs heißen. Denn Paulus
begreift die gesamte Kirche ein, wenn er sagt, sie sei durch dies Wasserbad gereinigt. Eine völlig
gleiche Folgerung ziehen wir auch daraus, wenn Paulus an anderer Stelle sagt, wir seien durch die
Taufe in den Leib Christi eingefügt (1. Kor. 12,13); daraus entnehmen wir nämlich, dass die
Kinder, die er doch zu seinen Gliedern hinzurechnet, getauft werden müssen, damit sie nicht von
seinem Leibe losgerissen werden. Da sieht man, wie gewaltig sie mit soviel Kriegswerkzeug gegen die
Schutzwälle unseres Glaubens anrennen!
IV,16,23 Jetzt kommen sie auf die Übung und Gepflogenheit der apostolischen
Zeit zu sprechen, in der sich niemand finde, der zur Taufe zugelassen worden wäre, ohne zuvor
seinen Glauben und seine Bußfertigkeit bekannt zu haben. Denn als Petrus von solchen, die zur
Umkehr gesonnen waren, gefragt wurde: "Was sollen wir nun tun?", da gab er ihnen den Rat,
erstens Buße zu tun, und zweitens sich "zur Vergebung der Sünden" taufen zu lassen (Apg.
2,37f.). Ebenso gab Philippus, alsjener Kämmerer getauft zu werden bat, zur Antwort: "Glaubst du
von ganzem Herzen, so mag’s wohl sein" (Apg. 8,37). Hieraus hoffen nun die Wiedertäufer für
sich (das Zugeständnis) erreichen zu können, dass es durchaus nicht recht sei, wenn man jemandem
die Taufe erteilte, ohne dass Glaube und Buße vorausgingen. Ja, wahrhaftig, wenn wir dieser
Begründung stattgeben, so wird die erste Stelle (Apg. 2), an der man keine Erwähnung des Glaubens
zu hören bekommt, den Beweis erbringen, dass allein die Buße genügt, und die zweite (Apg. 8), in
der sich nun die Buße durchaus nicht findet, wird beweisen, dass der Glaube allein genug ist! Sie
werden nun meines Erachtens demgegenüber behaupten, diese beiden Stellen stützten sich gegenseitig
und müßten deshalb miteinander verbunden werden. Auch ich sage meinerseits, dass man hier
vergleichen muß andere Stellen, die zur Auflösung dieses Knotens einige Bedeutung haben. Denn es
gibt in der Schrift viele Aussagen, deren Verständnis von den jeweiligen Umständen abhängt. Ein
derartiges Beispiel haben wir eben in den gegenwärtig zur Verhandlung stehenden Stellen vor uns;
denn die Menschen, denen Petrus und Philippus die angeführten Worte sagen, stehen in einem Alter,
das dazu geschickt ist, nach Buße zu trachten und Glauben zu fassen. Wir bestreiten mit Nachdruck,
dass solche Leute die Taufe empfangen dürften, wofern man nicht ihre Bekehrung und ihren Glauben
wahrgenommen hat, freilich nur, soweit man sie mit dem Urteil von Menschen erkunden kann. Aber es
ist mehr als genug deutlich, dass man die Kinder einer anderen Gruppe zurechnen muß. Denn wenn sich
in alter Zeit jemand an Israel anschloß, um mit ihm Gemeinschaft an der Religion zu haben, so
mußte er im Bunde des Herrn unterwiesen und im Gesetz unterrichtet werden, ehe er das Zeichen der
Beschneidung empfing, weil er nach seiner Herkunft ein Ausländer war, das heißt ein Fremdling
gegenüber dem Volke Israel, mit dem der Bund geschlossen worden war, den die Beschneidung
bekräftigte.
IV,16,24 In dieser Weise macht auch der Herr, als er den Abraham zu sich
aufnimmt, den Anfang nicht mit der Beschneidung, indem er ihm etwa in der Zwischenzeit verschwiege,
was er mit diesem Zeichen im Sinne hat; nein, er kündigt ihm zunächst an, was für einen Bund er
mit ihm zu schließen beabsichtigt (Gen. 15,1), und dann, nachdem Abraham der Verheißung Glauben
geschenkt hat, macht er ihn auch des Sakraments teilhaftig (Gen. 17,11). Weshalb ist es nun so, dass
das Sakrament bei Abraham dem Glauben folgt, bei seinem Sohne Isaak dagegen jeglicher Erkenntnis
vorausgeht? Eben deshalb, weil es recht und billig war, dass einer, der erst im Erwachsenenalter in
die Gemeinschaft des Bundes aufgenommen wurde, mit dem er bis dahin gar nichts zu tun gehabt hatte,
zuvor dessen Bedingungen gründlich kennenlernte, während es dagegen mit dem Kinde, das von ihm
stammte, nicht ebenso bestellt war; denn es war ja kraft Erbrechts, nach der gegebenen Form der
Verheißung schon vom Mutterleibe an in den Bund eingeschlossen. Oder, um die Sache klarer und
kürzer darzulegen: wenn die Kinder der Gläubigen ohne Beihilfe ihres Verständnisses des Bundes
teilhaftig sind, so besteht kein Grund, weshalb man sie von dem Zeichen fernhalten könnte, und zwar
etwa mit der Begründung, sie könnten noch nicht auf die Bedingungen des Bundes schwören. Hier
liegt unzweifelhaft der Grund, weshalb Gott mehrfach erklärt, dass die Kinder, die von den
Israeliten abstammten, ihm erzeugt und geboren wären (Ez. 16,20; 23,37). Denn ohne Zweifel
behandelt er die Kinder derer, denen er verheißen hat, er wolle ihres Samens Vater sein, als seine
Kinder (vgl. Gen. 17,7). Wer aber ungläubig ist und von gottlosen Eltern abstammt, der gilt als
fremd gegenüber der Gemeinschaft des Bundes, bis er durch den Glauben mit Gott geeint wird. Es ist
daher nichts Verwunderliches dabei, wenn er ihm auch an dem Zeichen keinen Anteil gibt; denn dessen
Bedeutung wäre ja bei ihm trügerisch und eitel. In diesem Sinne schreibt auch Paulus, dass die
Heiden, solange sie in ihrer Abgötterei versunken waren, außerhalb des Testaments (d.h. des
Bundes) standen (Eph. 2,12). Die ganze Sache läßt sich, wenn ich mich nicht täusche, in folgender
Zusammenfassung zu klarer Lösung bringen: die Menschen, die erst im Erwachsenenalter den Glauben an
Christus annehmen, dürfen, da sie ja bis dahin als Fremde außerhalb des Bundes gestanden haben,
nur dann mit der Taufe gezeichnet werden, wenn Glaube und Buße dazwischentreten, die ihnen allein
den Zugang zur Gemeinschaft des Bundes eröffnen können; die Kinder aber, die von Christen
abstammen, werden ja sogleich mit ihrer Geburt von Gott in die Erbschaft des Bundes aufgenommen und
sind dementsprechend auch zur Taufe zuzulassen. Hierauf ist der Bericht des Evangelisten zu
beziehen, dass Johannes diejenigen getauft hat, die ihre Sünden bekannten (Matth. 3,6) — ein
Vorbild, das nach unserer Ansicht auch heute noch innegehalten werden muß. Denn wenn sich ein
Türke zur Taufe erbötig zeigte, so dürfte er von uns nicht unbedacht getauft werden, wofern er
nämlich nicht ein Bekenntnis abgelegt hätte, das der Kirche Genüge täte.
IV,16,25 Ferner bringen die Wiedertäufer die Worte Christi vor, die im
dritten Kapitel des Johannesevangeliums wiedergegeben werden und in denen nach ihrer Meinung bei der
Taufe die tatsächliche Wiedergeburt erfordert wird: "Es sei denn, dass jemand geboren werde aus
Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen" (Joh. 3,5). Man sehe doch, so sagen
sie, wie die Taufe durch den Mund des Herrn als Wiedergeburt bezeichnet wird! Mit welchem Vorhand
wollen wir es nun beschönigen, dass wir solche, die doch, wie mehr als genug bekannt, zur
Wiedergeburt nicht im mindesten fähig sind, mit der Taufe einweihen, die ohne solche Wiedergeburt
nicht bestehen kann? (So sollen wir uns nach ihrer Meinung fragen.) Zunächst sind sie darin auf dem
verkehrten Wege, dass sie der Meinung sind, an dieser Stelle werde der Taufe Erwähnung getan, und
zwar, weil sie das Wort "Wasser" vernehmen. Christus hatte doch dem Nikodemus zunächst die
Verderbnis der Natur dargelegt und ihn gelehrt, dass eine Wiedergeburt vonnöten sei; da aber
Nikodemus von einer leiblichen Neugeburt träumte, so zeigt Christus an dieser Stelle die Art und
Weise an, in der uns Gott solche Wiedergeburt schenkt, nämlich eben "aus Wasser und Geist". Es
ist, als ob er sagte: es geschieht durch den Geist, der die Seelen der Gläubigen reinigt und
besprengt und damit die Rolle des Wassers erfüllt. "Wasser und Geist" verstehe ich also einfach
so: "der Geist, der das Wasser ist". Diese Redeweise ist auch nicht neu; denn sie stimmt voll
und ganz mit der überein, die sich im dritten Kapitel des Matthäusevangeliums findet: "der ...
nach mir kommt, ... der wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen" (Matth. 3,11). "Mit
dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen", das heißt nun: den Heiligen Geist gewähren, der in der
Wiedergeburt Amt und Natur des Feuers hat; ebenso bedeutet danach: "aus Wasser und Geist
wiedergeboren werden" nichts anderes als jene Kraft des Geistes empfangen, die an der Seele das
ausrichtet, was das Wasser am Leibe vollbringt. Ich weiß, dass andere diese Stelle anders auslegen;
aber ich zweifle nicht daran, dass dies hier ihr lauterer Sinn ist; denn Christus hat doch nichts
anderes vor, als zu lehren, dass alle, die nach dem Himmelreich trachten, ihre eigene Art ausziehen
müssen. Wenn ich allerdings nach der Gewohnheit der Wiedertäufer schmutzige Ausflüchte suchen
wollte, so könnte ich ihnen — auch wenn ich ihnen zugäbe, was sie wünschen — leicht wieder
vorhalten, dass die Taufe (nach dieser Stelle) dem Glauben und der Buße voranginge, weil sie ja in
Christi Worten vor dem Geist steht! Das ist nun zweifellos auf die geistlichen Gaben bezogen, und
wenn diese also auf die Taufe folgen, so habe ich erreicht, was ich will. Aber wir wollen solche
Ausflüchte beiseite lassen und die schlichte Auslegung festhalten, die ich vorgebracht habe,
nämlich dass niemand in das Reich Gottes eingehen kann, ehe er durch das lebendige Wasser, das
heißt durch den Heiligen Geist, erneuert ist.
IV,16,26 Daß nun das Hirngespinst der Wiedertäufer abgelehnt werden muß,
liegt auch auf Grund der Tatsache auf der Hand, dass sie (damit) alle nicht Getauften dem ewigen
Tode überantworten. Nehmen wir also einmal nach ihrem Wunsch an, die Taufe würde ausschließlich
an Erwachsene erteilt. Wenn nun da ein Kind ist, das über die Grundwahrheiten der Frömmigkeit
gehörig und recht schaffen unterrichtet ist, und wenn es solchem Kinde widerfährt, dass es kurz
vor dem für die Taufe angesetzten Tage gegen alle Erwartungen von Menschen durch einen plötzlichen
Tod hinweggenommen wird — was soll dann nach ihrer Meinung aus diesem Kinde werden? Deutlich ist
die Verheißung des Herrn: Jeder, der an den Sohn glaubt, der wird den Tod nicht sehen noch in das
Gericht kommen, sondern er "ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen" (Joh. 5,24; sehr ungenau).
Und man bekommt nirgendwo zu erfahren, dass er einen noch nicht Getauften verdammt hätte. Ich
möchte nicht, dass dies von mir in dem Sinne aufgefaßt würde, als wollte ich zu verstehen geben,
man könnte die Taufe ungestraft verachten — denn ich behaupte, dass durch Verachtung der Taufe
der Bund Gottes geschändet würde; soweit bin ich davon entfernt, mich zu unterstehen, dass ich
solche Verachtung entschuldigte. Es genügt mir nur, (durch diese Darlegungen) zu erweisen, dass die
Taufe nicht dermaßen notwendig ist, dass man meinen müßte, ein Mensch, dem die Möglichkeit
genommen war, sie zu erlangen, müsse deshalb verloren gegangen sein. Wenn wir dagegen das
Hirngespinst der Wiedertäufer gelten lassen, so müssen wir ohne Ausnahme alle verdammen, die
irgendein Unglücksfall von der Taufe ferngehalten hat, mögen sie auch sonst mit noch so viel
Glauben ausgerüstet gewesen sein, mit dem man doch Christus selbst besitzt! Obendrein sprechen sie
alle Kinder des ewigen Todes schuldig, indem sie ihnen die Taufe verweigern, die nach ihrem eigenen
Bekenntnis zum Heil notwendig sein soll. Nun mögen sie zusehen, wie trefflich sie mit Christi
Worten übereinkommen, in denen das Himmelreich eben diesem Lebensalter zugesprochen wird (Matth.
19,14). Und wenn wir ihnen auch alles nur Erdenkliche zugeben, was mit dem Verständnis dieser
Stelle im Zusammenhang steht, so werden sie doch daraus nichts herausholen, wenn sie nicht zuvor den
von uns bereits aufgestellten Satz von der Wiedergeburt der Kinder umgestoßen haben.
IV,16,27 Aber das allerfesteste Bollwerk rühmen sie sich in der Einsetzung
der Taufe selbst zu besitzen, die sie aus dem letzten Kapitel des Matthäusevangeliums entnehmen: da
sendet Christus die Apostel zu allen Völkern aus und gibt ihnen dann den Befehl, erstens, sie zu
unterweisen, und dann zweitens, sie zu taufen (Matth. 28,19). Alsdann verbinden sie damit auch das
Wort aus dem letzten Kapitel des Markusevangeliums: "Wer da glaubet und getauft wird, der wird
selig werden" (Mark. 16,16). Was suchen wir mehr, sagen sie, wo doch die Worte des Herrn klar und
offen so lauten, dass man zunächst lehren und dann taufen soll, und wo sie doch der Taufe den
zweiten Platz, den Platz nach dem Glauben, zuweisen? Für diese Reihenfolge hat auch Jesus, der
Herr, einen Beweis an seiner eigenen Person erbracht, indem er sich erst in seinem dreißigsten
Lebensjahr hat taufen lassen wollen (Matth. 3,13; Luk. 3,21-23). Gütiger Gott, in wie vielfältiger
Weise verstricken sie sich doch hier und legen sie ihre Unwissenheit an den Tag! Denn sie kommen
schon mehr als kindisch darin zu Fall, dass sie die erstmalige Einsetzung der Taufe aus den
angeführten Stellen herleiten, während Christus doch seit Anbeginn seiner Predigt den Aposteln den
Auftrag gegeben hat, sie zu verwalten. Es besteht also kein Grund zu ihrer Behauptung, man müsse
das Gesetz und die Regel der Taufe aus diesen beiden Stellen entnehmen, als ob diese die erste
Einsetzung dieses Sakraments enthielten. Aber selbst wenn wir ihnen diesen Fehlgriff durchgehen
lassen, — welche Kraft hat dann diese Beweisführung? Allerdings, wenn ich Ausflüchte suchen
wollte, so eröffnete sich mir nicht nur ein Schlupfwinkel, sondern ein ganz weites Feld zum
Entschlüpfen! Sie versteifen sich ja so verbissen auf die Reihenfolge der Worte, und weil es da
heißt: "Gehet hin ... Predigt ... und taufet" (Mark. 16,15; ungenau) und ebenso: "Wer da
glaubet und getauft wird ..." (Mark. 16,16), so ziehen sie daraus die Folgerung, man müsse also
erst predigen und dann taufen, und zuvor glauben, ehe man die Taufe begehre. Wenn sie das aber nun
so machen — weshalb sollen nicht auch wir unsererseits die Gegenbehauptung aufstellen, man müsse
taufen, ehe man das "Halten" der Dinge "lehrt", die Christus befohlen hat? Denn die Stelle
lautet ebenso: "Taufet sie, indem ihr sie lehret halten alles, was ich euch befohlen habe"
(Matth. 28,19; genauer). Die gleiche Bemerkung (hier also: "Taufet" steht vor "lehret")
haben wir zu dem wenig weiter oben angeführten Ausspruch Christi gemacht, der von der Wiedergeburt
aus Wasser und Geist handelte (Joh. 3,5; vgl. Sektion 25). Denn wenn wir die Stelle so auffassen,
wie es die Wiedertäufer verlangen, so ergibt sich daraus ohne Zweifel, dass die Taufe vor der
geistlichen Wiedergeburt steht, weil sie nämlich an erster Stelle genannt wird. Denn Christus lehrt
doch nicht, wir müßten "aus Geist und Wasser", sondern "aus Wasser und Geist"
wiedergeboren werden.
IV,16,28 Man gewinnt den Eindruck, dass dieser "unüberwindliche"
Beweisgrund, auf den die Wiedertäufer so große Zuversicht setzen, bereits einigermaßen
erschüttert ist! Da aber die Wahrheit genügenden Schutz bei der Schlichtheit findet, so will ich
mich nicht mit solchen oberflächlichen Spitzfindigkeiten aus der Sache herauswinden. Sie sollen
also eine wohlbegründete Antwort haben! An dieser Stelle gibt Christus vor allem den Befehl, das
Evangelium zu predigen, und daran schließt er das Amt der Taufübung als Anhängsel an. Ferner ist
von der Taufe nur insofern die Rede, als ihre Verwaltung zur Amtsaufgabe der Unterweisung gehört.
Denn Christus sendet die Apostel aus, um das Evangelium allen Völkern der Erde kundzumachen, damit
sie von allen Seiten Menschen, die zuvor verloren waren, durch die Lehre des Heils in sein Reich
versammeln. Aber was sind das nun für Menschen, und von welcher Art sind sie? Es ist sicher, dass
hier ausschließlich von solchen die Rede ist, die in der Lage sind, die Lehre anzunehmen. Hernach
läßt er dann die Weisung folgen, derartige Leute sollten, nachdem sie unterwiesen wären, die
Taufe erhalten, und er fügt die Verheißung hinzu: "Wer da glaubet und getauft wird, der wird
selig werden" (Mark. 16,16). Findet sich nun über die Kinder in der ganzen Rede auch nur eine
einzige Silbe? Wie soll also die Form der Beweisführung aussehen, mit der unsere Widersacher hier
gegen uns angehen? "Die Menschen im Erwachsenenalter sollen zuerst unterwiesen werden, damit sie
glauben, und dann erst sollen sie die Taufe empfangen. Also ist es ein Frevel, auch Kindern an der
Taufe Anteil zu geben!" Aber wenn sie auch darüber bersten, so werden sie doch aus dieser Stelle
nichts anderes beweisen, als dass man solchen, die zum Hören in der Lage sind, zuvor das Evangelium
predigen muß, ehe man sie tauft; denn nur von ihnen ist hier die Rede. Hieraus sollen sie nun, wenn
sie es fertig bekommen, den Sperrdamm bauen, um die Kinder von der Taufe fernzuhalten!
IV,16,29 Aber damit ihre Trügereien selbst für Blinde im Tasten
wahrnehmbar werden, will ich sie noch mit einem recht deutlichen Gleichnis ins Licht rücken. Der
Apostel sagt: "So jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen" (2. Thess. 3,10); wenn
nun jemand dieses Wort zum Vorwand nähme, um zu beweisen, man müsse den Kindern (die ja nicht
arbeiten) ihre Nahrung wegnehmen, wäre der nicht wert, dass er von allen Leuten verachtet würde?
Und warum nun? Weil er eben ein Wort, das sich auf eine ganz bestimmte Art von Menschen und auf ein
bestimmtes Lebensalter bezog, ohne Unterschied gewaltsam auf alle anwenden will. Durchaus nicht
geschickter benehmen sich nun die Wiedertäufer in der hier zur Verhandlung stehenden Sache. Denn
was sich, wie jedermann sieht, ausschließlich auf das Erwachsenenalter bezieht, das wenden sie auf
die Kinder, so dass auch dies Lebensalter einer Regel unterworfen wird, die nur für ältere
Menschen aufgestellt war. Was nun das Beispiel Christi angeht, so trägt es zur Stützung ihrer
Sache rein nichts bei. Er ist, so sagen sie, nicht vor seinem dreißigsten Lebensjahr getauft worden
(Matth. 3,13; Luk. 3,23). Das ist allerdings richtig; aber die Ursache liegt doch auf der Hand: er
wollte eben erst damals mit seiner Predigt das feste Fundament der Taufe legen, oder besser: das
Fundament festigen, das kurz zuvor von Johannes gelegt worden war. Er wollte also mit seiner Lehre
die Taufe einsetzen, und um nun seiner Einsetzung größere Autorität zu verschaffen, heiligte er
sie an seinem eigenen Leibe, und zwar zu der denkbar gelegensten Zeit, nämlich als er seine Predigt
begann. Kurz, die Wiedertäufer können aus diesem Tatbestand nichts anderes beweisen, als dass die
Taufe ihren Ursprung und Anfang bei der Predigt des Evangeliums genommen hat. Wenn sie nun aus dem
dreißigsten Lebensjahr eine feste Vorschrift machen wollen, weshalb halten sie es dann nicht ein,
sondern lassen jeden zur Taufe zu, wenn er nach ihrem Urteil weit genug vorangekommen ist? Ja,
selbst Servet, einer von ihren Meistern, legte zwar auf die dreißig Jahre hartnäckig Nachdruck —
aber er hatte trotzdem schon mit seinem einundzwanzigsten Lebensjahr angefangen, sich für einen
Propheten auszugeben! Das ist genau so, als wenn man einen Menschen dulden sollte, der sich in der
Kirche das Lehramt anmaßt, bevor er ein Glied der Kirche selber ist!
IV,16,30 Schließlich machen die Wiedertäufer den Einwand, es bestehe kein
stärkerer Grund, den Kindern an der Taufe Anteil zu geben, als am Abendmahl des Herrn, das man
ihnen doch durchaus nicht gewährt. Als ob die Schrift nicht auf allerlei Weise einen weitgehenden
Unterschied zwischen den beiden Sakramenten kenntlich machte! Es ist zwar in der Alten Kirche so
gemacht worden (dass man den Kindern auch das Abendmahl gab), wie sich aus Cyprian und Augustin klar
ergibt; aber diese Sitte ist verdientermaßen wieder abgekommen. Denn wenn wir das Wesen und die
Eigenart der Taufe in Betracht ziehen, so ist sie jedenfalls gewissermaßen der Eingang oder
gleichsam die Einweihung in die Kirche, wodurch wir zu Gottes Volk hinzugerechnet werden, sie ist
das Zeichen unserer geistlichen Wiedergeburt, durch die wir zu Kindern Gottes neu geboren werden.
Das Abendmahl dagegen ist für die Älteren bestimmt, die die zartere Kindheit hinter sich haben und
schon feste Speise ertragen können. Dieser Unterschied wird in der Schrift überaus deutlich
aufgezeigt. Denn da läßt der Herr, soweit es die Taufe betrifft, keine Auswahl hinsichtlich des
Alters eintreten. Das Abendmahl aber reicht er nicht so dar, dass alle gleichermaßen daran
teilhaben sollen, sondern es können seiner nur solche teilhaftig werden, die imstande sind, Leib
und Blut des Herrn zu "unterscheiden", ihr eigenes Gewissen zu "prüfen", "den Tod des
Herrn zu verkündigen" und seine Kraft recht zu erwägen. Wollen wir etwas Klareres haben, als was
der Apostel lehrt, wenn er die Mahnung ausspricht: "Der Mensch prüfe aber sich selbst und
untersuche sich selbst, und also esse er von diesem Brot und trinke von diesem Kelch" (1. Kor.
11,28; kleiner Zusatz)? Es muß also eine (Selbst-)prüfung vorausgehen, und die erwartet man bei
Kindern vergeblich. Ebenso sagt der Apostel: "Welcher unwürdig isset ..., der isset und trinket
sich selber zum Gericht, darum, dass er nicht unterscheidet den Leib des Herrn" (1. Kor. 11,29).
Wenn nur die würdig am Abendmahl teilnehmen können, die die Heiligkeit des Leibes Christi nach
Gebühr zu unterscheiden wissen, weshalb sollen wir dann unseren zarten Kindern statt der
lebendigmachenden Nahrung Gift darreichen? Was soll uns denn die Weisung des Herrn bedeuten: "Solches
tut zu meinem Gedächtnis" (Luk. 22,19; 1. Kor. 11,25)? Und was sollen wir zu der anderen Weisung
sagen, die der Apostel daraus ableitet: "Sooft ihr von diesem Brot esset ..., sollt ihr des Herrn
Tod verkündigen, bis dass er kommt" (1. Kor. 11,26)? Ich möchte doch wissen: was für ein "Gedächtnis"
wollen wir denn von den Kindern verlangen — mit Bezug auf eine Sache, die sie mit ihrem Empfinden
nie und nimmer erfaßt haben? Was für eine "Verkündigung" des Kreuzes Christi sollen wir denn
von ihnen fordern, dessen Kraft und Wohltat sie mit ihrem Verstand noch nicht begreifen? Bei der
Taufe wird nichts dergleichen vorgeschrieben, und daher besteht zwischen diesen beiden Zeichen ein
sehr wesentlicher Unterschied. Den nämlichen Unterschied bemerken wir auch unter dem Alten
Testament zwischen den beiden ähnlichen Zeichen (Beschneidung und Passah). Die Beschneidung,
welche, wie bekannt, unserer Taufe entsprach, war für die Kinder bestimmt. Das Passah dagegen, an
dessen Stelle jetzt das Abendmahl getreten ist, ließ nicht ohne Unterschied alle und jegliche
Tischgenossen zu, sondern es wurde nur von denen rechtmäßig gegessen, die ihrem Alter nach in der
Lage waren, nach seiner Bedeutung zu fragen (Ex. 12,26). Würden die Wiedertäufer, wenn ihnen auch
nur ein klein wenig gesunder Verstand übriggeblieben wäre, wohl einer Sache gegenüber blind sein,
die so deutlich und so unmittelbar einleuchtend ist?
IV,16,31 Obgleich es mich verdrießt, den Lesern mit einer solchen Masse von
Geschwätz lästig zu fallen, wird es doch angebracht sein, in aller Kürze die schönscheinenden
Beweisgründe zu entkräften, die Servet, nicht der geringste unter den Wiedertäufern, ja eine
große Zierde dieser Schar, vorzubringen für gut befunden hat, als er sich zum Kampfe rüstete.
(1) Er schützt die Behauptung vor, Christi Merkzeichen seien doch vollkommen und erforderten
dementsprechend auch Menschen, die vollkommen wären oder doch zur Vollkommenheit imstande wären.
Da liegt aber die Antwort schon bereit: die Vollkommenheit der Taufe erstreckt sich bis zum Tode
hin, und es ist daher verkehrt, wenn man sie auf einen einzigen Zeitpunkt beschränkt. Ich füge
auch noch hinzu: es ist töricht, wenn man bei einem Menschen am ersten Tage (bei seiner Taufe) eine
Vollkommenheit sucht, zu der uns doch die Taufe unser ganzes Leben lang in ununterbrochener
Stufenfolge einlädt.
(2) Servet wirft nun ein, die Merkzeichen Christi seien zu seinem Gedächtnis gestiftet, damit jeder
bei sich bedenke, dass er mit Christus begraben worden sei. Ich antworte darauf: was er sich aus
seinem Kopf heraus erdacht hat, das bedarf keiner Widerlegung. Ja, was er auf die Taufe bezieht, das
ist dem Abendmahl eigentümlich, wie die Worte des Paulus zeigen: "Der Mensch prüfe sich selbst
..." (1. Kor. 11,28). Im Hinblick auf die Taufe findet sich dergleichen nirgendwo. Daraus
entnehmen wir, dass die Taufe rechtmäßig an solche erteilt wird, die nach dem Maß ihres Alters zu
solcher (Selbst-)prüfung nicht in der Lage sind.
(3) Zum dritten führt er die Stelle an: "Wer dem Sohn nicht glaubt, der bleibt im Tode, und der
Zorn Gottes bleibt über ihm" (Joh. 3,36; Mitte ungenau). Daraus folgert er: also verblieben auch
die Kinder, die nicht zu glauben vermöchten, in ihrer Verdammnis. Darauf gebe ich die Entgegnung:
Christus spricht hier nicht von der allgemeinen Schuld, in die alle Nachkommen Adams verhaftet sind,
sondern er droht nur den Verächtern des Evangeliums, die die ihnen angebotene Gnade hoffärtig und
halsstarrig von sich weisen. Das aber hat mit den Kindern nichts zu tun. Zugleich setze ich seiner
Behauptung eine entgegengesetzte Begründung entgegen: jeder, den Christus segnet, er mag sein, wer
er will, der wird dem Fluch über Adam und dem Zorn Gottes entnom-men. Da es also bekannt ist, dass
die Kinder von ihm gesegnet sind (Matth. 19,15; Mark. 10,16), so ergibt sich, dass sie aus dem Tode
erlöst sind. Fälschlich führt Servet dann eine Stelle an, die man nirgendwo (in der Schrift) zu
lesen bekommt: "Wer aus dem Geist geboren ist, der hört die Stimme des Geistes." Selbst wenn
wir zugäben, dass dies geschrieben stünde, so könnte er daraus doch nichts anderes beweisen, als
dass die Gläubigen in dem Maße, als der Geist in ihnen am Werke ist, zum Gehorsam gestaltet
werden. Aber es ist verkehrt, ein Wort, das sich auf eine bestimmte Anzahl von Menschen bezieht,
gleichermaßen auf alle anzuwenden.
(4) Zum vierten macht er den Einwand: weil das, was natürlich ist (dem Geistlichen) vorausgeht (1.
Kor. 15,46), so muß man eine Zeit abwarten, die für die Taufe reif ist, die doch geistliche Art
hat. Ich gebe nun freilich zu, dass alle Nachkommen des Adam aus dem Fleisch geboren sind und vom
Mutterleibe an ihre Verdammnis mit sich herumtragen; aber ich bestreite doch, dass dies ein
Hindernis bedeutete, weshalb Gott nicht sogleich ein Mittel dagegen anwenden könnte. Denn Servet
wird nicht nachweisen können, dass Gott eine bestimmte Anzahl von Jahren vorgeschrieben hätte, mit
denen das neue geistliche Leben beginnen könnte. Paulus ist jedenfalls Zeuge dafür, dass die
Kinder, die von Gläubigen geboren werden, zwar der Natur nach verloren sein mögen, aber durch die
übernatürliche Gnade heilig sind (1. Kor. 7,14).
(5) Alsdann bringt er eine Allegorie vor: David habe, als er den Berg Zion hinanzog, weder Blinde
noch Lahme mit sich geführt, sondern wackere Soldaten (2. Sam. 5,6). Was will Servet aber sagen,
wenn ich dem das Gleichnis entgegenhalte, in dem Gott die Blinden und die Lahmen zudem himmlischen
Mahle einlädt (Luk. 14,21)? Wie will er sich aus diesem Knoten herauswinden? Ich frage auch: haben
denn etwa vorher nicht auch Lahme und Verstümmelte mit David (zusammen) gekämpft? Es ist aber
überflüssig, bei diesem Gedankengang länger stehenzubleiben; denn die Leser werden auf Grund der
Heiligen Geschichte schon herausfinden, dass er aus lauter Trügerei zusammengeschmiedet ist.
(6) Dann folgt eine weitere Allegorie: die Apostel seien "Menschenfischer", nicht aber Fischer
von kleinen Kindern gewesen (Matth. 4,19). Ich frage nun aber, was dann das Wort Christi bedeuten
soll, nach welchem in dem Netz des Evangeliums Fische von "allerlei Gattung" gefangen werden
(Matth. 13,47). Aber weil ich keine Lust habe, mit Allegorien zu spielen, so antworte ich: wenn den
Aposteln das Amt der Lehrunterweisung aufgetragen worden ist, so hinderte sie das nicht daran,
Kinder zu taufen. Allerdings möchte ich auch noch wissen, warum Servet, wo doch der Evangelist von
"Menschen" spricht — ein Ausdruck, der das Menschengeschlecht ohne Ausnahme umfaßt —, etwa
leugnen will, dass die Kinder Menschen sind.
(7) Zum siebenten behauptet Servet: da Geistliches zu geistlichen Menschen gehörte (1. Kor.
2,13f.), so seien die Kinder, die nicht geistlich seien, zur Taufe ungeeignet. Aber es liegt
zunächst klar auf der Hand, wie verkehrt er die Stelle bei Paulus verdreht. Es handelt sich um die
Lehre, und da sich nun die Korinther in ihrem eitlen Scharfsinn mehr als billig gefielen, so zog
Paulus ihre Trägheit ans Licht (und zeigte), dass sie noch in den ersten Anfangsgründen der
himmlischen Lehre unterwiesen werden mußten. Wer will nun daraus die Folgerung ziehen, die Taufe
müsse den Kindern verweigert werden, die doch Gott, obwohl sie vom Fleische geboren sind,
gnadenweise zu Kindern annimmt und dadurch für sich weiht?
(8) Weiter stellt er den Satz auf, wenn die Kinder neue Menschen wären, so müßten sie mit
geistlicher Speise genährt werden (was doch bei ihnen nochnicht möglich sei). Aber hier ist die
Antwort leicht zu geben, die Kinder werden durch die Taufe in Christi Herde aufgenommen, und das
Merkzeichen ihrer Aufnahme in die Kindschaft genügt ihnen, bis sie herangewachsen und dadurch in
der Lage sind, feste Speise zu ertragen; man muß also die Zeit der Prüfung abwarten, die Gott bei
dem Heiligen Abendmahl ausdrücklich fordert.
(9) Danach macht er den Einwand, Christus rufe alle zum Heiligen Abendmahl, die zu den Seinigen
gehören. Aber es steht doch hinreichend fest, dass er nur solche zuläßt, die schon dazu bereitet
sind, das Gedächtnis seines Todes zu feiern. Daraus ergibt sich, dass die Kinder, die er gewürdigt
hat, von ihm in die Arme genommen zu werden, zwar, bis sie herangewachsen sind, auf einer
gesonderten und ihnen eigenen Stufe stehen, aber doch keine Fremdlinge sind. Und wenn Servet dann
entgegnet, es sei doch ungeheuerlich, dass ein Mensch, nachdem er (geistlich neu) geboren ist, nicht
(geistlich, d.h. im Abendmahl) essen sollte, so antworte ich: die Seelen werden anders gespeist als
durch den äußerlichen Genuß des Abendmahls, und Christus ist daher nichtsdestoweniger die Speise
für die Kinder, mögen sie sich auch des Merkzeichens (solcher Speise, d.h. des Abendmahls)
enthalten. Mit der Taufe ist es anders bestellt, durch sie wird ihnen allein die Eingangspforte zur
Kirche geöffnet.
(10) Wiederum wirft Servet ein, ein guter Haushalter gebe seinen Hausgenossen "zu rechter Zeit
Speise" (Matth. 24,45). Das gebe ich nun zwar gerne zu; aber mit welchem Recht will er uns die
Zeit zur Taufe festsetzen, um zu beweisen, sie werde den Kindern nicht "zur rechten Zeit"
zuteil? Außerdem führt er jene Weisung Christi an seine Apostel an, sie sollten zur Ernte eilen,
wenn die Felder weiß seien (Joh. 4,35). Aber Christus hat doch an dieser Stelle nur eins im Sinne:
die Apostel sollten sehen, dass die Frucht ihrer Arbeit vor ihnen lag, und sich deshalb um so
eifriger zum Lehren anschicken. Wer will nun daraus folgern, allein die Zeit der Ernte sei die
rechte Zeit zur Taufe?
(11) Sein elfter Beweisgrund ist der, in der ersten Kirche seien "Christen" und "Jünger"
dasselbe gewesen (Apg. 11,26). Aber wir haben ja schon gesehen, dass er damit törichterweise von
einem Teil auf das Ganze schließt. "Jünger" heißen Menschen von gehörigem Alter, die schon
unterwiesen und in die Nachfolge Christi getreten waren, so wie die Juden unter dem Gesetz Jünger
Moses sein mußten; aber daraus wird niemand mit Recht folgern dürfen, die Kinder seien
Draußenstehende gewesen, wo doch Gott bezeugt hat, dass sie seine Hausgenossen sind.
(12) Zudem führt er auch an, alle Christen seien Brüder, und zu den Brüdern gehörten die Kinder
für uns nicht, solange wir sie vom Abendmahl fernhielten. Ich komme demgegenüber auf den Grundsatz
zurück: Erben des Himmelreichs sind nur die, welche Christi Glieder sind; ferner ist es ein
wahrhaftiges Zeichen der Aufnahme in die Kindschaft gewesen, dass Christus die Kinder in die Arme
genommen hat (Matth. 19 und Parallelen), und durch diese Aufnahme in die Kindschaft werden die
Kinder mit den Erwachsenen gemeinsam umschlossen, endlich steht auch die zeitweilige Enthaltung vom
Abendmahl der Tatsache nicht im Wege, dass sie zum Leib der Kirche gehören. Auch der am Kreuze
bekehrte Schacher hörte doch nicht auf, ein Bruder der Frommen zu sein, obgleich er niemals zum
Abendmahl gekommen ist.
(13) Dann fügt Servet noch zu, es würde niemand unser Bruder als durch den Geist der (Aufnahme in
die) Kindschaft, den man doch nur aus dem Hören (der Predigt) des Glaubens erlangte. Ich antworte:
er verfällt immer wieder in den gleichen Fehlschluß, weil er Worte, die allein von den Erwachsenen
gelten, unrichtigerweise auf die Kinder bezieht. Paulus lehrt an dieser Stelle (Röm. 10,17; Gal.
3,5), wie Gott bei der Berufung gewöhnlich den Weg einschlägt, dass er seine Auserwählten zum
Glauben führt, indem er ihnen treue Lehrer erweckt, durch deren Dienst und Arbeit er ihnen die Hand
entgegenstreckt. Wer will sich aber erdreisten, ihm daraufhin ein Gesetz aufzuerlegen, dass er die
Kinder nicht auf eine andere, verborgene Weise in Christus einleibt?
(14) Weiterhin beruft er sich darauf, dass Cornelius nach Empfang des Heiligen Geistes getauft
worden ist (Apg. 10,44-48). Aber wie verkehrt es ist, dass er aus diesem einen Beispiel eine
allgemeine Regel beweisen will das kommt bei dem Kämmerer und bei den Samaritanern heraus (Apg.
8,27-38; 8,12), bei denen Gott die umgekehrte Reihenfolge eintreten ließ, dass die Taufe den Gaben
des Geistes vorausging.
(15) Sein fünfzehnter Beweisgrund ist mehr als ungereimt: er sagt, durch die Wiedergeburt würden
wir zu Göttern; Götter seien aber solche, zu denen Gottes Wort geschehen sei (Joh. 10,34f.), und
das könne man von unmündigen Kindern nicht behaupten. Daß er den Gläubigen göttliche Art
andichtet, das ist eine von seinen Wahnvorstellungen, deren Widerlegung nicht hierher gehört; aber
die (hier in Frage kommende) Psalmstelle (Ps. 82,6) in einem ihr so fremden Sinne zu verdrehen, das
ist heillose Unverschämtheit. Christus erklärt, dass die Könige und Obrigkeiten von dem Propheten
"Götter" genannt werden, weil sie ein Amt tragen, das ihnen von Gott auferlegt ist. Dieser
gewandte Ausleger aber bezieht ein Wort, das von dem besonderen Auftrag zur Regierung handelt und
sich an bestimmte Personen richtet, auf die Lehre des Evangeliums, um die Kinder von der Kirche
wegzuweisen.
(16) Auf der anderen Seite macht er den Einwand: die Kinder könnten nicht als neue Menschen
angesehen werden, weil sie nicht durch das Wort geboren würden. Ich wiederhole demgegenüber
abermals, was ich schon mehrfach ausgesprochen habe: den "unvergänglichen Samen" zu unserer
Wiedergeburt (1. Petr. 1,23) stellt die Lehre dar, sofern wir in der Lage sind, sie in uns
aufzunehmen; wo wir aber unseres Alters halben noch keine Belehrung empfangen können, da hat Gott
seine Stufenfolge in der Hand, um uns zur Wiedergeburt zu bringen.
(17) Danach kommt er dann wieder auf seine Allegorien zurück und sagt, unter dem Gesetz hätte man
Schaf und Ziege nicht sogleich, wenn sie aus dem Mutterleibe hervorgegangen waren, zum Opfer
dargebracht, wenn ich nun Lust hätte, hier (auch meinerseits) bildliche Veranschaulichungen
herbeizuziehen, so könnte ich leicht die Gegenbehauptung aufstellen: "allerlei Erstgeburt" war,
gleich, wenn sie "die Mutter brach", Gott geheiligt (Ex. 13,2), und ferner sollte doch (bereits)
ein einjähriges Lamm geschlachtet werden (Ex. 12,5). Daraus ergibt sich dann, dass man keineswegs
auf die männliche Kraft warten muß, sondern dass vielmehr auch die eben erst geborenen und noch
gar zarten Sprößlinge von Gott zu Opfern erwählt werden.
(18) Außerdem behauptet Servet, es könnten nur die zu Christus kommen, die zuerst von Johannes
vorbereitet worden wären. Als ob das Amt des Johannes nicht zeitlich (und damit vorübergehend)
gewesen wäre! Aber, um das beiseite zu lassen: bei den Kindern, die Christus in seine Arme genommen
und gesegnet hat (Matth. 19 und Parallelen), lag jene Vorbereitung jedenfalls nicht vor. Darum
wollen wir ihn mit seinem falschen Grundsatz laufen lassen!
(19) Schließlich nimmt er sich (die Schriften unter Berufung auf) den (Hermes) Trismegistos und die
Sibyllen zu Schutzhelfern dafür, dass die heiligen Waschungen nur Erwachsenen zukämen. Da sieht
man, was er für eine ehrerbietige Meinung von der Taufe Christi hat, indem er sie nach den
unheiligen Gebräuchen der Heiden richtet, damit sie nicht anders verwaltet werde, als es dem
(Hermes) Trismegistos gefallen hat! Für uns aber steht an höherer Stelle die Autorität Gottes,
dem es gefallen hat, sich die Kinder zu heiligen und sie mit dem heiligen Merkzeichen einzuweihen,
dessen Kraft sie ihres Alters wegen noch nicht verstanden, wir sind auch nicht der Meinung, dass es
recht ist, aus den Sühnegebräuchen der Heiden etwas zu entlehnen, was an unserer Taufe Gottes
ewiges und unverletzliches Gesetz abändern soll, wie er es mit Bezug auf die Beschneidung
festgelegt hat.
(20) Und am Ende stellt er die Überlegung an: wenn man Kinder taufen dürfte, ohne dass sie etwas
davon verstehen, so könnte die Taufe auch von spielenden Kindern zur Nachahmung oder um Scherz
ausgeübt werden. Aber darüber mag er mit Gott rechten, auf dessen Geheiß die Beschneidung den
Kindern zuteil wurde, bevor sie Verstand bekommen hatten, war sie nun deshalb eine Spielerei oder
eine Sache, die kindischen Albernheiten unterworfen gewesen wäre, so dass Kinder die heilige
Einsetzung Gottes hätten umstoßen können? Aber es ist nicht verwunderlich, dass solche
verworfenen Geister, wie wenn sie vom Wahnwitz umgetrieben würden, auch die gröbsten
Widersinnigkeiten zur Verteidigung ihrer Irrtümer vorbringen; denn mit solcher schwindelnden
Raserei übt Gott an ihnen gerechte Rache für ihre Aufgeblasenheit und Widerspenstigkeit. Auf jeden
Fall hoffe ich deutlich gemacht zu haben, mit was für gebrechlichen Stützen Servet seinen
Brüderlein, den Wiedertäufern, beigesprungen ist.
IV,16,32 Ich nehme an, dass es jetzt für keinen verständigen Menschen mehr
zweifelhaft ist, wie vorwitzig die Kirche Christi durch solche Leute in Verwirrung gebracht wird,
die wegen der Kindertaufe Zwistigkeiten und Streitereien erregen. Es ist nun aber angebracht, darauf
zu achten, was der Satan eigentlich mit solch großer Verschlagenheit ins Werk setzt: er will uns
eben die einzigartige Frucht der Zuversicht und der geistlichen Freude, die man aus der Kindertaufe
gewinnen kann, aus der Hand reißen und auch dem Ruhm der göttlichen Güte im nämlichen Maße
Abbruch tun. Denn wie lieblich ist es für die frommen Herzen, nicht nur mit dem Wort, sondern auch
mit dem, was sie mit Augen sehen dürfen, Gewißheit darüber zu gewinnen, wie sie bei ihrem
himmlischen Vater so viel Gnade erlangen, dass er auch noch für ihre Nachkommenschaft sorgt! Denn
hier ist es wahr zunehmen, wie er uns gegenüber die Rolle eines ganz fürsorglichen Hausvaters
übernimmt, der auch nach unserem Tode die Sorge für uns nicht fahrenläßt, sondern für unsere
Kinder sorgt und ihnen seine Fürsorge angedeihen läßt. Müssen wir da nicht nach Davids Beispiel
von ganzem Herzen frohlocken und Danksagen, damit sein Name durch einen solchen Beweis seiner Güte
geheiligt werde (Ps. 48,11)? Darum, darum ist es ohne Zweifel dem Satan zu tun, wenn er mit soviel
Gewalt gegen die Kindertaufe anrennt: es soll eben diese Bezeugung der Gnade Gottes aus dem Mittel
getan werden und damit auch die Verheißung, die uns durch sie vor Augen gehalten wird, schließlich
nach und nach verschwinden! Daraus soll dann nicht allein eine gottlose Undankbarkeit gegen Gottes
Erbarmen entstehen, sondern auch eine gewisse Trägheit, die Kinder zur Frömmigkeit zu erziehen.
Denn wenn wir bedenken, dass unsere Kinder schon gleich von ihrer Geburt an von ihm als Kinder
behandelt und anerkannt werden, so ist das ein Ansporn, der uns nicht wenig dazu reizt, sie in der
ernstlichen Furcht Gottes und im Halten des Gesetzes zu erziehen, wollen wir also nicht boshaft
Gottes Wohltätigkeit verdunkeln, so wollen wir ihm unsere Kinder darbringen, denen er einen Platz
unter seinen Freunden und Hausgenossen, das heißt unter den Gliedern der Kirche, zuweist!
Vom Heiligen Abendmahl des Herrn — und was es uns bringt
IV,17,1 Gott hat uns einmal in seine Hausgenossenschaft aufgenommen, und
zwar, um uns nicht nur als seine Knechte, sondern als seine Kinder anzusehen. Nachdem er das getan
hat, will er aber auch das Amt eines sehr guten Vaters erfüllen, der für seine Kinder sorgt, und
dazu nimmt er es auf sich, uns im ganzen Laufe unseres Lebens Speise zu geben. Ja, er hat sich damit
nicht zufriedengegeben, sondern uns ein Unterpfand geschenkt, mit dem er uns solcher fortwährenden
Freundlichkeit hat vergewissern wollen. Zu diesem Zweck hat er daher seinen Kindern durch die Hand
seines eingeborenen Sohnes das zweite Sakrament gegeben, nämlich das geistliche Mahl, in welchem
Christus bezeugt, daß er das lebendigmachende Brot ist, durch das unsere Seelen zur wahren, seligen
Unsterblichkeit gespeist werden (Joh. 6,51). Nun ist es aber von dringender Notwendigkeit, dieses
große Geheimnis zu kennen, und es erfordert angesichts seiner Wichtigkeit eine eingehende
Darlegung. Zudem hat der Satan die Kirche dieses unermeßlichen Schatzes berauben wollen und in
dieser Absicht zunächst Nebel und dann Finsternis vor ihm aufziehen lassen, um sein Licht zu
verdunkeln; auch hat er Streitigkeiten und Kämpfe erregt, um damit die Sinne einfältiger Menschen
vom Genuß solcher heiligen Speise abzubringen, und auch zu unserer Zeit hat er die nämliche List
versucht. Ich muß also zunächst mit Rücksicht auf das Auffassungsvermögen der Unkundigen den
wesentlichen Inhalt der Sache zusammenfassen, dann aber auch jene Knoten auflösen, in welche der
Satan die Welt zu verstricken versucht hat. Zunächst: die Zeichen (bei diesem Sakrament) sind Brot
und Wein: sie stellen uns die unsichtbare Speise dar, die wir aus Christi Fleisch und Blut
empfangen. Denn wie uns Gott in der Taufe die Wiedergeburt schenkt, in die Gemeinschaft seiner
Kinder einfügt und durch Aufnahme in die Kindschaft zu den Seinen macht, so erfüllt er, wie
gesagt, das Amt eines fürsorglichen Hausvaters darin, daß er uns fort und fort Speise gewährt, um
uns damit in dem Leben zu erhalten und zu bewahren, zu dem er uns durch sein Wort gezeugt hat. Und
dann: die einige Speise unserer Seele ist Christus, und deshalb lädt uns der himmlische Vater zu
ihm ein, damit wir, indem wir seiner teilhaftig werden, Erquickung empfangen und dadurch immer
wieder neue Kraft sammeln, bis wir zur himmlischen Unsterblichkeit gelangt sind. Dies Geheimnis der
verborgenen Einung Christi mit den Frommen aber ist seiner Natur nach unbegreiflich; daher läßt er
eine Vergegenwärtigung oder ein Bild solchen Geheimnisses in sichtbaren Zeichen kundwerden, die
unserem geringen Maß auf das beste angepaßt sind, ja, er gibt uns gleichsam Pfänder und
Merkzeichen und macht es uns damit zur Gewißheit, wie wenn wir es mit Augen sähen. Denn es ist ein
vertrautes Gleichnis, das auch bis in den unkundigsten Verstand dringt: unsere Seelen werden genau
so mit Christus gespeist, wie Brot und Wein das leibliche Leben erhalten. Damit wird uns also schon
deutlich, welchem Zweck diese verborgene Segnung (mystica benedictio) dient: sie soll uns die
Gewißheit verschaffen, daß der Leib des Herrn dergestalt einmal für uns geopfert worden ist, daß
wir ihn jetzt als Speise genießen und über solchem Genießen die Wirkkraft dieses einigen Opfers
an uns erfahren, — und daß sein Blut dergestalt einmal für uns vergossen ist, daß es uns zu
einem Trank wird für immerdar. So lauten denn auch die Worte der Verheißung, die dabei zugefügt
ist: "Nehmet, ... das ist mein Leib, der für euch gegeben wird" (Luk. 22,19; nicht Luther-text;
1. Kor. 11,24; Matth. 26,26; Mark. 14,22). Wir werden also geheißen, den Leib zu "nehmen" und
zu "essen", der einmal zu unserem Heil zum Opfer gebracht worden ist, damit wir sehen, daß wir
dieses Leibes teilhaftig werden, und darüber zu der festen Gewißheit kommen, daß die Kraft seines
lebendigmachenden Todes in uns wirksam sein wird. Daher nennt er auch den Kelch den "Bund"
(Luthertext: "das neue Testament") in seinem Blut (Luk. 22,20; 1. Kor. 11,25). Denn allemal,
wenn er uns jenes heilige Blut zu trinken gibt, ist es so, daß er den Bund, den er einmal mit
seinem Blute bekräftigt hat, gewissermaßen erneuert oder besser ihn fortführt, soweit es zur
Stärkung unseres Glaubens gereicht.
IV,17,2 Reiche Frucht der Zuversicht und Lieblichkeit können nun die frommen
Seelen aus diesem Sakrament empfangen, weil sie ja das Zeugnis haben, daß wir mit Christus zu einem
Leibe zusammengewachsen sind, so daß alles, was sein ist, auch unser eigen genannt werden darf.
Daraus folgt, daß wir es wagen dürfen, der getrosten Zuversicht zu sein, daß uns das ewige Leben
zugehört, weil er selbst sein Erbe ist, daß uns das Himmelreich, in das er bereits eingegangen
ist, ebensowenig entrissen werden kann wie ihm, und daß wir auf der anderen Seite von unseren
Sünden nicht verdammt werden können, weil er uns schon von der durch sie begründeten Schuld
freigesprochen hat, indem er den Willen hatte, daß sie ihm zugerechnet würden, als ob sie seine
eigenen wären. Das ist der wundersame Tausch, den er in seiner unermeßlichen Güte mit uns
eingegangen ist: er ist mit uns zum Sohn des Menschen geworden und hat uns mit sich zusammen zu
Söhnen Gottes gemacht, er ist zur Erde hinabgestiegen und hat uns dadurch den Weg zum Himmel hinauf
gebahnt, er hat unser sterbliches Wesen angenommen und uns dadurch seiner Unsterblichkeit teilhaftig
gemacht, er hat sich unsere Schwachheit zu eigen gemacht und uns dadurch mit seiner Kraft gestärkt,
unsere Armut hat er auf sich genommen und uns damit seinen Reichtum zugetragen, die Last unserer
Ungerechtigkeit, die uns drückte, hat er auf sich selbst geladen und uns dadurch mit seiner
Gerechtigkeit bekleidet.
IV,17,3 Alle diese Dinge werden uns in diesem Sakrament so vollgültig
bezeugt, daß wir mit Sicherheit dafür halten sollen, daß sie uns wahrhaftig dargeboten werden,
nicht anders, als wenn Christus selbst gegenwärtig wäre, uns vor die Augen träte und von unseren
Händen betastet würde. Denn dies Wort kann uns nicht belügen noch betrügen: "Nehmet hin,
esset, trinket, das ist mein Leib, der für euch gegeben wird, das ist mein Blut, das vergossen wird
zur Vergebung der Sünden." Er befiehlt: "Nehmet hin", und damit gibt er zu verstehen, daß es
(er) uns gehört. Er gebietet: "Esset", und damit zeigt er, daß es (er) mit uns zu einer
Substanz wird. Er predigt von seinem Leibe, daß er für uns gegeben, und von seinem Blute, daß es
für uns vergossen ist — damit lehrt er, daß beides nicht sowohl sein, als vielmehr unser eigen
ist; denn beides hat er ja nicht zu seinem eigenen Vorteil, sondern zu unserem Heil angenommen und
darangesetzt. Man muß nun aber mit Fleiß darauf achten, daß die Wirkung dieses Sakraments
vornehmlich, ja schier ganz auf den Worten beruht. "Der für euch gegeben wird ... das für euch
vergossen wird." Denn sonst, nämlich wenn Leib und Blut des Herrn nicht einmal zu unserer
Erlösung und zu unserem Heil dahingegeben worden wären, würde es uns nicht viel nützen, daß sie
jetzt ausgeteilt werden. Sie werden uns also unter Brot und Wein vergegenwärtigt, damit wir lernen,
daß sie uns nicht bloß zugehören, sondern uns auch zur Speise für das geistliche Leben bestimmt
sind. Das ist es, worauf wir oben aufmerksam gemacht haben: von den leiblichen Dingen, die uns im
Sakrament vorgelegt werden, werden wir gewissermaßen vermöge eines Entsprechungsverhältnisses
(analogia) zu den geistlichen hinüber-geführt. Wenn uns also das Brot als Merkzeichen des Leibes
Christi gereicht wird so müssen wir dabei sofort das Gleichnis ins Herz fassen: wie solch Brot das
Leben unseres Leibes nährt, erhält und bewahrt, so ist der Leib Christi die einige Speise, um
unsere Seele zu nähren und lebendig zu machen. Sehen wir, wie der Wein als Merkzeichen des Blutes
Christi vor uns hingestellt wird, so sollen wir bedenken, welcherlei Nutzen der Wein unserem Leibe
bringt, um dann zu erwägen, daß uns der gleiche Nutzen geistlich durch Christi Blut zukommt; diese
Wirkung besteht aber eben darin, daß wir dadurch genährt, erquickt, gestärkt und froh gemacht
werden. Wenn wir nämlich genugsam überdenken, was uns die Hingabe dieses heiligen Leibes und das
Vergießen dieses Blutes eingetragen hat, so werden wir deutlich wahrnehmen, daß nach jenem
Entsprechungsverhältnis diese Eigenschaften des Brotes und des Weines in ihrer Wirkung an uns aufs
beste zu Christi Leib und Blut passen, wenn sie uns zuteil gegeben werden.
IV,17,4 Die wichtigste Aufgabe dieses Sakraments ist also nicht, uns Christi
Leib schlechtweg und ohne tiefere Erwägung darzureichen, sondern sie besteht vielmehr darin, uns
jene Verheißung, in der er bezeugt, daß sein Fleisch in Wahrheit eine Speise, sein Blut in
Wahrheit ein Trank ist (Joh. 6,55), wodurch wir zum ewigen Leben gespeist werden, jene Verheißung,
in der er erklärt, daß er "das Brot des Lebens" ist (Joh. 6,48), und daß, wer von diesem Brot
isset, nicht sterben wird in Ewigkeit (Joh. 6,51) — ich sage: uns jene Verheißung zu versiegeln
und zu bekräftigen und uns, damit dies geschehe, zu Christi Kreuz zu führen, wo sie in Wahrheit
eingelöst und in vollem Maße in Erfüllung gegangen ist. Denn nur als der Gekreuzigte kann
Christus rechtmäßig und heilbringend unsere Speise sein, indem wir die Wirkkraft seines Todes mit
lebendigem Empfinden erfassen. Denn wenn er sich "das Brot des Lebens" nannte (Joh. 6,48), so
entnahm er diese Selbstbezeichnung nicht dem Sakrament, wie es manche verkehrt auslegen. Nein, er
hat sich so genannt, weil er uns als das Brot des Lebens vom Vater gegeben war und auch als solches
sich erwiesen hat, indem er unserer menschlichen Sterblichkeit teilhaftig wurde und uns dadurch zu
Mitgenossen seiner göttlichen Unsterblichkeit machte, indem er sich selbst zum Opfer darbrachte und
dadurch unsere Verdammnis auf sich nahm, um uns mit seinem Segen zu durchdringen, indem er mit
seinem Tod den Tod verschlang und zunichte machte, und indem er in seiner Auferstehung dies unser
vergängliches Fleisch, das er angezogen hatte, zu Herrlichkeit und unvergänglichem Wesen erweckte.
IV,17,5 Nun muß dies aber auch noch alles uns angepaßt werden und dadurch
zu uns dringen; das geschieht einerseits durch das Evangelium, anderseits aber noch deutlicher durch
das heilige Abendmahl, in dem er sich selbst mit allen seinen Gütern darbietet und wir ihn im
Glauben empfangen. Das Sakrament hat also nicht die Wirkung, daß Christus mit ihm erst anfinge, das
Brot des Lebens zu sein; nein, es ruft es uns ins Gedächtnis, daß er zum Brot des Lebens geworden
ist, das uns fort und fort Speise geben soll, es gewährt uns ein Kosten und Schmecken dieses
Brotes, und indem es das tut, bewirkt es, daß wir die Kraft jenes Brotes erfahren. Denn es gibt uns
die Verheißung, daß alles, was Christus getan oder gelitten hat, dazu geschehen ist, uns lebendig
zu machen. Und weiter sagt es uns zu, daß diese Lebendigmachung, vermöge deren wir ohne Ende in
solchem Leben ernährt, erhalten und bewahrt werden sollen, ewig ist. Denn wie Christus nicht das
Brot des Lebens für uns gewesen wäre, wenn er nicht für uns geboren und gestorben und wenn er
nicht für uns auferstanden wäre, so wäre er es anderseits jetzt durchaus nicht, wenn nicht die
Wirkkraft und Frucht seiner Geburt, seines Todes und seiner Auferstehung eine ewige und unsterbliche
Sachewäre. Das alles hat Christus treffend zum Ausdruck gebracht, indem er spricht: "Das Brot,
das ich geben werde, ist mein Fleisch, welches ich geben werde für das Leben der Welt" (Joh.
6,51). Mit diesen Worten hat er zweifellos zu verstehen gegeben, daß sein Leib uns deshalb zum
Brote für das geistliche Leben der Seele würde, weil er zu unserem Heil in den Tod gegeben werden
sollte, und uns zum Essen dargereicht würde, wenn er uns seiner im Glauben teilhaftig machte. Er
hat also einmal seinen Leib gegeben, daß er zum Brote würde, und zwar, als er ihn zur Erlösung
der Welt an das Kreuz dahingab, und er gibt ihn (andererseits auch) Tag für Tag, indem er uns ihn,
so wie er gekreuzigt worden ist, im Worte des Evangeliums darbietet, daß wir seiner teilhaftig
werden, er gibt ihn, wo er solch Darbieten in dem heiligen Geheimnis (Sakrament) des Abendmahls
versiegelt, und er gibt ihn, indem er das, was er äußerlich im Zeichen veranschaulicht, im Inneren
zur Erfüllung bringt. Wir müssen uns nun hier vor zwei Fehlern hüten: einerseits dürfen wir
nicht allzuviel Gewicht darauf legen, die Zeichen in ihrem Wert zu verkleinern, und dadurch den
Eindruck erwecken, als wollten wir sie von den in ihnen veranschaulichten Geheimnissen losreißen,
an die sie doch gewissermaßen angefügt sind; und andererseits dürfen wir nicht maßlos darauf
bedacht sein, sie zu erheben, und uns dadurch den Anschein geben, als verdunkelten wir unterdessen
auch einigermaßen die Geheimnisse selbst. Es ist keiner, er sei denn voll und ganz ohne Religion,
der nicht zugäbe, daß Christus das Brot des Lebens ist, mit dem die Gläubigen zur ewigen
Seligkeit gespeist werden. Dagegen besteht nicht bei allen die gleiche Einmütigkeit darüber, in
welcher Weise man seiner teilhaftig wird. Es gibt nämlich einige, die mit einem Wort erklären,
Christi Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken, das sei nichts anderes, als an Christus selbst zu
glauben. Mir kommt es aber so vor, als hätte Christus in jener herrlichen Predigt, in der er uns
das Essen seines Fleisches anbefiehlt, etwas Kräftigeres und Erhabeneres lehren wollen, nämlich
eben dies, daß wir durch wahres Teilhaben an ihm lebendig gemacht werden; und das hat er auch durch
die Worte "Essen" und "Trinken" zu erkennen gegeben, und zwar dazu, daß niemand auf den
Gedanken käme, wir erlangten das Leben, das wir von ihm empfangen, durch einfache Erkenntnis. Denn
wie nicht das Anschauen, sondern das Essen des Brotes dem Leibe Nahrung gewährt, so muß die Seele
in Wahrheit und durch und durch Christi teilhaftig werden, um mit seiner Kraft zu geistlichem Leben
gestärkt zu werden. Unterdessen aber geben wir zu, daß dies Essen kein anderes ist als das des
Glaubens, wie sich denn auch kein anderes erdenken läßt. Jedoch besteht zwischen meinen Worten und
denjenigen der obengenannten Leute der Unterschied, daß für sie "Essen" einfach "Glauben"
bedeutet, während ich demgegenüber behaupte: Christi Fleisch "essen" wir im Glauben, weil er
im Glauben der unsere wird, und dies Essen ist eine Frucht und Wirkung des Glaubens. Oder, wenn man
es deutlicher haben will: nach ihrer Meinung ist das Essen der Glaube, nach meiner Ansicht dagegen
ergibt es sich aus dem Glauben. Das ist den Worten nach zwar ein geringer Unterschied, in der Sache
aber kein unerheblicher. Denn der Apostel lehrt freilich, "Christus wohne durch den Glauben in
unserem Herzen" (Eph. 3,17); aber das wird trotzdem niemand so auslegen, als ob solch Wohnen
Christi in uns (einfach) der Glaube sei, sondern es besteht allgemeine Übereinstimmung in der
Ansicht, daß hier eine herrliche Auswirkung des Glaubens aufgezeigt wird,weil ja die Gläubigen
durch den Glauben die Gabe erlangen, daß sie nun Christus als den haben, der in ihnen bleibt. In
diesem Sinne hat der Herr, als er sich das Brot des Lebens nannte (Joh. 6,48), nicht nur die Lehre
geben wollen, daß das Heil für uns auf dem Glauben an seinen Tod und seine Auferstehung beruht,
nein, er wollte auch lehren, wie es durch das wahre Teilhaben an ihm dazu kommt, daß sein Leben in
uns übergeht und unser eigen wird, so wie das Brot, wenn es zur Nahrung genommen wird, dem Körper
Kraft zukommen läßt.
IV,17,6 Die Vertreter der obigen Anschauung rufen nun Augustin als
Gewährsmann an. Aber wenn er schreibt, wir äßen, indem wir glaubten (Predigten zum
Johannesevangelium 26,1), so tut er das in keinem anderen Sinne, als um zu zeigen, daß solch Essen
Sache des Glaubens und nicht des Mundes ist. Das bestreite ich auch meinerseits nicht; aber ich
setze doch zugleich hinzu: wir erfassen Christus im Glauben nicht als einen, der uns von ferne
erscheint, sondern als den, der sich mit uns eint, damit er unser Haupt sei und wir seine Glieder.
Trotzdem ist es nicht so, daß ich jene Redeweise einfach mißbilligte; ich leugne nur, daß sie
eine vollständige Auslegung darstellt, wenn man damit bestimmen will, was es heißt, Christi
Fleisch zu essen. Übrigens sehe ich, daß Augustin diese Redeweise häufiger gebraucht hat. So zum
Beispiel, wenn er im dritten Buche seines Werkes "Von der christlichen Unterweisung" sagt: "Wenn
es heißt: ‘Werdet ihr nicht essen das Fleisch des Menschensohnes ...’ (Joh. 6,53), so ist das
ein Bild, in dem wir die Weisung empfangen, am Leiden des Herrn teilzuhaben und lieblich und
nutzbringend im Gedächtnis zu behalten, daß sein Fleisch für uns gekreuzigt und verwundet ist"
(Von der christlichen Unterweisung III,16,24). Ebenso geschieht es, wenn er erklärt, die
dreitausend Menschen, die durch die Predigt des Petrus bekehrt worden sind (Apg. 2,41), hätten das
Blut Christi, das sie in ihrem Wüten vergossen hätten, im Glauben getrunken (Predigten zum
Johannesevangelium 31,9; 40,2). Dagegen preist er an sehr vielen anderen Stellen in herrlicher Weise
die Wohltat des Glaubens, daß durch ihn unsere Seelen in der Gemeinschaft mit dem Fleische Christi
nicht weniger erquickt werden als unsere Leiber mit dem Brot, das sie essen. Und das ist das
nämliche, was Chrysostomus an einer Stelle schreibt: Christus mache uns nicht nur im Glauben,
sondern mit der Tat zu seinem Leibe (Predigt 60). Das versteht er nicht so, als ob man solches Gut
anders als aus dem Glauben erlangen könnte; nein, er will nur die Möglichkeit ausschließen, daß
jemand, wenn er den Glauben nennen hört, darunter eine nackte Einbildung begreift. Die Leute aber,
die der Meinung sind, das Abendmahl sei bloß ein Merkzeichen für das äußere Bekenntnis,
übergehe ich jetzt; ihren Irrtum glaube ich nämlich zureichend widerlegt zu haben, als ich von den
Sakramenten im allgemeinen sprach. Der Leser wolle nur dies beachten: wenn der Kelch als "Bund"
("Neues Testament") in Christi "Blut" bezeichnet wird, so kommt darin eine Verheißung zum
Ausdruck, die stark genug ist, um den Glauben zu bekräftigen. Daraus ergibt sich, daß wir das
Heilige Abendmahl nicht recht gebrauchen, wenn wir nicht auf Gott schauen und annehmen, was er uns
darreicht.
IV,17,7 Weiter befriedigen mich auch die nicht, die zwar anerkennen, daß wir
mit Christus einige Gemeinschaft haben, uns aber dann, wenn sie diese Gemeinschaft aufweisen wollen,
nur seines Geistes teilhaftig sein lassen und dabei des Fleisches und Blutes keinerlei Erwähnung
tun. Als ob es alles umsonst gesagt wäre, wenn es heißt, sein Fleisch sei in Wahrheit eine Speise,
sein Blut in Wahrheit ein Trank (Joh. 6,55), und nur der habe das Leben, der dieses Fleisch äße
und dieses Blut trinke (Joh. 6,53)! Daneben stehen auch noch andere Aussagen dieser Art.Wenn es
daher feststeht, daß die vollgültige Gemeinschaft mit Christus über die Beschreibung dieser
Leute, die eben viel zu eng gefaßt ist, hinausgeht, so will ich mich daranmachen, mit wenigen
Worten anzudeuten, wie weit sie geht und sich ausdehnt, und dann erst will ich auf den
entgegengesetzten Fehler eingehen, der darin besteht, daß man jene Beschreibung zu weit spannt.
Denn ich werde eine längere Auseinandersetzung mit solchen Lehrern haben müssen, die die Dinge zu
weit treiben: sie erdenken sich in ihrer Unkundigkeit eine widersinnige Art und Weise solchen Essens
und Trinkens, und dadurch kommt es dann auch dazu, daß sie Christus seines Fleisches berauben und
ihn in ein Gespenst verwandeln. Das alles aber geht (eigentlich) nur, wenn es möglich ist, dies
große Geheimnis mit irgendwelchen Worten zu erfassen — ich sehe aber, daß ich es nicht einmal
mit dem Herzen genugsam begreife, und ich gebe das auch gern zu, damit nicht jemand seine
Erhabenheit nach dem geringen Maß meines kindlichen Stammelns bemißt. Ja, ich fordere die Leser
vielmehr auf, das Empfinden ihres Verstandes nicht in dieser gar zu engen Grenze zu halten, sondern
danach zu streben, daß sie höher emporsteigen, als sie es unter meiner Anleitung vermögen. Denn
es geht mir selbst so: allemal, wenn von dieser Sache die Rede ist, dann meine ich, nachdem ich
alles zu sagen versucht habe, ich hätte im Vergleich zur Würde der Sache noch gar wenig gesagt.
Und obgleich der Geist mit seinem Nachdenken mehr erreicht als die Zunge mit ihrem Ausdruck, so wird
doch auch er von der Größe der Sache überwunden und überrannt. Daher bleibt endlich nichts
anderes übrig, als daß ich in die Bewunderung dieses Geheimnisses ausbreche, das weder mein
Verstand völlig zu bedenken noch meine Zunge darzulegen imstande sein kann. Dennoch will ich den
Hauptinhalt meiner Meinung, so gut es immer gehen mag, auseinandersetzen; denn ich zweifle nicht
daran, daß sie wahr ist, und bin deshalb auch der Zuversicht, daß sie von frommen Herzen nicht
verworfen werden wird.
IV,17,8 Vor allem anderen werden wir aus der Schrift gelehrt, daß Christus
seit Anbeginn das lebendigmachende Wort des Vaters (Joh. 1,1), der Brunnen und Ursprung des Lebens
gewesen ist, von dem alles je und je das Leben empfangen hat. Daher kommt es, daß Johannes ihn bald
"das Wort des Lebens" nennt (1. Joh. 1,1f.), bald auch schreibt, daß "in ihm das Leben"
gewesen sei (Joh. 1,4): damit gibt er zu verstehen, daß Christus auch dazumal alle Kreaturen
durchdrungen und ihnen die Kraft zum Atmen und Leben eingegeben hat. Der nämliche Johannes setzt
aber dann hernach hinzu, daß uns das Leben erst da offenbart worden ist, als der Sohn Gottes unser
Fleisch annahm und sich von unseren Augen sehen und von unseren Händen betasten ließ (1. Joh. 1,2;
Joh. 1,14). Denn er ließ freilich auch zuvor seine Kraft auf die Kreaturen überströmen; aber der
Mensch war ja durch die Sünde von Gott entfremdet, er war des Anteilhabens am Leben verlustig
gegangen und sah nun, wie ihm von allen Seiten der Tod drohte; damit er also die Hoffnung auf die
Unsterblichkeit wiedererlangte, mußte er in die Gemeinschaft mit diesem Wort aufgenommen werden.
Denn was für Zuversicht würdest du wohl daraus schöpfen, wenn du zwar vernähmest, daß Gottes
Wort, von dem du aber so weit entfernt wärest wie nur möglich, die Fülle des Lebens in sich
beschließt — in dir selber aber und rings um dich herum dir nichts begegnete und nichts vor die
Augen träte als der Tod? Aber seitdem dieser Brunnen des Lebens in unserem Fleisch zu wohnen
angefangen hat, liegt er nun nicht mehr fern für uns verborgen, sondern ist uns nahe und bietet
sich uns dar, daß wir an ihm teilhaben können! Ja, er läßt auch das Fleisch, in dem er wohnt,
für uns lebendigmachend sein, daß wir durch das Teilhaben an ihm zur Unsterblichkeit gespeist
werden. "Ich bin", sagt er, "das Brot des Lebens, vom Himmel gekommen ... Und das Brot, das
ich geben werde, ist mein Fleisch, welches ich geben werde für das Leben der Welt" (Joh. 6,51;
vgl. Joh. 6,48). Mit diesen Worten lehrt er, daß er nicht nur insoferndas Leben ist, als er Gottes
ewiges Wort ist, das vom Himmel zu uns herniederstieg, sondern daß er durch sein Herniederkommen
jene Kraft in das Fleisch ergossen hat, das er annahm, damit uns aus ihm das Teilhaben am Leben
zufließe. Daraus ergibt sich dann auch dies, daß sein Fleisch in Wahrheit eine Speise, sein Blut
in Wahrheit ein Trank ist (Joh. 6,55) und die Gläubigen durch solche Nahrung zum ewigen Leben
genährt werden. Ein herrlicher Trost liegt für die Frommen also darin, daß sie nun in ihrem
eigenen Fleische das Leben finden. Denn damit dringen sie nicht nur in leichtem Zugang zu ihm hin,
sondern es liegt frei vor ihnen und kommt ihnen entgegen. Sie brauchen nur den Busen ihres Herzens
zu öffnen, um es als gegenwärtig zu empfangen, dann werden sie es erhalten!
IV,17,9 Allerdings hat Christi Fleisch nicht aus sich selbst heraus soviel
Kraft, um uns lebendig zu machen; denn es war in seinem früheren Zustande der Sterblichkeit
unterworfen, und jetzt, wo es mit Unsterblichkeit begabt ist, lebt es nicht aus sich selbst. Aber es
wird trotzdem mit Recht als "lebendigmachend" bezeichnet, weil es mit der Fülle des Lebens
durchdrungen ist, um sie auf uns übergehen zu lassen. In diesem Sinne lege ich mit Cyrill das Wort
Christi aus: "Wie der Vater das Leben hat in ihm selber, also hat er dem Sohn gegeben, das Leben
zu haben in ihm selber" (Joh. 5,26). Denn an dieser Stelle geht Christus im eigentlichen Sinne auf
seine Gaben ein, und zwar nicht auf die, welche er seit Anbeginn bei dem Vater besaß, sondern auf
jene, mit denen er eben in dem Fleische geziert wurde, in dem er erschienen ist. Er zeigt also, daß
auch in seiner menschlichen Natur die Fülle des Lebens wohnt: es soll eben jeder, der an seinem
Fleisch und Blut teilhat, zugleich des Lebens teilhaftig sein. In welcher Weise das geschieht,
möchte ich mit einem bekannten Beispiel darlegen. Aus einem Brunnen wird das Wasser bald getrunken,
bald geschöpft, bald durch Kanäle zur Bewässerung von Ackerland abgeleitet; trotzdem liegt es
nicht an dem Brunnen selbst, daß er zu so vielerlei Nutzbrauch sein Wasser überströmen läßt,
sondern an der Quelle, die ihm in fortwährendem Fließen immer wieder neue Ströme darreicht und
zukommen läßt. Genau ebenso ist Christi Fleisch wie ein reicher, unerschöpflicher Brunnen, der
das Leben, das aus der Gottheit (der "göttlichen Natur") zu ihm hinüberquillt, zu uns
überströmen läßt. Wer merkt nun noch nicht, daß die Gemeinschaft an Christi Fleisch und Blut
für alle, die nach dem himmlischen Leben streben, unerläßlich ist? Hierauf beziehen sich auch
zahlreiche Aussagen des Apostels. So das Wort, daß die Kirche der "Leib" Christi und seine "Fülle"
ist, er selber aber "das Haupt" (Eph. 1,22f.), "von welchem aus der ganze Leib zusammengefügt
ist und ein Glied am anderen hanget durch alle Gelenke ..., daß der Leib wächst" (Eph. 4,16).
Oder auch das andere, daß unsere "Leiber Christi Glieder sind" (1. Kor. 6,15). Wir verstehen,
daß dies nicht anders geschehen kann als dadurch, daß er ganz, mit Geist und Leib, mit uns
verbunden ist. Aber diese unlösbar enge Gemeinschaft, in der wir mit Christi Fleisch verbunden
werden, hat der Apostel noch mit einem köstlicheren Lobpreis verherrlicht, indem er sagte: "Wir
sind Glieder seines Leibes, von seinem Fleisch und von seinem Gebein" (Eph. 5,30). Und um
schließlich zu bezeugen, daß diese Sache größer ist als alle erdenklichen Worte, beschließt er
seine Rede mit dem Ausruf: "Das Geheimnis ist groß" (Eph. 5,32). Es würde also von äußerstem
Aberwitz zeugen, wenn man keine Gemeinschaft der Gläubigen mit Fleisch und Blut des Herrn
anerkennen wollte, wo doch der Apostel erklärt, daß sie so groß ist, daß er sie lieber bewundern
als darlegen will.
IV,17,10 Zusammenfassend sei gesagt: unsere Seelen werden mit dem Fleisch
und Blut Christi nicht anders genährt, als wie Brot und Wein das leibliche Leben erhalten und
fördern. Denn das Entsprechungsverhältnis, das bei dem Zeichen (in seiner Beziehung zur Sache)
besteht, würde nicht passen, wenn die Seelen nicht ihre Speise in Christus fänden. Und das kann
nicht geschehen, wenn Christus nicht in Wahrheit mit uns in eins zusammenwächst und uns durch das
Essen seines Fleisches und das Trinken seines Blutes erquickt. Es mag allerdings wohl unglaublich
erscheinen, daß Christi Fleisch bei so großer räumlicher Entfernung zu uns dringen kann, um uns
zur Speise zu werden; aber wir wollen bedenken, wie weit die verborgene Kraft des Heiligen Geistes
über alle unsere Sinne hinausragt, und wie töricht es wäre, ihre Unermeßlichkeit nach unserem
Maß messen zu wollen. Was also unser Verstand nicht begreift, das soll der Glaube erfassen: was
räumlich getrennt ist, das wird vom Heiligen Geist in Wahrheit geeint. Jenes heilige Teilhaben an
seinem Fleisch und Blut nun, in dem Christus sein Leben auf uns überströmen läßt, wie wenn es
uns in Mark und Bein dränge, — das bezeugt und versiegelt er auch im Abendmahl, und zwar nicht
durch vorhalten eines eitlen und leeren Zeichens, sondern indem er die Wirkkraft seines Geistes
dabei ans Licht bringt, um mit ihr das, was er verheißt, in Erfüllung gehen zu lassen. Und es ist
zweifellos so, daß er die Sache, die darin als in einem Zeichen veranschaulicht wird, allen
darbietet und vor Augen stellt, die sich zu jenem geistlichen Mahl niederlassen, obgleich sie allein
von den Gläubigen mit Frucht empfangen wird, die solche große Freundlichkeit in wahrem Glauben und
mit herzlicher Dankbarkeit annehmen. In diesem Sinne hat der Apostel gesagt, "das Brot, das wir
brechen", sei "die Gemeinschaft des Leibes Christi", und "der Kelch, welchen wir" mit Wort
und Gebet dazu "segnen", sei "die Gemeinschaft des Blutes Christi" (1. Kor. 10,16). Es
besteht auch kein Anlaß dazu, daß irgendwer den Einwand macht, das sei hier eine bildliche
Redeweise, in welcher der Name der im Zeichen veranschaulichten Sache auf das Zeichen selbst
übertragen würde. Ich gebe allerdings zu, daß das Brechen des Brotes ein Merkzeichen ist und
nicht die Sache selbst. Aber wenn wir das feststellen, so können wir doch daraus, daß uns das
Zeichen dargegeben wird, mit Recht den Schluß ziehen, daß uns auch die Sache gewährt wird. Denn
wenn einer Gott nicht lügenhaft nennen will, so wird er sich nie und nimmer erdreisten, die
Behauptung aufzustellen, es würde uns von ihm ein eitles Merkzeichen vorgehalten. Wenn also der
Herr durch das Brechen des Brotes in Wahrheit das Teilhaben an seinem Leibe veranschaulicht, so darf
es durchaus nicht in Zweifel gezogen werden, daß er uns dies auch in Wahrheit gewährt und dargibt.
Und es müssen überhaupt alle Gläubigen die Regel festhalten, daß sie allemal, wenn sie die
Merkzeichen sehen, die der Herr eingesetzt hat, auch gewißlich dafürhalten und überzeugt sein
sollen, daß darin auch die Wahrheit der im Zeichen dargestellten Sache gegenwärtig sei. Weshalb
gibt dir denn der Herr anders das Merkzeichen seines Leibes in die Hand, als um dich des wahren
Teilhabens an ihm zu vergewissern? Wenn es nun wahr ist, daß uns das sichtbare Zeichen dargeboten
wird, um die Schenkung der unsichtbaren Sache zu versiegeln, so sollen wir, wenn wir das Merkzeichen
des Leibes Christi empfangen haben, die feste Zuversicht in uns tragen, daß uns nicht weniger auch
der Leib selbst gegeben wird.
IV,17,11 Ich behaupte also — und so hat man es in der Kirche allezeit
angenommen, ebenso lehren es auch heute alle, die der rechten Meinung sind —, daß das heilige
Geheimnis (Sakrament) des Abendmahls aus zwei Dingen besteht: aus leiblichen Zeichen, die uns vor
Augen gestellt werden und uns unsichtbare Dinge nach demAuffassungsvermögen unserer Schwachheit
veranschaulichen, und der geistlichen Wahrheit, die durch die Merkzeichen selbst zugleich abgebildet
und dargeboten wird. Wenn ich nun auf leichtfaßliche Weise zeigen will, von welcher Art diese
Wahrheit ist, so pflege ich dreierlei aufzustellen: die Bedeutung (significatio), die zugrunde
liegende Ursache (materia), die davon abhängt, und die Kraft oder Wirkung, die sich aus beiden
ergibt. Die "Bedeutung" liegt in den Verheißungen, die gewissermaßen in das Zeichen
eingehüllt sind. Als zugrundeliegende Ursache oder "Substanz" bezeichne ich Christus mit seinem
Tod und seiner Auferstehung. Unter der Wirkung aber verstehe ich die Erlösung, die Gerechtigkeit,
die Heiligung, das ewige Leben und all die anderen Wohltaten, die uns Christus schafft. Und weiter:
all dies bezieht sich allerdings auf den Glauben; aber trotzdem gebe ich der Lästerung keinen Raum,
als ob ich mit dem Satz, daß Christus im Glauben ergriffen wird, etwa meinte, er würde bloß mit
dem Verstand oder der Einbildung erfaßt. Wenn ihn nämlich die Verheißungen anbieten, so geschieht
das nicht, damit wir beim Anschauen oder bei einer bloßen Erkenntnis hängenbleiben, sondern damit
wir des wahren Anteilhabens an ihm genießen. Und ich sehe wirklich nicht, wieso jemand die
Zuversicht haben will, in Christi Kreuz die Erlösung und Gerechtigkeit und in seinem Tode das Leben
zu haben, ohne vor allem auf die wahre Gemeinschaft mit Christus selbst sein Vertrauen zu setzen.
Denn alle diese Güter kämen nicht zu uns hin, wenn sich uns Christus nicht zuvor zu eigen gäbe.
Ich behaupte also, daß uns im Geheimnis (Sakrament) des Abendmahls durch die Merkzeichen Brot und
Wein Christus in Wahrheit dargeboten wird und damit auch sein Leib und Blut, in welchen er allen
Gehorsam erfüllt hat, um uns die Gerechtigkeit zu erwerben. Und das geschieht, damit wir erstens
mit ihm zu einem Leibe zusammenwachsen und zweitens, seiner Substanz teilhaftig geworden, auch seine
Kraft erfahren, indem wir an allen seinen Gütern teilhaben.
IV,17,12 Jetzt gehe ich zu den übertriebenen Vermengungen über, die der
Aberglaube aufgebracht hat. Denn hier hat der Satan in erstaunlicher Arglist sein Spiel getrieben,
um den Geist der Menschen vom Himmel wegzuziehen und sie mit dem verdrehten Irrtum zu erfüllen, als
ob Christus an das Element des Brotes gebunden sei. Zunächst dürfen wir uns nun die Gegenwart
Christi im Sakrament in keiner Weise so zusammenträumen, wie sie sich die Kunstmeister des
römischen Hofes erdacht haben, als ob Christi Leib in räumlicher Gegenwärtigkeit hingestellt
würde, damit wir ihn mit unseren Händen betasteten, mit unseren Zähnen zerdrückten und mit
unserem Munde verschluckten. Denn das ist der Inhalt der Widerrufsformel, die der Papst Nikolaus
(II.) dem Berengar (von Tours) diktierte, damit sie als Zeuge seiner Bußfertigkeit diente; und das
geschah mit derart ungeheuerlichen Worten, daß der Verfasser der Randbemerkungen (zum Decretum
Gratiani) ausruft, es bestehe die Gefahr, daß die Leser, wenn sie nicht vorsichtig auf ihrer Hut
seien, daraus eine schlimmere Ketzerei entnähmen, als es die des Berengar gewesen sei (Decretum
Gratiani III,2,42; Glosse zum Decretum Gratiani zur nämlichen Stelle). Und Petrus Lombardus gibt
sich zwar große Mühe, diesen Widersinn zu beschönigen, neigt aber trotzdem mehr zu einer
abweichenden Ansicht. Denn wir sind nun einerseits fest überzeugt, daß der Leib Christi nach der
ständigen Art des menschlichen Leibes begrenzt ist und vom Himmel umschlossen wird (vgl. Apg.
3,21), in den er einmal aufgenommen ist, bis er wiederkommt, um Gericht zu halten; und deshalb
halten wir es andererseits für völlig unstatthaft, ihn wieder unter diese vergänglichen Elemente
herabzuziehen oder sich einzubilden, er sei allenthalben gegenwärtig. Das ist aber auch in der Tat
nicht notwendig, damit wir des Anteilhabens an ihm genießen können: denn der Herr gewährt uns
durch seinen Geist die Wohltat, daß wir nach Leib, Geist und Seele mit ihm eins werden. Das Band
dieser Verbindung ist also der Geist Christi: er ist die Verknüpfung, durch die wir mit ihm
verbunden werden, und er ist gleichsam ein Kanal, durch den alles, was Christus selber ist und hat,
zu uns geleitet wird (Chrysostomus in einer Predigt über den Heiligen Geist). Wenn wir nämlich
sehen, wie die Sonne mit ihren Strahlen auf die Erde scheint und gewissermaßen, um ihre
Sprößlinge zu zeugen, zu nähren und zu beleben, ihre Substanz auf sie übergehen läßt —
weshalb sollten dann die Strahlen des Geistes Christi von geringerem Vermögen sein, um uns die
Gemeinschaft mit seinem Fleisch und Blut zuzutragen? Daher kommt es, daß die Schrift, wo sie von
unserem Teilhaben an Christus redet, dessen gesamte Kraft auf den Heiligen Geist zurückführt.
Statt vieler Stellen mag es genügen, eine einzige zu nennen. Paulus spricht nämlich im achten
Kapitel seines Briefes an die Römer davon, daß Christus nicht anders als durch seinen Geist in uns
wohnt (Röm. 8,9); aber damit hebt er doch jene Gemeinschaft mit Fleisch und Blut Christi, von der
hier die Rede ist, nicht etwa auf, sondern er lehrt, daß es durch den Geist allein dazu kommt, daß
wir den ganzen Christus besitzen und als den haben, der in uns bleibt.
IV,17,13 Bescheidener äußern sich solche Schultheologen, die in der
Abscheu gegen solch barbarische Gottlosigkeit befangen sind. Aber auch sie tun trotzdem nichts
anderes, als daß sie mit feineren Gaukeleien ihr Spiel treiben. Sie geben zu, daß Christus nicht
im räumlichen Sinne oder auf leibliche Weise im Sakrament enthalten sei; aber dann erdenken sie
sich einen Gedankengang, den sie weder selbst begreifen noch anderen begreiflich machen können, und
der geht dann doch darauf hinaus, daß man Christus in der Gestalt (species) des Brotes sucht, wie
sie es nennen. Wieso nun? Sie behaupten, die Substanz des Brotes werde in Christus verwandelt —
binden sie ihn damit nicht an die weiße Farbe, die nun nach ihrer Meinung allein (von dem Brote)
übrigbleibt? Aber, so sagen sie, er ist in der Weise im Sakrament enthalten, daß er doch zugleich
im Himmel verbleibt, und wir behaupten keine andere Gegenwärtigkeit als die der sinnlichen
Beschaffenheit. Aber was für Wörter sie nun auch zum Vorwand nehmen mögen, um ihrer Sache einen
schönen Schein zu geben, so ist doch das Ziel bei allen dies, daß etwas, was zuvor Brot war, durch
die Weihe (consecratio) nun Christus wird, so daß sich Christus nun weiter unter dieser Farbe des
Brotes verbirgt. Sie schämen sich auch nicht, diese Meinung ausdrücklich auszusprechen. Denn der
Lombarde erklärt wörtlich, der Leib Christi, der an und für sich sichtbar sei, liege nach Vollzug
der Weihe unter der Gestalt des Brotes verborgen und werde von ihr überdeckt (Sentenzen IV,10,2).
So ist also das Abbild jenes Brotes nichts anderes als eine Larve, die unseren Augen den Anblick des
Fleisches entziehen soll. Es sind aber auch nicht viele Vermutungen vonnöten, damit wir
herausbekommen, was für trügerische Anschläge sie mit diesen Worten haben bereiten wollen; denn
die Tatsachen selber reden klar und deutlich. Denn es liegt vor Augen, in was für einem großen
Aberglauben schon manche Jahrhunderte lang nicht nur die große Menge der Menschen, sondern auch die
führenden Männer gesteckt haben, ja, auch heute noch unter den papistischen Kirchen stecken. Denn
um den wahren Glauben, durch den allein wir zu der Gemeinschaft mit Christus kommen und mit Christus
verbundensind, haben sie sich wenig Sorge gemacht, aber unterdessen meinen sie Christus genugsam
gegenwärtig zu haben, wenn sie nur seine fleischliche Gegenwart besitzen, die sie sich außerhalb
des Wortes ausgeklügelt haben. Daher sehen wir wie bei dieser scharfsinnigen Spitzfindigkeit im
wesentlichen soviel herausgekommen ist, daß man das Brot für Gott hält!
IV,17,14 Daraus ist dann jene erdachte "Transsubstantiation"
(Substanzwandlung) entsprungen, für die sie heutzutage heftiger streiten als für alle anderen
Hauptstücke ihres Glaubens. Die ersten Baumeister der räumlichen Gegenwärtigkeit (Christi im
Sakrament) konnten sich eben nicht aus der Frage herauswinden, wieso denn Christi Leib mit der
Substanz des Brotes vermischt sein könnte, ohne daß sofort zahlreiche Widersinnigkeiten
aufträten. Es erwies sich also als notwendig, zu der selbsterdachten Auskunft seine Zuflucht zu
nehmen, es geschähe (bei dem Abendmahl) eine Verwandlung ("Wandlung") des Brotes in den Leib
(Christi) — nicht, daß im eigentlichen Sinn aus dem Brot der Leib würde, sondern dergestalt,
daß Christus die Gestalt des Brotes zunichte machte, um sich unter dem Bild desselben zu verbergen.
Es ist aber doch verwunderlich, daß sie in eine derartige Unwissenheit, ja, Stumpfheit verfallen
sind, daß sie gegen den Widerspruch nicht allein der Schrift, sondern auch der einhelligen
Überzeugung der Alten Kirche diese Ungeheuerlichkeit vorgebracht haben. Ich gebe allerdings zu,
daß einige unter den alten Kirchenlehrern den Ausdruck "Verwandlung" zuweilen angewandt haben,
und zwar nicht, weil sie die Absicht gehabt hätten, bei den äußeren Zeichen die Substanz
abzuschaffen, sondern weil sie lehren wollten, wie das für das Geheimnis (Sakrament) geweihte Brot
bei weitem von dem gewöhnlichen unterschieden sei und bereits etwas anderes darstelle. Alle aber
erklären sie allenthalben klar und deutlich, daß das Heilige Abendmahl aus zwei Stücken besteht,
einem irdischen und einem himmlischen, und unter dem irdischen verstehen sie unstreitig Brot und
Wein. Was die Römischen aber auch schwatzen mögen, so liegt es jedenfalls auf der Hand, daß ihnen
der Beistand der Alten Kirche, den sie oftmals dem klaren Worte Gottes entgegenzustellen sich
erdreisten, bei der Bekräftigung dieser Lehre abgeht. Auch ist diese Lehre ja nicht eben vor sehr
langer Zeit ausgedacht worden; sie ist jedenfalls nicht nur jenen besseren Zeiten unbekannt, in
denen noch eine reinere Lehre der Religion in Kraft stand, sondern auch jenen Zeiten, in denen diese
Reinheit bereits einigermaßen besudelt war. Unter den alten Kirchenlehrern befindet sich keiner,
der nicht mit ausdrücklichen Worten zugäbe, daß die heiligen Merkzeichen des Abendmahls Brot und
Wein sind, obwohl sie sie, wie gesagt, zuweilen mit verschiedenartigen (schmückenden) Beiwörtern
auszeichnen, um die Würde des Sakraments zu preisen. Denn wenn sie sagen, in der Weihe vollzöge
sich eine verborgene Verwandlung, so daß nun etwas anderes da sei als Brot und Wein, so geben sie
damit, wie ich bereits bemerkte, nicht etwa zu verstehen, daß diese Elemente zunichte gemacht
würden, sondern vielmehr dies, daß sie nun anders angesehen werden müßten als gewöhnliche
Nahrungsmittel, die bloß dazu bestimmt sind, den Leib zu speisen, und zwar darum, weil uns in ihnen
ja die geistliche Speise und der geistliche Trank der Seele dargeboten werden. Das bestreiten auch
wir nicht. Wenn nun aber eine Verwandlung eintritt, so sagen sie, so muß eben notwendig eins aus
dem anderen entstehen. Wenn sie darunter verstehen, daß es etwas wird, was es vorher nicht war, so
sage ich Ja. Wollen sie es aber auf ihre Phantasterei beziehen, so sollen sie mir Antwort geben, was
für eine Verwandlung denn nach ihrer Meinung bei der Taufe eintritt. Denn auch dabei stellen die
Kirchenväter eine wundersame Verwandlung fest, indem sie behaupten, aus dem vergäng-lichen Element
werde das geistliche Bad der Seele, wobei jedoch keiner bestreitet, daß das Wasser Wasser bleibt.
Aber, so sagen sie, bei der Taufe finden wir doch nichts von der Art wie das Wort beim Abendmahl:
"Das ist mein Leib." Als ob es sich hier um jene Worte handelte, die einen genügend deutlichen
Sinn haben, und nicht vielmehr um den Ausdruck "Verwandlung", der beim Abendmahl keine größere
Bedeutung haben darf als bei der Taufe. Sie sollen sich also mit solcher Silbenhascherei
davonmachen, mit der sie nichts anderes an den Tag bringen als ihre Unkenntnis! Auch würde die
Bedeutung (des Zeichens) nicht passen, wofern nicht die Wahrheit, die in Brot und Wein
veranschaulicht wird, in dem äußeren Zeichen einen lebendigen Ausdruck fände. Christus hat mit
einem äußeren Merkzeichen bezeugen wollen, daß sein Fleisch eine Speise ist; wenn er uns nun
bloß ein eitles Gespenst von Brot, nicht aber wirkliches Brot vorsetzte — wo bliebe dann jenes
Entsprechungsverhältnis oder jene Ähnlichkeit, die uns von der sichtbaren Sache zur unsichtbaren
führen soll? Damit nämlich alles zusammenpaßte, würde sich unter solchen Umständen die
Bedeutung nicht weiter erstrecken, als daß wir durch die "Gestalt" des Fleisches Christi
gespeist würden! Ebenso steht es bei der Taufe: wenn da bloß ein Bild von Wasser wäre und unsere
Augen täuschte, dann wäre die Taufe für uns kein gewisses Unterpfand unserer Reinwaschung, ja, es
würde uns durch solchen trügerischen Augenschein Anlaß zum Schwanken geben. Das Wesen des
Sakraments wird also zunichte gemacht, wenn nicht das irdische Zeichen in der Art der zeichenhaften
Veranschaulichung der himmlischen Sache entspricht. Und daher geht also die Wahrheit dieses
Geheimnisses verloren, wenn nicht das wahre Brot den wahren Leib Christi vergegenwärtigt. Ich
wiederhole es noch einmal: das Abendmahl ist nichts anderes als die sichtbare Bezeugung der
Verheißung, die sich im sechsten Kapitel des Johannesevangeliums findet, nämlich daß Christus das
Brot des Lebens ist, das vom Himmel herabgekommen ist (Joh. 6,46.51); soll also dieses geistliche
Brot veranschaulicht werden, so muß notwendig sichtbares Brot dazwischentreten, wofern wir nicht
wollen, daß uns alle Frucht verlorengeht, die Gott in diesem Stück zur Unterstützung unserer
Schwachheit gewährt. Paulus sagt, wir alle, die wir miteinander eines Brotes teilhaftig sind, seien
ein Brot und ein Leib (1. Kor. 10,17); in welcher Weise sollte er nun zu diesem Schluß kommen
können, wenn uns bloß ein Gespenst von Brot bliebe und nicht vielmehr die natürliche
Wirklichkeit?
IV,17,15 Sie wären nun aber von den Gaukeleien des Satans nie und nimmer so
jämmerlich angeführt worden, wenn sie nicht schon (zuvor) von jenem Irrtum bezaubert gewesen
wären, der Leib Christi sei in das Brot eingeschlossen und werde dann mit dem leiblichen Munde in
den Leib befördert. Die Ursache für diese grobe Einbildung bestand darin, daß die Weihe
(Konsekration) bei ihnen ebensoviel bedeutete wie eine Zauberbeschwörung. Dabei war ihnen aber der
Grundsatz verborgen, daß das Brot nur für solche Menschen ein Sakrament ist, an die sich das Wort
richtet, wie sich auch das Wasser der Taufe nicht in sich verändert, sondern, sobald sich die
Verheißung mit ihm verbindet, für uns etwas zu sein anfängt, was es zuvor nicht war. Ich will ein
ähnliches Sakrament als Beispiel nehmen; dann wird die Sache deutlicher werden. Das Wasser, das in
der Wüste aus dem Felsen hervorfloß (Ex. 17,6), war für die Väter das Erkennungsmerkmal und
Zeichen für die nämliche Sache, die uns der Wein im Abendmahl veranschaulicht. Denn Paulus lehrt,
sie hätten (mit uns) "einerlei geistlichen Trank getrunken" (1. Kor. 10,4). Dieses Wasser haben
nun aber zusammen mit dem Volke auch seine Lasttiere und sein Vieh genossen. Daraus ergibt sich mit
Leichtigkeit, daß bei den irdischenElementen, wenn sie zu geistlichem Gebrauch angewendet werden,
keine andere Verwandlung stattfindet als mit Bezug auf die Menschen, insofern diese Elemente für
sie ja Siegel der Verheißungen sind. Und zudem: wenn es, wie ich nun zu mehreren Malen einschärfe,
Gottes Absicht ist, uns mit geeigneten Mitteln zu sich emporzuheben, so machen das die Leute, die
uns zwar zu Christus rufen, aber zu dem, der unsichtbar unter dem Brot verborgen liegen soll, mit
ihrer Halsstarrigkeit gottlos zunichte. Es kann doch nicht geschehen (so meinten sie), daß sich der
Geist des Menschen von dem unermeßlichen räumlichen Abstand freimacht und über die Himmel hinaus
bis zu Christus dringt. Und was ihnen die Natur versagte, das haben sie dann mit einer noch
schädlicheren Arznei zu bessern gesucht, damit wir auf Erden bleiben und dabei (doch) nicht die
Nähe des himmlischen Christus entbehren. Man sehe: das ist also die Notwendigkeit, die sie dazu
gezwungen hat, den Leib Christi in seiner Substanz sich verwandeln zu lassen! Zur Zeit des Bernhard
hatte sich zwar schon eine recht harte Redeweise durchgesetzt; aber die Transsubstantiation war noch
nicht anerkannt. Und in allen Jahrhunderten zuvor war das Gleichnis in aller Munde, in diesem
Sakrament sei die geistliche Sache mit Brot und Wein verbunden. Was die Worte (Brot und Wein)
betrifft (die doch gegen solche Verwandlung sprechen), so geben sie zwar nach ihrer Meinung
scharfsinnige Antworten; aber sie bringen dabei nichts vor, was zu der Sache, die hier zur
Verhandlung steht, paßte. So sagen sie: der Stab des Mose, der in eine Schlange verwandelt wurde,
bekommt zwar den Namen "Schlange", aber er behält trotzdem den früheren Namen bei und wird als
"Stab" bezeichnet (Ex. 4,3; 7,10). So ist es nach ihrer Meinung im gleichen Maße anzuerkennen,
wenn das Brot, obwohl es in eine neue Substanz übergeht, doch im uneigentlichen Sinne, aber doch
nicht ohne Sinn als das bezeichnet wird, was es vor Augen und dem Anschein nach ist (nämlich eben
als Brot). Aber was für eine Ähnlichkeit oder Verwandtschaft finden sie zwischen jenem Wunder, das
doch bekannt ist, und ihrer ersonnenen Betrügerei, für die kein einziges Auge auf Erden Zeuge ist?
(Die Sache war vielmehr so:) Die Zauberer trieben mit Gaukeleien ihr Spiel, um den Ägyptern die
Überzeugung beizubringen, sie feien mit göttlicher Kraft ausgerüstet, um über die Ordnung der
Natur hinaus die Kreaturen zu verwandeln. Da trat Mose auf, machte alle ihre Betrügereien zunichte
und zeigte damit, daß die unüberwindliche Kraft Gottes auf seiner Seite stand, weil ja sein Stab
allein alle übrigen verschlang (Ex. 7,12). Aber weil diese Verwandlung mit Augen sichtbar war, so
hat sie, wie gesagt, mit unserer Sache hier nichts zu tun, auch kehrte der Stab kurze Zeit nachher
in sichtbarer Weise wieder zu seiner Gestalt zurück (Ex. 7,15). Dazu kommt, daß man nicht weiß,
ob jene zeitlich vorübergehende Verwandlung auch eine solche der Substanz gewesen ist. Auch muß
man beachten, daß Mose (durch die Beibehaltung des Namens "Stab") auf die Stäbe der Zauberer
anspielt; denn der Prophet wollte diese Stäbe nicht als "Schlangen" bezeichnen, um nicht den
Eindruck zu erwecken, als deutete er eine Verwandlung an, die keine war; denn diese Gaukler hatten
ja nichts anderes getan als die Augen der Zuschauer in Finsternis versetzt. Was besteht nun für
eine Ähnlichkeit zwischen diesem Vorgang und den Worten über das Abendmahl? Ich nenne etwa: "Das
Brot, das wir brechen ..." (1. Kor. 10,16), oder: "Sooft ihr von diesem Brot esset ..." (1.
Kor. 11,26), oder: "Sie hatten Gemeinschaft im Brotbrechen ..." (Apg. 2,42; ungenau) — oder
ähnliche Worte. Es ist doch sicher, daß durch die Beschwörung der Zauberer bloß die Augen
betrogen worden sind. Was Mose betrifft, so ist die Sache nicht so deutlich: es war eben für Gott
genau so leicht, durch seine Hand aus dem Stab eine Schlange und wiederum aus der Schlange einen
Stab zu machen, als den Engeln fleischliche Leiber anzulegen und sie ihnen wieder auszu-ziehen. Wenn
es mit diesem Sakrament gleich oder ähnlich bestellt wäre, so hätte die Lösung dieser Leute
einigen Schein für sich. (Das ist aber nicht der Fall.) Es muß also fest stehenbleiben: im
Abendmahl wird uns nur dann in Wahrheit und sachentsprechend die Verheißung gegeben, daß Christi
Fleisch (uns) wahrhaft zur Speise wird, wenn dieser Verheißung die wirkliche Substanz des äußeren
Merkzeichens entspricht. Aber es entsteht ja immer ein Irrtum aus dem anderen, und so hat man auch
eine Stelle bei Jeremia dermaßen unsinnig verdreht, um die Transsubstantiation zu beweisen, daß es
mich verdrießt, davon zu berichten. Der Prophet klagt, daß man in sein Brot Holz gelegt hat (Jer.
11,19; nach der lateinischen Übersetzung, der Vulgata), und damit deutet er an, daß durch das
Wüten seiner Feinde sein Brot voll Bitternis geworden ist. Das ist so, wie auch David unter
Benutzung des gleichen Bildes klagt, man habe ihm seine Speise mit Galle und sein Getränk mit Essig
verdorben (Ps. 69,22). Unsere Widersacher aber geben der Stelle (bei Jeremia) eine sinnbildliche
Deutung in der Weise, daß hier gesagt wäre, Christi Leib sei an das Holz des Kreuzes geheftet (und
dann nach dieser Stelle in das Brot gelegt) worden. Aber, so entgegnen sie wohl, so haben doch auch
einige von den Alten gedacht! Als ob es nicht besser wäre, ihnen ihre Unwissenheit zugute zu halten
und ihre Schande zuzudecken, als noch eine Unverschämtheit zuzufügen, so daß die Alten nun
gezwungen werden, mit dem ursprünglichen Sinn des Prophetenworts feindselig aneinanderzugeraten.
IV,17,16 Es gibt andere, die sehen, daß man das Entsprechungsverhältnis
von Zeichen und bezeichneter Sache nicht zerstören kann, ohne daß damit die Wahrheit des
Sakraments zusammenbricht, und die deshalb zugeben, daß das Brot im Abendmahl in Wahrheit die
Substanz eines irdischen und vergänglichen Elements ist und keinerlei Verwandlung an sich erfährt,
aber (und das ist der entscheidende Punkt) den Leib Christi "unter" (in) sich eingeschlossen
hat. Es könnte nun sein, daß sie ihre Meinung so auslegten: wenn das Brot im Sakrament dargereicht
wird, so ist damit die Darbietung des Leibes Christi unmittelbar verbunden, weil das Zeichen die in
ihm dargestellte Wahrheit unabtrennbar bei sich hat. Wäre es so, dann würde ich keinen
wesentlichen Streit erheben. Tatsächlich aber denken sie den Leib selber im Brote räumlich
anwesend und dichten ihm dabei eine Allgegenwärtigkeit an, die mit seiner Natur im Widerspruch
steht, auch fügen sie die Wörtlein "Unter dem Brote" hinzu und wollen damit zeigen, der Leib
liege unter dem Brote verborgen. Weil es so steht, darum ist es vonnöten, solche Verschlagenheiten
ein wenig aus ihren Schlupfwinkeln hervorzuziehen. Ich habe nun hier noch nicht im Sinne, diese
ganze Angelegenheit als eigentliches Thema zu behandeln, sondern ich möchte nur zu der
Auseinandersetzung, die bald an dem für sie vorgesehenen Orte folgen wird, die Fundamente legen.
Sie wollen also, daß der Leib Christi unsichtbar und unermeßlich (d.h. unräumlich) sei, damit er
unter dem Brote verborgen liege; denn sie glauben nicht anders mit ihm Gemeinschaft haben zu
können, als wenn er in das Brot herniedersteigt. Die Art solchen Herniedersteigens aber, vermöge
deren er uns zu sich in die Höhe hebt, begreifen sie nicht. Sie benutzen alle möglichen
Scheinfarben als Vorwand; aber wenn sie alles ausgesprochen haben, so wird genugsam augenscheinlich,
daß sie auf einer räumlichen Gegenwart Christi bestehen. Woher kommt das nun? Sie können sich
eben kein anderes Teilhaben an seinem Fleisch und Blut vorstellen als ein solches, das in
räumlicher Verbindung und Berührung oderin irgendeiner groben Einschließung (des Leibes Christi
in das Brot) besteht.
IV,17,17 Um nun solchen Irrtum, den sie einmal unüberlegt aufgebracht
haben, halsstarrig zu verteidigen, tragen einige von ihnen keine Bedenken, die Behauptung
aufzustellen, daß Christi Fleisch niemals andere Maße gehabt habe, als so weit und breit sich
Himmel und Erde erstrecken. Daß er aber als Kind aus dem Schoß seiner Mutter geboren, daß er
gewachsen, am Kreuze ausgestreckt und im Grabe verschlossen worden ist, das ist nach ihrer Meinung
vermöge einer Art von austeilender Ordnung (dispensatio) geschehen, damit er die Aufgabe erfüllte,
geboren zu werden, zu sterben und andere menschliche Pflichten auf sich zu nehmen. Daß er nach
seiner Auferstehung in der gewohnten leiblichen Gestalt gesehen worden, in den Himmel aufgenommen
und schließlich nach seiner Himmelfahrt dem Stephanus und dem Paulus erschienen ist (Apg. 1,3.9;
7,55; 9,3), das geht, so behaupten sie weiter, auf die nämliche austeilende Ordnung zurück, damit
es dem Anblick der Menschen zugänglich würde, daß er als König im Himmel eingesetzt sei. Was
heißt das nun anders als den Marcion aus der Hölle hervorziehen? Denn es kann doch niemand
bezweifeln, daß Christi Leib, wenn er in solchem Zustande war, ein Scheingebild oder ein Scheinleib
gewesen ist! Manche ziehen sich auch etwas spitzfindiger aus der Sache heraus: sie sagen, dieser
Leib, der im Sakrament gegeben wird, sei ein verherrlichter und unsterblicher Leib, und es liege
daher keinerlei Widersinn darin, wenn er an vielen Orten, ohne jeden Ort (ohne jede räumliche
Gebundenheit) und ohne jede Gestalt, unter dem Sakrament enthalten sei. Ich frage aber: In welcher
Gestalt gab Christus seinen Leib denn den Jüngern an dem Tage, bevor er leiden sollte? Lauten nicht
die Worte so, daß er ihnen eben jenen sterblichen Leib dargereicht hat, der kurz nachher
dahingegeben werden sollte? Aber, so sagen sie, er hatte doch schon vorher drei Jüngern auf dem
Berge (der Verklärung) seine Herrlichkeit zu schauen gegeben (Matth. 17,2)! Das ist allerdings
wahr; aber mit dieser verklärten Herrlichkeit wollte er ihnen für eine Stunde einen Geschmack der
Unsterblichkeit gewähren. Sie werden jedoch dabei nicht einen zwiefachen Leib finden, sondern eben
den einen, den Christus trug, mit neuer Herrlichkeit geziert! Als er aber in dem ersten Abendmahl
seinen Leib austeilte, da stand bereits die Stunde bevor, in der er von Gott "geschlagen" und
gedemütigt, ohne Zier und mit Aussatz behaftet daliegen sollte (Jes. 53,4). So wenig kann davon die
Rede sein, daß er in diesem Mahl die Herrlichkeit der Auferstehung hätte an den Tag bringen
wollen. Zudem: was für ein großes Fenster tut man dem Marcion auf, wenn Christi Leib an der einen
Stelle sterblich und niedrig erschaut, an der anderen dagegen unsterblich und herrlich gehalten
wurde! Wiewohl das, wenn die Meinung dieser Leute gelten soll, Tag für Tag in der gleichen Weise
geschieht, weil sie ja notgedrungen zugeben müssen, daß der Leib Christi, der an und für sich
sichtbar ist, unter dem Merkzeichen des Brotes unsichtbar verborgen liege. Und trotzdem schämen
sich die Leute, die solche Ungeheuerlichkeiten von sich geben, ihrer Schande so rein gar nicht, daß
sie uns von selbst mit wilden Schmähungen berennen, weil wir ihre Meinung nicht unterschreiben.
IV,17,18 Wohlan, wenn man Leib und Blut des Herrn an Brot und Wein
festbinden will, so muß man sie notwendig voneinander losreißen. Denn wie das Brot vom Kelche
gesondert gereicht wird, so muß auch der Leib, der mit dem Brot dargereicht wird, notwendig von dem
Blute getrennt sein, das ja in den Kelch eingeschlossen ist. Wenn sie nämlich behaupten, der Leib
Christi sei im Brote und sein Blut im Kelch, und wenn weiterhin Brot und Wein durch einen
räum-lichen Abstand voneinander getrennt sind, so können sie mit keiner Ausflucht der Folgerung
entgehen, daß dann also auch der Leib Christi von seinem Blute getrennt werden muß. Sie machen
hier allerdings gewöhnlich einen Vorwand: vermöge des "wechselseitigen Beieinanderseins"
(concomitantia), wie sie es erdichten, sei das Blut im Leibe und der Leib wiederum im Blute. Aber
das ist nun wahrhaftig eine gar zu leichtfertige Sache, da ja die Merkzeichen, in welche Leib und
Blut eingeschlossen werden, in dieser Weise unterschieden sind. Wenn wir dagegen mit unseren Augen
und Herzen in den Himmel emporgeführt werden, um Christus dort in der Herrlichkeit seines Reiches
zu suchen, dann wird es geschehen, daß wir, wie uns die Merkzeichen zu ihm in seiner Ganzheit
einladen, in der gleichen Weise auch unter dem Merkzeichen des Brotes von seinem Leibe gespeist und
unter dem Merkzeichen des Weines für sich besonders von seinem Blute getränkt werden, um ihn
endlich selbst ganz zu genießen. Denn obwohl er sein Fleisch von uns weggenommen hat und mit seinem
Leibe gen Himmel gefahren ist, sitzt er nun doch zur Rechten des Vaters, das heißt: er regiert in
der Macht, Majestät und Herrlichkeit des Vaters. Dies sein Reich ist von keinerlei räumlichen
Weiten begrenzt, von keinerlei Maßen umschlossen; nein, Christus läßt seine Kraft, wo es ihm
gefällt, im Himmel und auf Erden wirken, er macht sich in Gewalt und Kraft als der Gegenwärtige
kund, er sieht den Seinen immerfort zur Seite, haucht ihnen sein Leben ein, lebt in ihnen, stützt
sie, stärkt sie, belebt sie und erhält sie unversehrt, nicht anders, als wenn er mit seinem Leibe
gegenwärtig wäre, er speist sie endlich mit seinem eigenen Leibe, dessen Gemeinschaft er durch die
Kraft seines Geistes auf sie übergehen läßt. In diesem Sinne wird uns im Sakrament Leib und Blut
Christi dargereicht.
IV,17,19 Wir müssen dagegen eine solche Gegenwart Christi im Abendmahl
feststellen, die ihn weder an das Element des Brotes bindet noch in das Brot einschließt, noch ihn
(auf Erden) auf irgendeine Weise räumlich eingrenzt — denn es liegt auf der Hand, daß all dies
seiner himmlischen Herrlichkeit Abbruch tut. Die Gegenwart Christi im Abendmahl dürfen wir uns
ferner nicht so vorstellen, daß sie ihm seine Größe wegnimmt oder ihn an vielen Orten zugleich
sein läßt oder ihm eine unermeßliche Weite andichtet, die sich über Himmel und Erde verstreut
— denn dies steht im klaren Gegensatz zu der Echtheit seiner menschlichen Natur. Es bestehen hier
also zwei einschränkende Forderungen, die wir uns nie und nimmer wegnehmen lassen wollen.
Einerseits darf der himmlischen Herrlichkeit Christi kein Eintrag getan werden, wie es geschieht,
wenn man ihn wieder unter die vergänglichen Elemente dieser Welt bringt oder ihn an irgendwelche
irdischen Kreaturen bindet. Andererseits darf seinem Leibe nichts angedichtet werden, was der
menschlichen Natur nicht entspricht: das geschieht, wenn man behauptet, er sei unbegrenzt, oder wenn
man ihn an vielen Orten zugleich sein läßt. Im übrigen nehme ich nach Behebung dieser
Widersinnigkeiten alles bereitwillig an, was dazu dienen kann, das wahre und wesenhafte Teilhaben an
dem Leibe und Blute des Herrn zum Ausdruck zu bringen, die unter den heiligen Merkzeichen des
Abendmahls den Gläubigen dargeboten werden. Und das soll dergestalt geschehen, daß man es nicht so
versteht, als ob die Gläubigen Christi Leib und Blut bloß in der Einbildung oder mit dem Begreifen
ihres Verstandes erfaßten, sondern vielmehr so, daß sie diese tatsächlich als Speise zum ewigen
Leben genießen. Daß diese (meine) Meinung der Welt so verhaßt ist und daß ihre Verteidigung
durch die unbilligen Urteile vieler Leute von vornherein unmöglich gemachtwird, das hat seine
Ursache nur darin, daß der Satan die Sinne solcher Menschen mit furchtbarer Zauberei betört hat.
Auf jeden Fall stimmt das, was wir lehren, in allen Stücken aufs beste mit der Schrift überein, es
enthält nichts Widersinniges nichts Dunkles und nichts Zweideutiges, es steht nicht im Gegensatz zu
wahrer Frömmigkeit und wohlgegründeter Erbauung, und es trägt endlich auch nichts Ärgernis,
erregendes in sich — nur ist eben einige Jahrhunderte lang, da in der Kirche die Unwissenheit und
Unbildung der Klüglinge das Regiment führte, solch klares Licht und solche auf der Hand liegende
Wahrheit jämmerlich unterdrückt worden. Da sich aber der Satan auch heute bemüht, diese Wahrheit
durch unruhsüchtige Geister mit allen möglichen Schmähungen und Vorwürfen zu besudeln, und da er
auf nichts anderes mit größerer Anstrengung versessen ist, so ist es angebracht, sie
nachdrücklicher zu schützen und zu verteidigen.
IV,17,20 Bevor wir nun weiter fortschreiten, müssen wir die Stiftung selbst
behandeln, wie sie Christus vollzogen hat; vor allem, weil der beliebteste Einwurf unserer
Widersacher darin besteht, wir wichen von den Worten Christi ab. Um uns nun von der falschen
Nachrede, mit der sie uns belasten, freizumachen, werden wir am geschicktesten mit der Auslegung der
(Einsetzungs-) Worte den Anfang machen. Nach dem Bericht von drei Evangelisten und dem des Paulus
hat Christus das Brot genommen, es nach einer Danksagung gebrochen, seinen Jüngern gegeben und
gesagt: "Nehmet hin und esset, das ist mein Leib, der für euch gegeben — oder: gebrochen —
wird." Von dem Kelch berichten Matthäus und Markus die Worte: "Dieser Kelch ist das Blut des
Neuen Testaments, welches vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden" (Fassung etwas
ungenau nach Matth. 26,28). Paulus und Lukas dagegen berichten: "Dieser Kelch ist das Neue
Testament in meinem Blut ..." (Fassung nach 1. Kor. 11,25; zum Ganzen: Matth. 26,26-28; Mark.
14,22-24; Luk. 22,17.19f.; 1. Kor. 11,24f.). Die Verteidiger der Transsubstantiation sind nun der
Ansicht, durch das Wörtchen "das" sei die "Gestalt" des Brotes angedeutet; denn (nach ihrer
Ansicht) wird die "Weihe" (Konsekration) durch den ganzen Zusammenhang der Worte vollzogen, und
es ist keine "Substanz" vorhanden, auf die sich weisen ließe. Aber wenn sie sich von der
frommen Ehrerbietung gegen die Worte halten lassen, weil Christus bezeugt hat, das, was er seinen
Jüngern in die Hand gab, sei sein Leib, — so hat jedenfalls ihr Hirngespinst, nach dem das, was
zuvor Brot war, nun (Christi) Leib sein soll, mit dem eigentlichen Sinn dieser Worte nicht das
mindeste zu tun. Was Christus in die Hand nimmt und seinen Aposteln darreicht, das ist, so erklärt
er, sein Leib. Er hatte aber Brot in die Hand genommen — und wer begreift also nicht, daß es auch
noch Brot war, was er ihnen zeigte, und daß es deshalb nichts Widersinnigeres gibt, als wenn man
das, was von dem Brot gesagt wird, auf die "Gestalt" überträgt? Andere verstehen das Wörtlein
"ist" so, als ob es für "verwandelt werden" gesetzt sei (also den Vorgang der
Transsubstantiation andeute), und nehmen damit ihre Zuflucht zu einer noch gezwungeneren und
gewaltsam verdrehten Auslegung. Sie haben also keinen Grund, um den Vorwand zu brauchen, sie ließen
sich durch die Ehrfurcht vor den Worten bewegen. Denn in keinem Volk und in keiner Sprache hat man
je etwas davon gehört, daß das Wörtchen "ist" in diesem Sinne gebraucht würde, also in dem
Sinne von "in etwas anderes verwandelt werden". Was nun diejenigen anbetrifft, die das Brot im
Abendmahl bleiben lassen (also nicht von einer "Gestalt" oder dergleichen reden) und dann
behaupten, es sei der Leib Christi, so besteht unter ihnen eine große Vielartigkeit. Einige
drücken sich recht bescheiden aus; sie legen zwar scharfen Nachdruck auf den Buchstaben: "Das ist
mein Leib", lassen aber nachher doch von ihrer Schärfe ab und sagen, diese Worte bedeuteten
soviel, wie daß Christi Leib "mit dem Brot, im Brot und unter dem Brot" sei. Über die Sache,
die sie behaupten, haben wir bereits einige kurze Andeutungen gegeben, und es muß bald noch
ausführlicher darüber gesprochen werden. Jetzt geht die Erörterung allein um die Worte, von denen
sie nach ihrer Behauptung gezwungen werden, die Ansicht nicht zuzulassen, daß das Brot deshalb "Leib"
genannt wird, weil es das Zeichen des Leibes ist. Wenn sie nun aber jeder figürlichen Redeweise
(tropus) aus dem Wege gehen, weshalb springen sie dann von dem einfachen Hinweis Christi zu ihren so
wesentlich andersartigen Redeweisen über? Denn es ist etwas wesentlich anderes, ob man sagt, das
Brot sei der Leib, oder: der Leib sei "mit" dem Brot! Aber sie haben eben gesehen, wie es
unmöglich ist, daß man die Aussage: "das Brot ist der Leib" in ihrem einfachen Wortsinn
aufrechterhält, und deshalb haben sie versucht, mit solchen Redeformen wie auf krummen Umwegen zu
entwischen. Andere sind aber kühner, und die behaupten ohne Zögern, das Brot sei im eigentlichen
Sinne der Leib — und auf diese Weise beweisen sie, daß sie wirklich dem Buchstaben gehorchen!
Wenn man ihnen entgegenhält, dann sei also das Brot Christus und Gott, dann werden sie das zwar
abstreiten, weil es sich in den Worten Christi nicht ausdrücklich findet. Sie werden aber mit ihrem
Leugnen nichts erreichen; denn es besteht doch allgemeine Übereinstimmung darüber, daß uns im
Abendmahl der ganze Christus dargeboten wird! Es ist aber eine unerträgliche Gotteslästerung, wenn
man ohne Bild von einem gebrechlichen und vergänglichen Element erklärt, es sei Christus. Ich
nenne zwei Aussagen, einmal: "Christus ist der Sohn Gottes", und zum anderen: "das Brot ist
der Leib Christi" — und nun frage ich sie, ob die das gleiche bedeuten. Wenn sie zugestehen,
daß sie allerdings verschiedenartig sind — und zu diesem Zugeständnis kann man sie gegen ihren
Willen zwingen —, so sollen sie mir die Frage beantworten, woher solche Verschiedenheit kommt. Sie
werden meines Erachtens keine andere Ursache anführen, als daß eben das Brot in der Weise des
Sakraments als "Leib" bezeichnet wird. Daraus ergibt sich dann, daß Christi Worte der
allgemeinen Regel nicht unterworfen sind und nicht nach der Grammatik gerichtet werden dürfen. Und
dann: Lukas und Paulus nennen den Kelch "das (Neue) Testament im Blute ..." (Luk. 22,20; 1. Kor.
11,25); nun frage ich all diese Leute, die so hart und streng auf den Buchstaben dringen, ob Lukas
und Paulus mit diesen Worten nicht das nämliche zum Ausdruck bringen wie im ersten Aussageglied, wo
es heißt: "Das ist mein Leib." Jedenfalls bestand doch bei dem einen Teil des Sakraments die
gleiche heilige Ehrfurcht wie bei dem zweiten, und da nun die Kürze keinen deutlichen Sinn ergibt,
so läßt die längere Rede den Sinn klar hervortreten. Allemal also, wenn sie auf Grund des einen
Wortes behaupten, das Brot sei der Leib Christi, so bringe ich auf Grund einer größeren Anzahl von
Worten die gut passende Auslegung vor, das Brot sei "das Testament in seinem Leibe". Wieso kann
man denn einen getreueren und gewisseren Ausleger suchen als Lukas und Paulus? Ich habe nun aber
nicht im Sinn, die Gemeinschaft mit dem Leibe Christi, die ich bekannt habe, irgendwie
abzuschwächen; meine Absicht geht nur darauf, die törichte Halsstarrigkeit, mit der sie so
feindselig über Worte streiten, abzuwehren. Mit Paulus und Lukas als Gewährsmännern verstehe ich
es so, daß das Brot der Leib Christi ist, und zwar, weil es der Bund in seinem Leibe ist. Wenn sie
dagegen ankämpfen, so haben sie nicht mit mir, sondern mit dem Geiste Gottes zu streiten. Und
mögen sie auch gewaltig klagen, sie würden durch die Ehrerbietung vor den Worten Christi daran
gehindert, das Wagnis zu unternehmen, daß sie das, was offen gesagt ist, figürlich verstünden, so
ist das doch kein hinreichend gerechter Vorwand, um all die Gründe, die wir dagegen ins Feld
führen, dergestalt zu verwerfen.Indessen müssen wir, worauf ich bereits aufmerksam machte, wohl
wissen, was es bedeutet, wenn es heißt, im Leibe und im Blute Christi sei das Testament (der Bund);
denn der Bund, der durch das Opfer seines Todes bekräftigt worden ist, würde uns nichts nützen,
wenn nicht jene verborgene Gemeinschaft dazukäme, vermöge deren wir mit Christus in eins
zusammenwachsen.
IV,17,21 Es bleibt also übrig, daß wir zugeben, daß um der Ähnlichkeit
willen, die die im Zeichen veranschaulichten Dinge (res signatae) mit ihren Merkzeichen haben, eben
der Name der Sache auch dem Merkzeichen beigelegt worden ist; und dies ist zwar in figürlicher
Weise (figurate) geschehen, jedoch nicht ohne ein höchst passendes Entsprechungsverhältnis
(analogia). Sinnbildliche Deutungen und Gleichnisse lasse ich beiseite, damit niemand behauptet, ich
suchte Ausflüchte oder ginge über die gegenwärtig zur Besprechung stehende Sache hinaus. Ich
behaupte, daß es sich hier um eine übertragende Redeweise (metonymicus sermo) handelt, die in der
Schrift immer wieder gebräuchlich ist, wo es um die Geheimnisse (Sakramente) geht. Denn wenn es
heißt, die Beschneidung sei der "Bund" (Gen. 17,13), das Lamm sei das "Vorübergehen"
(Passah; Ex. 12,11), die Opfer unter dem Gesetz seien Sühnungen (Lev. 17,11; Hebr. 9,22), und
schließlich der Fels, aus dem in der Wüste Wasser hervorfloß, sei Christus gewesen (Ex. 17,6; 1.
Kor. 10,4), so kann man das nur dann verstehen, wenn man annimmt, daß es in übertragendem Sinne
gesagt ist. Es wird aber nicht nur der Name von dem Übergeordneten auf das Untergeordnete
übertragen, sondern im Gegenteil auch der Name des sichtbaren Zeichens der im Zeichen
veranschaulichten Sache beigelegt; so, wenn es heißt, Gott sei dem Mose in dem Dornbusch erschienen
(Ex. 3,2), oder wenn die Bundeslade "Gott" oder "Gottes Angesicht" (Ps. 84,8; 42,3) oder die
Taube der Heilige Geist genannt wird (Matth. 3,16). Denn das Merkzeichen ist allerdings seinem Wesen
nach von der im Zeichen veranschaulichten Sache verschieden, weil diese ja geistlich und himmlisch
ist, das Zeichen dagegen leiblich und sichtbar; jedoch bildet es die Sache, zu deren
Vergegenwärtigung es geheiligt ist, nicht nur wie ein nacktes und leeres Zeichen ab, sondern es
bietet sie auch in Wahrheit dar — und weshalb soll ihm dann der Name dieser Sache nicht mit Recht
zukommen? Wenn doch die von Menschen erdachten Merkzeichen, die eher Bilder von abwesenden Dingen
als Zeichen von gegenwärtigen sind und dazu auch solche Dinge sehr häufig fälschlich andeuten,
trotzdem zuweilen mit dem Namen dieser Dinge geziert werden, so entlehnen die von Gott eingesetzten
Zeichen mit viel kräftigerer Begründung die Namen der Dinge, deren gewisse und schlechthin
untrügliche Bedeutung sie allezeit an sich tragen und deren Wahrheit sie in fester Verbundenheit
bei sich haben, die Ähnlichkeit und Verwandtschaft des einen mit dem anderen ist also so groß,
daß sie leicht wechselseitig ineinander übergehen. Daher sollen unsere Widersacher davon ablassen,
törichte Sticheleien gegen uns aufzuhäufen, indem sie uns "Tropisten" (Anhänger der
figürlichen Deutung) nennen, wenn wir die bei den Sakramenten angewandte Redeweise nach dem
allgemeinen (Sprach-) Gebrauch der Schrift auslegen. Denn wie die Sakramente in vielen Dingen
miteinander übereinstimmen, so besteht auch in dieser übertragenden Redeweise (metonymia) etwas
Gemeinsames zwischen ihnen. Wie also der Apostel lehrt, daß der Fels, aus dem den Israeliten ein
geistlicher Trank hervorsprudelte, Christus gewesen ist (1. Kor. 10,4), und zwar, weil er ein
sichtbares Merkzeichen sein sollte, unter dem jener geistliche Trank zwar in Wahrheit, aber nicht
augenfällig empfangen wurde — so wird auch heute das Brot als der Leib Christi bezeichnet, weil
es ein Merkzeichen ist, in dem uns der Herr den wahren Genuß seines Leibes darbietet.Anders hat
auch Augustin nicht geurteilt und nicht gesprochen — damit niemand diese Ansicht als eine
neuerdachte Sache verachtet! "Wenn die Sakramente", so sagt er, "nicht einige Ähnlichkeit mit
den Dingen besäßen, deren Sakramente (Zeichen) sie sind, so wären sie eben keine Sakramente. Auf
Grund dieser Ähnlichkeit empfangen sie vor allem auch die Namen der Dinge selbst. Wie also in
gewisser Weise das Sakrament des Leibes Christi der Leib Christi und das Sakrament des Blutes
Christi das Blut Christi ist, so ist das Sakrament des Glaubens der Glaube" (Brief 98; an
Bonifacius). Es gibt bei ihm noch viele ähnliche Stellen; aber es wäre überflüssig, sie
aufzuzählen, da jene eine genügt; einzig muß ich den Leser darauf aufmerksam machen, daß der
heilige Mann die nämliche Lehre in seinem Brief an Evodius vertritt (Brief 169,2.9). Eine
leichtfertige Ausflucht aber ist die Behauptung: wenn Augustin lehre, daß die übertragende
Redeweise bei den Geheimnissen (Sakramenten) häufig und üblich sei, so erwähnte er das Abendmahl
nicht. Wenn man diese Meinung nämlich gelten lassen wollte, so dürfte man auch nicht vom
Allgemeinen auf das Besondere schließen, und es würde damit die Schlußfolgerung ungültig: alle
Tiere haben die Fähigkeit, sich zu bewegen, also haben auch Ochse und Pferd die Fähigkeit, sich zu
bewegen! Jedoch wird ein längerer Streit durch anderwärts stehende Worte des gleichen heiligen
Mannes überflüssig gemacht: er behauptet nämlich gegen den Manichäer Adimantus, als Christus das
Zeichen seines Leibes ausgeteilt hätte, da hätte er es ohne Bedenken seinen Leib genannt (Gegen
Adimantus 12,3). Und wiederum an anderer Stelle, nämlich in der Erklärung zum dritten Psalm, sagt
er: "Wunderbarlich ist die Langmut Christi, daß er den Judas zu dem Mahl hinzuzog, in dem er das
Bild (figura) seines Leibes und Blutes den Jüngern anbefohlen und gegeben hat" (zu Psalm 3,1).
IV,17,22 Wenn sich nun trotzdem ein eigensinniger Mensch, blind für alles
andere, nur auf dies eine Wörtchen versteift: "Das ist ...", als ob durch dieses Wort das
Abendmahl von allen anderen Geheimnissen (Sakramenten) geschieden würde, so ist ihm leicht zu
antworten. Man sagt, das auf die Substanz weisende Wort ("ist") sei so scharf betont, daß es
keinerlei bildliche Erklärung zulasse. Wenn wir das nun den Vertretern dieser Ansicht zugeben, so
steht doch in den Worten des Paulus ebenfalls dieses die Substanz ausdrückende Wörtlein zu lesen,
nämlich, wo er das Brot "die Gemeinschaft des Leibes Christi" nennt (1. Kor. 10,16). Die "Gemeinschaft"
ist nun aber etwas anderes als der Leib selbst. Ja, fast überall, wo von den Sakramenten die Rede
ist, begegnet uns das nämliche Tätigkeitswort. "Das wird für euch der Bund mit mir sein",
heißt es (Gen. 17,13; nicht Luthertext). Oder: "Dies Lamm wird für euch das Passah sein" (Ex.
12,11; nicht Luthertext). Und, um nicht mehr Stellen zu nennen: wenn Paulus sagt, der Fels sei
Christus gewesen — weshalb finden dann jene Leute an dieser Stelle das substanzausdrückende
Wörtlein ("ist gewesen") weniger stark betont als in den Worten Christi? Sie sollen mir auch
antworten, was denn das substanzausdrückende Tätigkeitswort in den Worten des Johannes bedeutet:
"Der Heilige Geist war noch nicht (da), denn Jesus war noch nicht verklärt" (Joh. 7,39). wenn
sie sich nämlich hier immerfort an ihre Regel klammern, so muß die ewige Wesenheit des Heiligen
Geistes zunichte gemacht werden, als ob der Geist seinen Anfang erst mit der Himmelfahrt Christi
genommen hätte! Und schließlich sollen sie mir antworten, was das Wort des Paulus bedeutet, nach
welchem die Taufe "das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung" ist (Tit. 3,5), während es doch
feststeht, daß sie für viele ohne Nutzen ist! Es gibt aber nichts Kräftigeres zu ihrer
Widerlegung als das Wort des Paulus, die Kirche sei Christus (1. Kor. 12,12). Er führt da nämlich
das Gleichnis des menschlichen Leibes an und fährt dann fort: "Also auch Christus", und da
meint er nicht den eingeborenen Sohn Gottes in sich selber, sondern in seinen Gliedern. Mit diesen
Ausführungen hoffe ich bereits erreicht zu haben, daß bei Menschen von gesunden Sinnen und
lauterem Wesen die Lästerungen unserer Feinde stinkend sind, wenn sie die Behauptung ausstreuen,
wir weigerten den Worten Christi den Glauben — während wir sie doch nicht weniger gehorsam
annehmen als sie selbst und sie mit größerer Ehrfurcht erwägen. Ja, ihre bequeme Sicherheit ist
ein Beweis dafür, daß sie sich nicht sehr darum kümmern, was Christus gewollt hat — wenn es
ihnen nur einen Schutzschild für ihre Halsstarrigkeit bietet! Und ebenso muß unsere gründliche
Untersuchung Zeuge dafür sein, wie hoch uns Christi Autorität steht. Sie behaupten gehässig, das
menschliche Empfinden stehe uns im Wege, so daß wir nicht glaubten, was Christus mit seinem
heiligen Munde ausgesprochen hat; aber wie unverschämt es ist, daß sie uns diese Schmach
aufbrennen, das habe ich zum großen Teil bereits deutlich gemacht, und es wird hernach noch klarer
zum Vorschein kommen. Nichts hindert uns also, Christus in seinen Worten zu glauben und, sobald er
das eine oder andere zu verstehen gegeben hat, uns darauf zu verlassen. Es geht nur darum, ob es
denn ein Frevel ist, nach dem ursprünglichen Sinn (seiner Worte) zu forschen.
IV,17,23 Um als wohlgebildete Männer zu erscheinen, verbieten diese
trefflichen Lehrmeister, auch nur im mindesten vom Buchstaben zu weichen. Mit mir dagegen ist es so:
die Schrift nennt Gott einen "Kriegsmann" (Ex. 15,3); weil ich nun sehe, daß dies, wofern es
nicht übertragend gemeint ist, eine gar zu harte Ausdrucksweise ist, so zweifle ich nicht daran,
daß es sich dabei um einen von den Menschen hergenommenen Vergleich handelt. Und in der Tat: als
vorzeiten die "Anthropomorphiten" den rechtgläubigen Vätern Beschwernis bereiteten, da war der
Vorwand, unter dem das geschah, kein anderer als der: sie nahmen solche Worte wie: "Die Augen des
Herrn sehen" (Deut. 11,12; 1. Kön. 8,29; Hiob 7,8), oder: "Es ist vor seine Ohren
heraufgekommen" (2. Sam. 22,7; 2. Kön. 19,28 u.ä.), oder: "Seine Hand ist ausgereckt" (Jes.
5,25; 23,11; Jer. 1,9; 6,12 u.ä.), oder: "Die Erde ist seiner Füße Schemel" (Jes. 66,1;
Matth. 5,35; Apg. 7,49), und diese Worte rissen sie dann wild an sich und schrieen, man raube Gott
den Leib, den ihm die Schrift doch beilege. Wenn man dies Gesetz gelten läßt, so wird eine
ungeheuerliche Barbarei das ganze Licht des Glaubens verfinstern! Denn was für Ungetüme von
Widersinnigkeiten werden schwärmerische Leute (aus der Schrift) beweisen dürfen, wenn es ihnen
erlaubt wird, jeden einzelnen Buchstaben zur Bestätigung ihrer Meinungen anzuführen! Unsere
Widersacher machen den Einwand, es sei nicht wahrscheinlich, daß Christus, als er doch den Aposteln
einen einzigartigen Trost in den Widerwärtigkeiten bereitete, sinnbildlich oder undeutlich geredet
hätte. Aber das ist zu unseren Gunsten geredet! Denn wenn es den Aposteln nicht in den Sinn
gekommen wäre, daß das Brot im figürlichen Sinne Christi Leib genannt wurde, weil es eben das
Merkzeichen dieses Leibes war, so wären sie von einer so ungeheuerlichen Sache ohne Zweifel in
Verwirrung gestürzt worden. Wie Johannes berichtet, sind sie schier im gleichen Augenblick auch in
den mindesten Schwierigkeiten bestürzt hängengeblieben. Sie streiten miteinander darüber, wieso
Christus zum Vater gehen würde, sie bringen die Frage auf, wieso er aus der Welt gehen sollte, sie
verstehen mit Bezug auf den himmlischen Vater nichts von den Worten, die ihnen gesagt werden, ehe
denn sie ihn gesehen hätten (Joh. 14,5.8; 16,17). Wie sollten nun die nämlichen Jünger, die sich
so verhalten, mit Leichtigkeit in der Lage gewesen sein, etwas zu glauben, was doch alle Vernunft
verwirft, nämlich daß Christus vor ihren Blicken bei Tische säße und doch zugleich unsichtbar
unter dem Brote beschlossen wäre? Nun essen sie aber das Brot ohne Bedenken und bezeugen dadurch
ihre einhellige Einsicht; daraus ergibt sich also deutlich, daß sie die Worte Christi in dem
nämlichen Sinne aufgefaßt haben wie wir; es kam ihnen eben in den Sinn, was bei den Geheimnissen
(Sakramenten) nicht unmöglich erscheinen darf, daß der Name der im Zeichen veranschaulichten Sache
dem Zeichen beigelegt wird! Der Trost war also für die Jünger gewiß und deutlich, wie er es auch
für uns ist, und in keinerlei Rätsel eingehüllt. Und wenn einige Leute mit unserer Auslegung
nichts zu tun haben wollen, so besteht dafür keine andere Ursache, als daß sie die Verzauberung
des Teufels verblendet hat, so daß sie sich nämlich die finsteren Schatten von Rätseln vormachen,
wo doch die Auslegung des abgerundeten Bildes am Wege liegt. Außerdem: wenn sie sich so scharf auf
die Worte versteifen, so müßte Christus in verkehrter Weise von dem Brot für sich allein etwas
anderes ausgesagt haben als von dem Kelch. Er nennt das Brot seinen Leib, den Wein nennt er sein
Blut; das wäre dann also entweder ein wirres Gerede oder aber eine Zweiteilung, die den Leib vom
Blute trennte! Ja, es wäre (dann) ebenso wahrheitsgemäß, wenn es von dem Kelch hieße: "Das ist
mein Leib", wie wenn das von dem Brot selbst gesagt wäre, und wiederum hätte ausgesagt werden
können, das Brot sei das Blut! Wenn sie antworten, man müsse darauf achten, zu welchem Zweck und
Gebrauch die Merkzeichen eingesetzt seien, so gebe ich das zwar zu; aber sie können sich
unterdessen keineswegs daraus herauswinden, daß ihr Irrtum die widersinnige Behauptung mit sich
zieht, das Brot sei das Blut Christi und der Wein sein Leib! Ich weiß nun auch nicht, was es
bedeuten soll, daß sie zwar zugeben, das Brot und der Leib seien verschiedene Dinge, dann aber doch
behaupten, daß eines vom anderen (d.h. das Brot sei der Leib ...) im eigentlichen Sinne und ohne
Bild ausgesagt werde. Das ist genau so, als wenn jemand sagte, ein Gewand sei von dem Menschen
verschieden und werde doch im eigentlichen Sinne als Mensch bezeichnet. Unterdessen behaupten sie,
man beschuldige Christus der Lüge, wenn man nach der Auslegung seiner Worte forschte — gerade als
wenn für sie der Sieg in Halsstarrigkeit und in scheltenden Vorwürfen bestünde! Nun werden die
Leser leicht ein Urteil darüber gewinnen können, was für eine ungerechte Schmach uns diese
Silbenhascher antun, indem sie schlichten Leuten die Meinung beibringen, wir entzögen den Worten
Christi den Glauben, während diese Worte doch, wie wir nachgewiesen haben, von ihnen unsinnig
verdreht und durcheinandergeworfen, von uns aber getreulich und richtig ausgelegt werden.
IV,17,24 Aber der Schandfleck dieser lügenhaften Behauptung läßt sich
nicht völlig austilgen, wenn nicht auch die andere Beschuldigung widerlegt wird: sie behaupten
nämlich, wir seien dermaßen an die menschliche Vernunft verhaftet, daß wir der Macht Gottes
nichts mehr zuschrieben, als die Ordnung der Natur ertrüge und der gesunde Menschenverstand
eingäbe. Gegenüber solch ungerechten Schmähungen berufe ich mich auf die vorgetragene Lehre
selbst; sie zeigt deutlich genug, daß ich dies Geheimnis durchaus nicht nach dem Maß der
menschlichen Vernunft messe oder den Gesetzen der Natur unterwerfe. Ich möchte doch wissen: haben
wir es etwa von den Naturforschern gelernt, daß Christus unsere Seelen vom Himmel her mit seinem
Fleische ebenso nährt, wie unsere Leiber mit Brot und Wein genährt werden? Woher kommt denn dem
Fleisch diese Kraft, daßes die Seelen lebendig macht? Es werden doch alle sagen, daß das nicht auf
natürliche Weise zustande kommt! Ebensowenig wird es der menschlichen Vernunft zusagen, daß
Christi Fleisch zu uns dringt, um uns zur Nahrung zu dienen. Kurz, wer von unserer Lehre gekostet
hat, der wird zur Bewunderung der verborgenen Macht Gottes hingerissen werden. Jene trefflichen
Eiferer um diese Macht Gottes aber machen sich ein Wunder zurecht, mit dessen Beseitigung Gott samt
seiner Macht zunichte wird. Ich möchte damit die Leser aufs neue ermahnt haben, daß sie gründlich
erwägen, was unsere Lehre bedeutet: ob sie vom gesunden Menschenverstand abhängig ist — oder
aber auf den Flügeln des Glaubens die Welt unter sich läßt und in den Himmel hinüberdringt! Wir
sagen, daß Christus sowohl in dem äußerlichen Merkzeichen als auch in seinem Geiste zu uns
herniedersteigt, um unsere Seelen mit der Substanz seines Fleisches und Blutes in Wahrheit lebendig
zu machen. Wer nicht empfindet, daß in diesen wenigen Worten zahlreiche Wunder beschlossen sind,
der ist mehr als fühllos. Denn es geht nichts mehr gegen die Natur, als daß die Seelen
geistliches, himmlisches Leben von einem Fleisch entlehnen, das seinen Ursprung von der Erde
genommen hat und dem Tode unterworfen gewesen ist; nichts ist unglaublicher, als daß Dinge, die so
weit auseinanderliegen und getrennt sind wie Himmel und Erde, bei solch großem räumlichen Abstande
nicht nur verbunden, sondern eins gemacht werden, so daß die Seelen aus dem Fleische Christi
Nahrung empfangen! Die törichten Menschen sollen also davon ablassen, uns mit der stinkenden
Schmähung verhaßt zu machen, als ob wir Gottes unermeßliche Macht irgendwie kleinlich
eingrenzten. Denn es ist so, daß sie entweder gar töricht irren — oder aber unverschämt lügen.
Denn es geht hier nicht um die Frage, was Gott gekonnt, sondern was er gewollt hat. Wir behaupten
aber, daß eben das geschehen ist, was ihm Wohlgefallen hatte. Es hat ihm aber Wohlgefallen, daß
Christus "in allen Dingen seinen Brüdern gleich werden" sollte, "doch ohne Sünde" (Hebr.
2,17; 4,15). Von welcher Art ist nun unser Fleisch? Ist es nicht so, daß es seine bestimmte
Abmessung hat, räumlich umschlossen ist, berührt und gesehen wird? Sie fragen aber: Und warum
sollte es Gott nicht fertigbringen, daß das nämliche Fleisch zahlreiche verschiedene Örter
zugleich erfüllt, daß es von keinem Raum umschlossen wird und weder Maß noch Gestalt besitzt? Du
törichter Mensch, wozu verlangst du von Gottes Macht, sie solle dahin wirken, daß dies Fleisch
zugleich Fleisch und doch auch nicht Fleisch sei? Das ist ebenso, wie wenn du darauf bestündest,
sie solle es zustande bringen, daß das Licht zugleich Licht und Finsternis sei! Nein, sie will,
daß das Licht Licht ist, die Finsternis Finsternis und das Fleisch Fleisch! Sie wird freilich, wenn
sie will, Finsternis in Licht und Licht in Finsternis verwandeln; aber wenn du verlangst, daß Licht
und Finsternis ohne Unterschied sein sollen — was tust du dann anders, als daß du die Ordnung der
Weisheit Gottes verkehrst? Das Fleisch muß also Fleisch sein und der Geist Geist, jedes nach dem
Gesetz und mit der Bestimmung, wie es von Gott geschaffen ist. Die Bestimmung des Fleisches aber ist
es, daß es einen, und zwar einen bestimmten Raum, daß es seine Abmessung und seine Gestalt hat.
Unter dieser Bestimmung hat Christus das Fleisch angenommen, und er hat ihm, wie Augustin bezeugt,
zwar Unverderblichkeit und Herrlichkeit verliehen, aber seine Natur und seine Wahrheit nicht
weggenommen (Brief 187,3,10; an Dardanus).
IV,17,25 Sie stellen demgegenüber die Behauptung auf, sie hätten das Wort,
in dem Gottes Wille offenbar gemacht sei. Ja, freilich — wenn man ihnen erlaubt, die Gabe der
Auslegung, die dem Worte Licht zuträgt, aus der Kirche zu entfernen!Ich gebe zu, daß sie das Wort
haben — aber so, wie es vorzeiten die Anthropomorphiten hatten, als sie sich einen leiblichen Gott
machten, oder wie es Marcion und die Manichäer besaßen, als sie sich Christi Leib als himmlischen
oder als Scheinleib dachten. Denn auch diese Leute führten Schriftzeugnisse an; so etwa: "Der
erste Adam ist von der Erde und irdisch, der zweite Adam ist vom Himmel und himmlisch" (1. Kor.
15,47; ungenau). Oder ebenso: "Christus entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an und
wurde nach seiner Ähnlichkeit wie ein Mensch erfunden" (Phil. 2,7; ungenau). Aber diese groben
Esser meinen, es gäbe keine Macht Gottes, wenn nicht von dem Ungetüm, das sie sich in ihrem Hirn
zusammengemacht haben, die ganze Ordnung der Natur auf den Kopf gestellt wird — und das heißt
doch nun vielmehr, "Gott Grenzen zu setzen" (wie sie es mir vorwerfen!), wenn wir mit unseren
eigenen Hirngespinsten in Erfahrung zu bringen trachten, was er vermag. Denn aus was für einem Wort
haben sie es entnommen, daß der Leib Christi im Himmel sichtbar sei, auf Erden aber unsichtbar
unter zahllosen Stücken Brotes verborgen liege? Sie werden sagen, das erfordere eben die
Notwendigkeit, daß Christi Leib im Abendmahl ausgeteilt werde. Es ist eben so: weil es ihnen
gefallen hat, aus den Worten Christi das fleischliche Essen (seines Leibes) abzuleiten, so sind sie
nun von ihrem eigenen vorgefaßten Urteil mitgerissen worden und haben es für notwendig gehalten,
diese Spitzfindigkeit zu erdenken, gegen welche die ganze Schrift Einspruch erhebt. Die Behauptung
aber, wir verkleinerten irgendwie Gottes Macht, ist so verkehrt, daß sein Lobpreis durch unsere
Lehre in besonderer Weise verherrlicht wird. Aber weil sie uns immerfort verdächtigen, wir raubten
Gott seine Ehre, indem wir von uns wiesen, was nach dem gesunden Menschenverstand schwer zu glauben
sei, selbst wenn es Christus mit eigenem Munde verheißen hätte — so gebe ich wiederum, wie oben
bereits, die Antwort, daß wir bei den Geheimnissen des Glaubens den gesunden Menschenverstand nicht
zu Rate ziehen, sondern in friedsamer Gelehrigkeit und im Geiste der "Sanftmut", den uns Jakobus
anbefiehlt (Jak. 1,21), die vom Himmel ausgegangene Lehre annehmen. Jedoch verhehle ich nicht, daß
wir da, wo sie verderblich in die Irre gehen, eine nutzbringende Mäßigung walten lassen. Wenn sie
die Worte Christi vernehmen: "Das ist mein Leib", so erdenken sie sich ein Wunder, das von dem,
was er meinte, sehr weit entfernt ist. Sobald sich aber dann aus diesem Hirngespinst üble
Widersinnigkeiten ergeben, da versenken sie sich, weil sie sich schon in ihrer überstürzten Hast
in Stricke verwickelt haben, in den Abgrund der Allmacht Gottes, um auf diese Weise das Licht der
Wahrheit zum Erlöschen zu bringen. Daher kommt dann dieser aufgeblasene Eigensinn (daß sie sagen):
Wir wollen nicht wissen, in welcher Weise Christus unter dem Brote verborgen liegt, sondern geben
uns mit seinem eigenen Wort zufrieden: "Das ist mein Leib". Wir aber streben, wie bei der ganzen
Schrift, danach, das gesunde Verständnis dieser Stelle mit ebensoviel Gehorsam wie Sorgfalt zu
erlangen, und wir reißen nicht in verkehrtem Ungestüm ohne Nachdenken und ohne Auswahl an uns, was
sich zuerst unseren Sinnen aufdrängt, sondern lassen eine fleißige Erwägung eintreten und nehmen
den Sinn an, den uns der Geist Gottes eingibt; auf ihn setzen wir unser Vertrauen — und dann sehen
wir von der Höhe auf alles herunter, was sich an irdischer Weisheit dawider setzt. Ja, wir halten
unseren Verstand gefangen, daß er nicht einem einzigen Wörtlein zu widersprechen, und demütigen
ihn, daß er sich nicht dagegen zu empören wagt. Daraus ist die Auslegung der Worte Christi
entstanden, von der alle, die in ihr nur einigermaßen erfahren sind, wohl wissen, daß sie auf
Grund der dauernden Gepflogenheiten der Schrift den Sakramenten gemeinsam ist. Wir halten aber auch
nicht dafür, daß es uns verwehrt sei, nachdem Beispiel der heiligen Jungfrau bei einer
schwerverständlichen Sache danach zu forschen: "Wie soll das zugehen?" (Luk. 1,34).
IV,17,26 Um den Glauben der Frommen zu kräftigen wird aber nichts von
größerer Bedeutung sein, als wenn sie erfahren, daß die von uns aufgestellte Lehre aus dem reinen
Wort Gottes entnommen ist und sich auf seine Autorität stützt. Ich will daher auch dies, so kurz
wie ich es vermag, deutlich machen. Daß der Leib Christi nach seiner Auferstehung endlich ist und
bis zum Jüngsten Tage vom Himmel umschlossen wird, das lehrt — nicht Aristoteles, sondern der
Heilige Geist (vgl. Apg. 3,21)! Es ist mir auch wohlbekannt, daß unsere Widersacher den Stellen,
die man dazu anführt, sorglos aus dem Wege gehen. An den Stellen, wo Christus sagt, er werde die
Welt verlassen und fortgehen (Joh. 14,12.28), da behaupten sie, dieses Fortgehen sei nichts anderes
als eine Abänderung seines sterblichen Zustandes. Aber unter solchen Umständen hätte Christus
doch nicht den Heiligen Geist an seine Stelle gesetzt, um, wie man sagt, den Mangel seiner
Abwesenheit auszufüllen; denn dann tritt er ja gar nicht an seine Statt; dann steigt auch Christus
nicht wieder aus der himmlischen Herrlichkeit hernieder, um den Zustand des sterblichen Lebens
anzunehmen. Unzweifelhaft stehen das Kommen des Heiligen Geistes und die Himmelfahrt Christi
einander gegenüber, und daher kann es nicht geschehen, daß Christus in der nämlichen Weise nach
dem Fleisch bei uns wohnt, wie er uns seinen Geist sendet. Dazu kommt, daß er ausdrücklich sagt,
er werde "nicht allezeit" bei seinen Jüngern in der Welt sein (Matth. 26,11; Joh. 12,8). Auch
dieses Wort glauben unsere Widersacher trefflich zu entkräften, indem sie so tun, als ob Christus
hier sagte, er werde nicht allezeit arm und elend und den Nöten dieses gebrechlichen Lebens
unterworfen sein. Aber der Zusammenhang der Stelle erhebt dagegen offenkundig Einspruch; denn es
geht hier nicht um Armut und Mangel oder um den elenden Zustand des irdischen Lebens (Christi),
sondern um Verehrung und Ehre. Die Salbung gefiel den Jüngern nicht, weil sie meinten, das sei eine
überflüssige, nutzlose und geradezu der Verschwendung ähnliche Ausgabe, und deshalb hätten sie
lieber gehabt, dies Geld, das nach ihrer Meinung übel vergeudet wurde, wäre für die Armen
angewandt worden. Da antwortet Christus, er werde nicht allezeit bei ihnen sein, um solchen
Ehrendienst zu empfangen (Matth. 26,8-11). Anders hat es auch Augustin nicht ausgelegt; er spricht
sich völlig eindeutig in folgender Weise aus: "Als Christus sagte: ‘Mich habt ihr nicht
allezeit bei euch’, da sprach er von der Gegenwart seines Leibes. Denn nach seiner Majestät, nach
seiner Vorsehung und nach seiner unaussprechlichen, unsichtbaren Gnade geht in Erfüllung, was er
gesagt hat: ‘Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende’ (Matth. 28,20). Nach dem
Fleisch aber, das das Wort angenommen hat, nach dem, daß er von der Jungfrau geboren ist, nach dem,
daß er von den Juden ergriffen, daß er an das Holz geheftet, daß er vom Kreuze abgenommen, daß
er in Leintücher gewickelt, ins Grab gelegt und in der Auferstehung offenbar gemacht worden ist —heißt
es von ihm: ‘Mich habt ihr nicht allezeit bei euch.’ Warum? Weil er eben nach der Gegenwart
seines Leibes vierzig Lage hindurch mit seinen Jüngern umgegangen ist und dann gen Himmel fuhr,
wobei sie ihm mit ihren Blicken das Geleit gaben, aber nicht mit ihrem Nachgehen. Er ist nicht hier;
denn er sitzt dort ‘zur Rechten des Vaters’ (Mark. 16,19). Und doch ist er hier; denn die
Gegenwart seiner Majestät ist nicht gewichen (Hebr. 1,3). In anderer Weise, nach der Gegenwart
seiner Majestät, haben wir Christus allezeit; nach der Gegenwart seines Fleisches aber heißt es
mit Recht: ‘Mich aber habt ihr nicht allezeit.’ Denn die Kirche hat ihn nach der Gegenwart
seines Fleisches wenige Tage hindurch gehabt; jetzt hat sie ihn im Glauben bei sich, mit Augen aber
sieht sie ihn nicht" (Predigten zum Johannesevangelium 50,13). Da erklärt Augustin — um auch
das kurz anzumerken —, daß Christus in dreifacher Weise bei uns gegenwärtig ist: in seiner
Majestät, Vorsehung und unaussprechlichen Gnade; unter dieser Gnade verstehe ich jene wundersame
Gemeinschaft mit seinem Leib und Blut, wofern wir nur begreifen, daß diese durch die Kraft des
Heiligen Geistes geschieht, nicht aber durch jene ersonnene Verschließung seines Leibes unter das
Element. Hat doch unser Herr bezeugt, daß er Fleisch und Gebeine hat, die betastet und gesehen
werden könnten (Joh. 20,27). Auch bedeutet "Weggehen" und "Auffahren" nicht etwa, sich den
Anschein zu geben, als wenn man aufführe und wegginge, sondern in Wahrheit das zu tun, was die
Worte aussagen. Sollen wir nun also, so wird jemand sagen, einen bestimmten Bereich des Himmels
Christus zuschreiben? Nein, ich antworte mit Augustin, daß dies eine höchst vorwitzige und
überflüssige Frage ist, wenn wir nur glauben, daß er im Himmel ist (Vom Glauben und Symbol 6,13).
IV,17,27 Wieso nun — bedeutet nicht der so oft wiederholte Ausdruck "Auffahrt"
ein Verziehen von einem Ort zu einem anderen? Unsere Widersacher leugnen das, weil unter der "Höhe"
nach ihrer Ansicht bloß die Majestät der Herrschaft Christi angedeutet wird. Aber was bedeutet nun
die Art, wie Christus aufgefahren ist? Fährt er da nicht vor den Blicken seiner Jünger in die
Höhe? Berichten nicht die Evangelisten deutlich, daß er in die Himmel aufgenommen worden ist (Apg.
1,9; Mark. 16,19; Luk. 24,51)? Jene spitzfindigen Klüglinge behaupten demgegenüber, er sei doch
durch eine Wolke dem Blick entzogen worden, damit die Gläubigen lernten, daß er fortan nicht mehr
in der Welt sichtbar sein würde. Als ob er, um in uns den Glauben an seine unsichtbare Gegenwart zu
erwecken, nicht vielmehr in einem einzigen Augenblick hätte entschwinden müssen, oder als ob ihn
die Wolke dann nicht hätte erfassen müssen, ehe er einen Fuß rührte! Tatsächlich aber wird er
in die Luft emporgehoben und lehrt uns durch die Wolke, die unter ihn tritt, daß er fernerhin nicht
mehr auf Erden zu suchen ist: daraus ziehen wir mit Sicherheit den Schluß, daß seine Wohnstatt nun
im Himmel ist; so erklärt es auch Paulus, und er gebietet uns, ihn von dort zu erwarten (Phil.
3,20). Aus diesem Grunde machen die Engel seine Jünger darauf aufmerksam, daß sie vergebens nach
dem Himmel schauen; weil nämlich Jesus, der in den Himmel aufgenommen ist, eben so kommen wird, wie
sie ihn haben auffahren sehen. Auch hier finden sich die Widersacher der gesunden Lehre durch eine
nach ihrem Dafürhalten geschickte Ausflucht heraus: sie sagen nämlich, er werde dann sichtbar
kommen, während er allerdings nie von der Erde geschieden sei, sondern unsichtbar bei den Seinen
bliebe. Als ob die Engel an dieser Stelle eine doppelte Gegenwart Christi eindrängten und nicht
einfach die Jünger zu Augenzeugen seiner Auffahrt machten, damit kein Zweifel mehr übrigbleibt! Es
ist doch, als ob sie sagten: Vor euren Blicken ist er in den Himmel aufgenommen und hat er sich das
himmlische Reich angeeignet; jetzt bleibt noch dies, daß ihr geduldig wartet, bis er als der
Richter der Welt wiederkommt; denn wenn er jetzt in den Himmel eingegangen ist, so ist das nicht
geschehen, damit er ihn allein in Besitz hat, sondern damit er euch und alle Frommen mit sich
vereine!
IV,17,28 Da sich aber die Verteidiger dieser falschen Lehre nicht scheuen,
sie mit zustimmenden Zeugnissen der alten Kirchenlehrer und vor allem des Augustin zu verzieren, so
will ich mit wenigen Worten darlegen, wie verkehrt dies Unterfangen ist. Da nämlich die Zeugnisse
der Alten von gelehrten und frommen Männern zusammengestellt worden sind, so will ich eine
erledigte Sache nicht abermals verhandeln — wer will, mag sie aus ihren Arbeiten entnehmen! Nicht
einmal aus Augustin will ich alles sammeln, was zu dieser Sache beiträgt, sondern ich will mich
damit begnügen, mit wenigen Worten zu zeigen, daß er unstreitig voll und ganz auf unserer Seite
steht. Unsere Widersacher schützen freilich, um ihn uns aus der Hand zu winden, vor, in seinen
Büchern begegne einem immer wieder die Wendung, im Abendmahl werde Fleisch und Blut Christi
ausgeteilt, nämlich das Opfer, das einmal am Kreuze dargebracht worden sei. Aber das ist ein
schwacher Vorwand; denn zugleich nennt er das Abendmahl ein Mahl der Danksagung (eucharistia) und
das Sakrament des Leibes (Christi). Im übrigen ist es nicht notwendig, auf einem langen Umweg
danach zu forschen, in welchem Sinne er die Ausdrücke "Fleisch" und "Blut" verwendet; denn
er legt sich selbst aus, indem er sagt, die Sakramente empfingen ihren Namen auf Grund der
Gleichheit mit den Dingen, die sie bezeichnen, und deshalb sei in einer bestimmten Weise das
Sakrament des Leibes der Leib (Brief 98,9; an Bonifacius). Damit steht eine andere genugsam bekannte
Stelle im Einklang: "Als der Herr das Zeichen (seines Leibes) gab, da trug er kein Bedenken zu
sagen: ‘Das ist mein Leib’" (Gegen Adimantus 12). Fernerhin machen unsere Widersacher den
Einwand, Augustin schreibe doch ausdrücklich, daß der Leib Christi auf die Erde falle und in den
Mund eingehe,— das geschieht (so entgegne ich) eben in dem gleichen Sinne, in dem er behauptet, er
werde verzehrt; denn er verbindet beides miteinander. Dem steht auch nicht entgegen, daß er sagt,
nach dem Vollzug des Geheimnisses (Sakraments) werde das Brot verzehrt (Von der Dreieinigkeit
III,10,19); denn kurz vorher hatte er gesagt: "Da dies den Menschen bekannt ist, weil es ja durch
Menschen vollzogen wird, so kann es als etwas Heiliges Ehre empfangen, aber nicht als etwas
Wunderbares" (ebenda 10,20). Keinen anderen Sinn hat auch ein weiteres Wort, das unsere
Widersacher gar zu unbedacht zu sich herüberziehen, nämlich Christus habe sich gewissermaßen
selbst in den Händen getragen, als er das Brot des Sakraments seinen Jüngern darreichte (zu Psalm
33; 1,10). Denn Augustin macht doch einen Zusatz, der einen Vergleich andeutet ("gewissermaßen"),
und gibt damit genugsam zu verstehen, daß Christus nicht in Wahrheit und Wirklichkeit (non vere nec
realiter) unter dem Brote verschlossen war (vgl. auch ebenda 2,2). Das ist nicht zu verwundern; denn
an anderer Stelle behauptet er offen, daß Leiber, wenn der räumliche Abstand von ihnen weggenommen
wird, nirgendwo mehr bestehen, und weil sie nirgendwo mehr sind, eben überhaupt nicht mehr da sind
(Brief 187; an Dardanus). Inhaltlos ist die Ausflucht, es handle sich an dieser Stelle nicht um das
Abendmahl, in dem Gott eine besondere Kraft wirksam sein lasse. Denn es war die Frage nach dem
Fleisch Christi erhoben worden, und da gab der heilige Mann mit voller Überlegung seine Antwort und
sagte: "Christus hat seinem Fleische Unsterblichkeit verliehen, hat ihm aber seine Natur nicht
weggenommen. Man darf nicht dafür halten, daß er nach dieser Gestalt allenthalben verstreut sei;
denn wir müssen uns hüten, die Gottheit des Menschen (Christus) dergestalt aufzurichten, daß wir
ihm die Wahrheit seines Leibes wegnehmen. Und es ist keine richtige Folgerung, wenn man meint, das,
was in Gott ist, sei allenthalben wie Gott" (ebenda 3,10). Die Ursache dafür läßt Augustin bald
folgen: "Denn diese eine Person ist Gott und Mensch, und der eine Christus ist beides:
allenthalben ist er dadurch, daß er Gott ist, und im Himmel ist er dadurch, daß er Mensch ist"
(ebenda). Wenn nun beim Abendmahl etwas vorhanden gewesen wäre, das der Lehre, die er behandelt
hatte, zuwiderlief — was wäre es dann für eine Nachlässigkeit gewesen, dies Sakrament nicht
(ausdrücklich) auszunehmen, wo es doch eine so ernste und wichtige Sache ist! Unddoch, wenn jemand
aufmerksam liest, was kurz nachher folgt, so wird er finden, daß auch das Abendmahl mit unter die
allgemeine Lehre beschlossen ist: Christus, der der eingeborene Sohn Gottes und auch wiederum der
Sohn des Menschen sei, sei allenthalben ganz gegenwärtig, sofern er Gott sei; im Tempel Gottes, das
heißt in der Kirche, sei er als der darin wohnende Gott anwesend, und andererseits sei er an einer
bestimmten Stelle des Himmels um der Bestehensweise seines wahrhaftigen Leibes willen (ebenda 2-6).
Wir sehen, wie er, um Christus mit der Kirche zu einen, seinen Leib nicht aus dem Himmel hervorholt;
und das hätte er doch sicherlich getan, wenn der Leib Christi nur dann in Wahrheit eine Speise für
uns wäre, wenn er unter dem Brote eingeschlossen wäre. An anderer Stelle legt er dar, in welcher
Weise die Gläubigen jetzt Christus besitzen, und da sagt er: "Du hast ihn durch das Zeichen des
Kreuzes, durch das Sakrament der Taufe und durch die Speise und den Trank am Altar" (Predigten zum
Johannesevangelium 50,12). Ich will keine Erörterung darüber anstellen, wieweit er Recht damit
hat, einen abergläubischen Brauch (das "Zeichen des Kreuzes") unter die Merkzeichen der
Gegenwart Christi zu rechnen; aber wenn einer die Gegenwart des Fleisches (Christi) mit dem Zeichen
des Kreuzes vergleicht, so zeigt er damit genugsam, daß er sich Christus nicht zweileibig ausdenkt,
so daß er also sichtbar im Himmel seinen Sitz hätte und zugleich verborgen unter dem Brote läge.
Bedarf das einer Erläuterung, so sei darauf hingewiesen, daß es unmittelbar darauf heißt, nach
der Gegenwart seiner Majestät hätten wir Christus allezeit, nach der Gegenwart seines Fleisches
aber heiße es mit Recht: "Mich habt ihr nicht allezeit" (Matth. 26,11; ebenda, 13). Unsere
Widersacher behaupten demgegenüber, zugleich werde doch auch hinzugesetzt: "Nach seiner
unaussprechlichen und unsichtbaren Gnade geht in Erfüllung, was von ihm gesagt ist: ‘Ich bin bei
euch alle Tage bis an der Welt Ende’ (Matth. 28,20)" (ebenda). Aber das bringt ihnen keinerlei
Vorteil; denn es wird ausschließlich auf die Majestät beschränkt, die stets dem Leibe
gegenübergestellt wird, auch wird ausdrücklich das Fleisch von der Gnade und Kraft unterschieden.
In der gleichen Weise bekommt man bei Augustin an anderer Stelle die nämliche Gegenüberstellung zu
lesen, wenn es heißt, Christus habe seine Jünger nach seiner leiblichen Gegenwart verlassen, um in
geistlicher Gegenwart bei ihnen zu sein; da ist es deutlich, daß das Wesen des Fleisches von der
Kraft des Geistes unterschieden wird, die uns mit Christus verbindet, während wir sonst um des
räumlichen Abstandes willen weit von ihm entfernt wären. Die nämliche Sprechweise wendet Augustin
häufiger an; so, wenn er sagt: "Nach der Regel des Glaubens und nach der gesunden Lehre wird er
einst in der gleichen Weise in leiblicher Gegenwart zu den Lebendigen und den Toten kommen; denn in
geistlicher Gegenwärtigkeit sollte er sicherlich (ohnehin) zu ihnen kommen und bei der ganzen
Kirche in der Welt sein bis zum Ende der Zeiten (Augustin bezieht sich auf Joh. 17,12). Diese Worte
sind also auf die Gläubigen gerichtet, die er in seiner leiblichen Gegenwart bereits selig zu
machen angefangen hatte, dann aber in leiblicher Abwesenheit verlassen sollte, um sie zusammen mit
dem Vater in geistlicher Gegenwart selig zu machen" (Predigten zum Johannesevangelium 106,2). Wenn
man hier den Ausdruck "leiblich" im Sinne von "sichtbar" versteht, so ist das dummes Zeug;
denn erstens stellt Augustin den Leib der göttlichen Macht gegenüber, und zweitens bringt er auch
durch den Zusatz: "Zusammen mit dem Vater selig zu machen ..." klar zum Ausdruck, daß Christus
seine Gnade vom Himmel her durch den Geist auf uns ausgießt.
IV,17,29 Da nun unsere Widersacher so große Zuversicht auf diesen
Schlupfwinkel der "unsichtbaren Gegenwärtigkeit" (Christi) setzen, wohlan, so wollen wir
zusehen, wie trefflich sie sich darin verstecken! Zunächst: sie bringen nicht eine einzige Silbe
aus der Schrift vor, um damit zu beweisen, daß Christus unsichtbar sei; nein, sie nehmen als
ausgemacht an, was ihnen doch kein gesunddenkender Mensch zugeben wird, nämlich daß Christi Leib
im Abendmahl nicht anders dargereicht werden könne als von der Larve des Brotes bedeckt. Das ist
nun eben der Punkt, um den sie mit uns streiten — es kann also keine Rede davon sein, daß er etwa
die Stelle eines (beiderseits anerkannten) Grundsatzes einnähme. Während sie nun solchermaßen
schwatzen, werden sie genötigt, einen zwiefachen Leib Christi zu denken; denn nach ihrer Meinung
ist der Leib Christi in sich selbst sichtbar im Himmel, im Abendmahl dagegen durch eine bestimmte
Art der Anordnung unsichtbar. Wie "trefflich" sich das aber zusammenreimt, darüber läßt sich
neben anderen Schriftstellen auch aus einem Zeugnis des Petrus leicht ein Urteil gewinnen. Petrus
sagt, daß Christus vom Himmel umfaßt oder auch umschlossen werden muß, bis er abermals kommt
(Apg. 3,21; anders als der Luther, text). Unsere Widersacher dagegen behaupten, Christus sei an
allen Orten, aber ohne Gestalt. Sie erklären, es sei unbillig, die Natur des verklärten Leibes den
Gesetzen der allgemeinen Natur zu unterwerfen. Diese Antwort zieht nun aber jene aberwitzige Meinung
des Servet nach sich, die allen Frommen mit Recht widerwärtig ist, nämlich der Leib (Christi) sei
von seiner Gottheit verschlungen. Ich behaupte nicht, daß unsere Widersacher dieser Ansicht sind;
aber wenn zu den Gaben des verklärten Leibes auch dies gezählt wird, daß er auf unsichtbare Weise
alles erfüllt, so liegt es auf der Hand, daß damit die leibliche Substanz zunichte gemacht und
kein Unterschied zwischen Christi Gottheit und seiner menschlichen Natur mehr übriggelassen wird.
Und dann: wenn der Leib Christi derart vielgestaltig und verschiedenartig ist, daß er an der einen
Stelle in die Erscheinung tritt, an der anderen aber unsichtbar ist — wo bleibt dann eben die
Natur des Leibes, der doch seine bestimmten Abmessungen besitzt? Und wo bleibt die Einheit? Weit
richtiger urteilt Tertullian, der behauptet, Christi Leib sei ein wahrer und natürlicher Leib
gewesen, weil uns im Geheimnis (Sakrament) des Abendmahls sein Bild als Unterpfand und zur
Vergewisserung des geistlichen Lebens vor Augen gehalten werde (Gegen Marcion IV,40). Und es bezog
sich jedenfalls auf den verklärten Leib, als Christus sagte: "Fühlet mich an und sehet; denn ein
Geist hat nicht Fleisch und Bein" (Luk. 24,39). Da sieht man, wie aus Christi eigenem Munde die
Wahrheit seines Fleisches bewiesen wird, und zwar eben daraus, daß man ihn betasten und sehen kann;
nimmt man diese beiden Eigenschaften weg, so hört es sogleich auf, Fleisch zu sein. Unsere
Widersacher nehmen ihre Zuflucht nun immerfort zu dem Schlupfwinkel der (besonderen) "Anordnung"
(dispensatio), die sie sich zurechtgemacht haben. Nun ist es aber unsere Pflicht, das, was Christus
ausdrücklich sagt, dergestalt anzunehmen, daß das, was er bezeugen will, bei uns ohne
Einschränkung seine Gültigkeit hat. Er beweist, daß er kein Gespenst ist, und zwar, weil er in
seinem Fleische sichtbar ist. Wird nun das aufgehoben, was er der Natur seines Leibes als eigen
zuspricht, so muß doch unzweifelhaft eine neue Begriffsbestimmung des "Leibes" ausgedacht
werden! Aber wie sie sich auch im Kreise drehen mögen, so hat ihre ersonnene "Anordnung"
jedenfalls keinen Raum bei jener Paulusstelle, an der der Apostel sagt, daß wir vom Himmel her
unseren Heiland erwarten, "welcher unseren nichtigen Leib verklären wird, daß er ähnlich werde
seinem verklärten Leibe" (Phil.3,20f.). Denn wir sollen danach keine Gleichgestaltung mit jenen
Eigenschaften erwarten, die unsere Widersacher Christus andichten, so daß jeder einen unsichtbaren
und unermeßlichen Leib bekäme! Es wird sich auch keiner finden, der so dumm wäre, daß sie ihn
von einem derartigen Widersinn überzeugen könnten. Also sollen sie dem verklärten Leibe Christi
auch nicht die Gabe zuschreiben, daß er an vielen Orten zugleich sei und keinerlei räumliche
Begrenzung habe. Kurz, sie sollen entweder die Auferstehung des Fleisches offen abstreiten oder aber
zugeben, daß Christus bei seiner Bekleidung mit himmlischer Herrlichkeit das Fleisch nicht abgelegt
hat: er wird uns doch in unserem Fleische zu Teilgenossen und Mitgesellen der nämlichen
Herrlichkeit machen, da wir die Auferstehung einst mit ihm gemeinsam haben sollen. Denn was lehrt
die ganze Schrift deutlicher, als daß Christus, wie er unser wahrhaftiges Fleisch angenommen hat,
als er von der Jungfrau geboren wurde, und in unserem wahrhaftigen Fleische gelitten hat, als er
für uns Genugtuung leistete, so auch bei seiner Auferstehung das nämliche wahrhaftige Fleisch
angenommen und in den Himmel hinauf getragen hat? Denn das ist für uns die Hoffnung auf unsere
Auferstehung und unsere Auffahrt gen Himmel, daß Christus auferstanden und aufgefahren ist und, wie
Tertullian sagt, das Unterpfand unserer Auferstehung mit sich in die Himmel genommen hat (Von der
Auferstehung des Fleisches 51). Wie schwach und gebrechlich würde nun aber diese Hoffnung sein,
wenn nicht eben dies unser Fleisch selbst in Christus wahrhaftig auferweckt worden und in das
Himmelreich eingegangen wäre? Nun ist es aber die dem Leibe eigene Wahrheit, daß er seine
räumliche Begrenzung, seine bestimmten Abmessungen und seine Gestalt besitzt. Fort also mit diesem
törichten Hirngespinst, das sowohl die Sinne der Menschen als auch Christus selber an das Brot
heftet! Denn was soll diese "verborgene Gegenwart Christi unter dem Brote" für einen Sinn
haben, als daß die, welche begehren, daß Christus mit ihnen verbunden sei, nun bei jenem
Merkzeichen stehenbleiben? Der Herr aber hat nicht nur unsere Augen, sondern alle unsere Sinne von
der Erde weg leiten wollen, als er es abschlug, sich von den Frauen berühren zu lassen, ehe er zu
seinem Vater aufgefahren sei (Joh. 20,17). Er sah doch Maria im frommen Eifer der Ehrerbietung
herbeieilen, um seine Füße zu küssen, und wenn er nun diese Berührung mißbilligte und
verhinderte, bevor er in den Himmel aufgenommen sei, so bestand dazu keine andere Ursache, als daß
er eben nirgendwo anders gesucht werden will (als im Himmel). Unsere Widersacher machen hier
freilich den Einwurf, Christus sei doch hernach von Stephanus gesehen worden (Apg. 7,55); aber
darauf ist leicht zu antworten: denn Christus hatte es zu diesem Zweck nicht nötig, seinen Ort zu
wechseln, weil er den Augen seines Knechtes einen Scharfblick zu verleihen vermochte, der auch bis
in die Himmel drang. Das gleiche ist von Paulus zu sagen (dem Christus erschienen ist; Apg. 9,4).
Weiterhin machen sie den Einwand, Christus sei doch aus dem verschlossenen Grabe hervorgegangen
(Matth. 28,6) und durch verschlossene Türen zu seinen Jüngern hereingekommen (Joh. 20,19); aber
auch diese Tatsachen tun ihrem Irrtum ebensowenig Beistand. Denn wie das Wasser gleich einem festen
Estrich wurde und so Christus bei seinem Wandeln über den See einen Weg bot (Matth. 14,25), so ist
es auch kein Wunder, daß sich die Härte des Steins bei seinem Nahen zur Seite bog. Allerdings ist
es eher anzunehmen, daß der Stein auf seinen Befehl aus dem Wege gegangen und dann bald, nachdem er
den Durchgang freigegeben hatte, wieder an seinen Platz zurückgekehrt ist. Und wenn Christus durch
verschlossene Türen gegangen ist, so bedeutet das nicht soviel, als ob er durch den festen Stoff
hindurchgedrungen wäre, sondern es will besagen, daß er sich vermöge göttlicher Kraft den Zugang
eröffnet hat, so daß er plötzlichunter seinen Jüngern stand, und zwar auf eine völlig
wundersame Weise, da die Türen verriegelt waren. Dann führen unsere Widersacher auch noch aus
Lukas an, Christus sei plötzlich vor den Augen der Jünger, mit denen er nach Emmaus gewandert war,
verschwunden (Luk. 24,31); aber das hilft ihnen nichts und gewährt uns Beistand! Denn um ihnen
seinen Anblick zu entziehen, ist er nicht unsichtbar geworden, sondern bloß verschwunden. Ebenso
hat er doch, wie der nämliche Lukas bezeugt, als er mit den beiden Jüngern des Weges ging, nicht
eine neue Gestalt angenommen, um nicht erkannt zu werden, sondern er hat vielmehr " ihre Augen
gehalten" (Luk. 24,16). Unsere Gegner aber geben Christus nicht nur eine andere Gestalt, damit er
sich auf Erden bewege, sondern bilden sich ein, daß er hier ein anderer ist als dort und sich
selber ungleich wird. Kurz, indem sie dergestalt Possenzeug reden, machen sie —zwar nicht mit
einem (ausdrücklichen) Wort, sondern in umschreibender Redeweise — aus dem Fleisch Christi einen
Geist und, damit nicht zufrieden, umkleiden es auch mit völlig entgegengesetzten Eigenschaften.
Daraus ergibt sich dann notwendig, daß es zwiefältig ist.
IV,17,30 Aber wenn wir ihnen nun auch zugeben, was sie von der unsichtbaren
Gegenwart (des Leibes Christi) schwatzen, so ist damit noch nicht seine Unermeßlichkeit erwiesen,
ohne die ihr Versuch, Christus unter das Brot zu verschließen, vergeblich sein muß. Wenn Christi
Leib nicht ohne alle räumliche Umgrenzung an jeglichem Orte zugleich sein kann, so wird es nicht
glaubhaft sein, daß er unter dem Brote im Abendmahl verborgen liegt. Aus dieser Nötigung heraus
haben sie dann die ungeheuerliche "Allgegenwärtigkeit" (ubiquitas, Allenthalbenheit)
aufgebracht. Nun haben wir aber auf Grund von sicheren und klaren Zeugnissen der Schrift erwiesen,
daß Christi Leib nach dem Maß eines menschlichen Leibes seine Grenzen hat, und ferner, daß er
durch seine Auffahrt zum Himmel offenkundig gemacht hat, daß er nicht an allen Orten ist, sondern,
indem er an den einen sich begibt, den anderen verläßt. Auch ist die Verheißung, die unsere
Widersacher anführen: "Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende" (Matth. 28,20) —
nicht auf seinen Leib zu beziehen. Zunächst würde sonst die immerwährende Verbindung (Christi mit
uns, von der dort die Rede ist) keinen Bestand haben, wofern Christus nicht auch außerhalb der
Übung des Abendmahls leiblich in uns wohnte; deshalb besteht also gar kein rechter Grund, weshalb
sie so heftig um die Worte Christi streiten, um Christus (bloß) im Abendmahl unter das Brot zu
verschließen. Ferner beweist der Zusammenhang der Stelle, daß Christus nichts weniger tut, als von
seinem Fleisch zu sprechen, sondern daß er vielmehr seinen Jüngern unbesiegbaren Beistand
verheißt, um sie gegen alle Anläufe des Satans und der Welt zu schützen und zu erhalten. Denn er
übertrug ihnen eine schwere Aufgabe, und damit sie nun keine Bedenken haben sollten, sie in die
Hand zu nehmen, und sie auch nicht unter Furcht und Zittern auf sich nähmen, so stärkte er sie mit
der Zuversicht auf seine Gegenwart, als wenn er gesagt hätte, es solle ihnen sein Schutz, der doch
unüberwindlich sein wird, nicht abgehen. Hätten unsere Widersacher nicht, wofern sie nicht alles
durcheinanderwerfen wollen, die Art und Weise solcher Gegenwart Christi genau bestimmen müssen?
Wahrhaftig, es gibt manche, die lieber unter großer Schande ihre Unkenntnis an den Tag legen wollen
als auch nur im mindesten von ihrem Irrtum weichen. Ich rede nicht von den Papisten; denn deren
Lehre ist erträglicher oder wenigstens bescheidener; nein, manche lassen sich vom Streit dermaßen
hinreißen, daß sie behaupten, um der in Christus geeinten Naturen willen sei überall, wo die
Gottheit Christi sei, auch sein Fleisch, das von ihr nicht getrennt werden könne. Als ob nun jene
Einung aus den zwei Naturen ich weiß nicht was für ein Mittel-ding zusammengeschmiedet hätte, das
weder Gott noch Mensch wäre! So hat allerdings Eutyches gelehrt und nach ihm Servet. Aus der
Schrift aber ergibt sich klar, daß die einige Person Christi dergestalt aus zwei Naturen besteht,
daß doch jede ihre Eigenart unverkürzt behält. Diese Leute werden sich nun schämen zu leugnen,
daß Eutyches mit Recht verurteilt worden ist; verwunderlich ist nur, daß sie nicht auf die Ursache
dieser Verurteilung achten, die doch darin bestand, daß Eutyches den Unterschied zwischen den
beiden Naturen aufhob, auf der Einheit der Person scharf bestand und dadurch aus Gott einen Menschen
und aus dem Menschen Gott machte. Was für eine Torheit bezeugt es also, wenn man lieber Himmel und
Erde miteinander vermengt, als daß man darauf verzichtet, Christi Leib aus dem himmlischen
Heiligtum herauszuziehen! Sie führen freilich Schriftzeugnisse für sich an; so das Wort: "Niemand
fährt gen Himmel, denn der vom Himmel herniedergekommen ist, nämlich des Menschen Sohn, der im
Himmel ist" (Joh. 3,13), oder auch: "Der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat
es uns verkündigt" (Joh. 1,18). Aber darin zeigt sich die nämliche Torheit, wie wenn man das
gemeinsame Teilhaben an den Eigenschaften (idiomatum koinonian) verachtet, eine Lehre, die einst
nicht umsonst von den heiligen Vätern aufgebracht worden ist. Jedenfalls ist es doch so: wenn es
heißt, "der Herr der Herrlichkeit" sei "gekreuzigt" worden (1. Kor. 2,8), so meint Paulus
damit nicht, daß Christus in seiner Gottheit irgend etwas erlitten hätte, nein, er redet so, weil
Christus, der als ein Verworfener und Verachteter im Fleische gelitten hat, doch zugleich Gott war
und der Herr der Herrlichkeit. In diesem Sinne war auch "des Menschen Sohn im Himmel" (Joh.
3,13): es war eben der nämliche Christus selber, der nach dem Fleische als des Menschen Sohn auf
Erden wohnte, zugleich Gott im Himmel. Aus diesem Grunde heißt es an der nämlichen Stelle auch, er
sei nach seiner Gottheit "herniedergekommen" — nicht daß die Gottheit den Himmel verlassen
hätte, um sich in dem Knechthaus des Leibes zu verbergen, sondern weil sie, obwohl sie alles
erfüllte, doch eben in der Menschheit Christi leiblich, und das heißt: natürlich, und auf eine
unaussprechliche Weise wohnte. In den Schulen besteht eine gebräuchliche Unterscheidung, die ich
mich nicht schäme wiederzugeben. Obgleich der ganze Christus allenthalben ist, so ist doch nicht
all das, was in ihm ist, allenthalben. Und ich möchte wünschen, daß die Schultheologen
(Scholastiker) selbst die Bedeutung dieses Satzes recht erwogen hätten; denn dann wäre man dem
törichten Hirngespinst von der leiblichen Gegegenwart Christi (im Abendmahl) entgegengetreten. Da
also unser Mittler ganz allenthalben ist, so ist er stets bei den Seinen gegenwärtig und erweist
sich im Abendmahl auf besondere Weise als anwesend — aber doch so, daß er als Person ganz (totus)
gegenwärtig ist, nicht aber nach seinen beiden Naturen (totum); denn, wie gesagt, in seinem
Fleische wird er vom Himmel umschlossen, bis er zum Gericht erscheint.
IV,17,31 Schwer täuschen sich aber diejenigen, die beim Abendmahl keinerlei
Gegenwart des Fleisches Christi annehmen, wofern sie nicht an das Brot gebunden ist. Denn damit
lassen sie dem verborgenen Wirken des Geistes, das Christus selber mit uns eint, nichts übrig.
Christus scheint diesen Leuten nur dann gegenwärtig zu sein, wenn er zu uns herniedersteigt. Als ob
wir nun seine Gegenwart nicht gleichermaßen ergriffen, wenn er uns zu sich emporführt! Die Frage
geht also nur um die Art und Weise (solcher Gegenwart Christi): unsere Widersacher denken Christus
im Brote räumlich anwesend, wir dagegen meinen, daß es uns nicht erlaubt ist, ihn aus dem Himmel
hervorzuziehen. Nun mögen die Leser darüber urteilen, was richtiger ist. Fort jedoch mit jener
Schmähung, Christus werde aus seinem Abendmahl weggenommen, wenn er nicht unter der Hülle des
Brotes ver-borgen liege. Denn da dieses Geheimnis (Sakrament) himmlisch ist, so besteht keine
Notwendigkeit, Christus auf die Erde zu holen, damit er mit uns verbunden sei!
IV,17,32 Wenn mich nun jemand nach der Art und Weise (solcher Gegenwart
Christi) fragt, so gebe ich ungescheut zu, daß dies Geheimnis zu erhaben ist, um mit meinem
Verstand erfaßt oder mit Worten ausgedrückt zu werden, und, um es offenbar zu sagen: ich erfahre
es mehr, als daß ich es begreife! Deshalb nehme ich hier die Wahrheit Gottes, auf die man sich
sicher verlassen kann, ohne Widerrede an. Christus spricht es aus, daß sein Fleisch die Speise für
meine Seele ist und sein Blut der Trank (Joh. 6,53ff.). So biete ich ihm denn meine Seele dar, daß
er sie mit solcher Nahrung speise: In seinem heiligen Abendmahl gebietet er mir, unter den
Merkzeichen von Brot und Wein seinen Leib und sein Blut zu empfangen, zu essen und zu trinken. So
zweifle ich denn nicht daran, daß er sie mir in Wahrheit darreicht und ich sie in Wahrheit
empfange. Ich verwerfe nur widersinnige Anschauungen, die entweder der himmlischen Majestät Christi
offenkundig unwürdig sind oder offenbar zu der Wahrheit seiner menschlichen Natur im Widerspruch
stehen; denn diese Anschauungen stehen auch notwendig im Gegensatz zum Worte Gottes, das einerseits
lehrt, wie Christus dergestalt in die Herrlichkeit des Himmelreiches ausgenommen ist (Luk. 24,26),
daß er damit weit über allen Zuständigkeiten der Welt steht, und das andererseits nicht weniger
nachdrücklich an seiner menschlichen Natur das preist, was der wahren Menschheit eigen ist. Es darf
auch nicht den Anschein haben, als ob das unglaubwürdig sei oder im Gegensatz zur Vernunft stünde;
denn wie das ganze Reich Christi geistlich ist, so darf auch alles, was er an seiner Kirche wirkt,
durchaus nicht nach der Weise dieser Welt bemessen werden. Oder, um Augustins Worte zu gebrauchen:
dies Geheimnis (Sakrament) wird, wie die übrigen, durch den Menschen verwaltet, aber von Gott aus,
es wird auf der Erde verwaltet, aber vom Himmel her. Diese Gegenwart des Leibes (Christi), sage ich,
ist so beschaffen, wie sie die Art des Sakraments erfordert, und sie tritt, so behaupten wir, dabei
mit solcher Kraft und Wirkgewalt hervor, daß sie nicht nur unseren Seelen eine dem Zweifel
entnommene Zuversicht auf das ewige Leben verschafft, sondern uns auch der Unsterblichkeit unseres
Fleisches gewiß macht. Denn unser Fleisch wird doch bereits von seinem unsterblichen Fleische
lebendig gemacht und es nimmt gewissermaßen an seiner Unsterblichkeit Anteil (vgl. Irenäus, Gegen
die Ketzereien IV,18,5). Wer in seinen Übertreibungen darüber hinausgeht, der tut nichts anderes,
als daß er mit solchen Verhüllungen die schlichte und deutliche Wahrheit verdunkelt. Wenn jemand
noch nicht befriedigt ist, so möchte ich, er würde ein wenig mit mir erwägen, daß hier von einem
Sakrament die Rede ist und daß alles, was dazu gehört, auf den Glauben bezogen werden muß. Den
Glauben aber nähren wir mit dem von uns dargelegten Anteilhaben am Leibe (Christi) nicht weniger
köstlich und reichlich als jene, die Christus selbst vom Himmel herunterziehen. Indessen gebe ich
freimütig zu, daß ich die Vermischung des Fleisches Christi mit unserer Seele oder das
Überfließen, wie es unsere Widersacher lehren, verwerfe; denn es genügt uns, daß Christus aus
der Substanz seines Fleisches heraus unseren Seelen das Leben einhaucht, ja, daß er sein eigenes
Leben in uns überfließen läßt — wenn auch das Fleisch Christi selbst nicht in uns übergeht.
Zudem unterliegt es auch keinem Zweifel, daß das Entsprechungsmaß des Glaubens (fidei analogia),
nach dem Paulus jegliche Auslegung der Schrift zu richten gebietet (Röm. 12,3), mir in diesem
Stück herrlich zur Seite steht. Wer der so deutlich sichtbaren Wahrheit widerspricht, der mag
zusehen, nach welchem Maß des Glaubens er sich richte. Wer "nicht bekennt, daß Jesus Christus
ist in das Fleisch gekommen, der ist nicht von Gott" (1. Joh. 4,3)! Unsere Widersacheraber rauben
Christus sein Fleisch — ob sie es sich auch verhehlen oder nicht darauf achten.
IV,17,33 In der gleichen Weise ist über das Teilhaben (an Christus) zu
urteilen. Unsere Gegner erkennen ein solches nicht an, wofern sie das Fleisch Christi nicht unter
(mit) dem Brote herunterschlucken. Nun geschieht aber dem Heiligen Geiste kein geringes Unrecht,
wenn wir nicht glauben, dass es durch seine unbegreifliche Kraft bewirkt wird, daß wir mit Christi
Fleisch und Blut Gemeinschaft haben. Ja, wenn man die Kraft des Geheimnisses (Sakraments), wie sie
von uns gelehrt wird und wie sie der Alten Kirche in den ersten vierhundert Jahren bekannt war, nach
Gebühr erwogen hätte, so hätten wir mehr als genug Grund, uns zufriedenzugeben. Dann wäre auch
zahlreichen greulichen Irrtümern die Tür verschlossen worden, an denen sich furchtbare
Zwistigkeiten entzündet haben, von denen in alter Zeit wie auch in unseren Tagen die Kirche elend
gequält worden ist. Haben doch vorwitzige Menschen eine übertriebene Art von Gegenwart (des Leibes
Christi) durchsetzen wollen, wie sie die Schrift nie und nimmer aufzeigt. Und diese Menschen machen
um solch töricht und unbesonnen erdachter Sache willen einen derartigen Aufruhr, als ob das
Eingeschlossensein Christi unter dem Brote Kern und Stern der Frömmigkeit wäre, wie man sagt. Es
kam doch in erster Linie darauf an, daß man wußte, wie Christi Leib, wie er einmal für uns
dahingegeben worden ist, unser eigen wird, und wie wir des Blutes teilhaftig werden, das er
vergossen hat; denn das heißt ja den ganzen gekreuzigten Christus besitzen, damit wir aller seiner
Güter genießen. Nun aber läßt man diese Fragen, die doch so große Bedeutung haben, beiseite, ja
man übergeht sie und läßt sie schier begraben sein — und hat nur an der einen spitzfindigen
Frage seine Freude, wieso denn unter dem Brote oder unter der "Gestalt" des Brotes der Leib
Christi verborgen sei! Es ist falsch, wenn solche Leute behaupten, alles, was wir über das
geistliche Essen lehren, das stehe im Gegensatz zu dem wahrhaftigen und wesenhaften, wie sie es
nennen. Denn wir haben dabei ausschließlich die Art und Weise im Auge, und die ist bei ihnen
fleischlich, indem sie Christus in das Brot einschließen, nach unserer Anschauung aber geistlich,
weil die verborgene Kraft des Heiligen Geistes das Band ist, das uns mit Christus verbunden sein
läßt. Ebensowenig wahrheitsgemäß ist auch der andere Einwurf, wir deuteten bloß die Frucht oder
die Wirkung an, die den Gläubigen aus dem Essen des Fleisches Christi zuteil würde. Denn wir haben
oben bereits gesagt, daß Christus selbst die zugrunde liegende Wirkursache (materia) des Abendmahls
ist und daß dann daraus die Wirkung folgt, daß wir durch das Opfer seines Todes die Reinigung von
unseren Sünden, durch sein Blut die Abwaschung empfangen und durch seine Auferstehung zur Hoffnung
auf das himmlische Leben aufgerichtet werden. Nein, ihre Sinne werden von jener törichten
Einbildung verdreht, deren Urheber der Lombarde ist, indem sie nämlich meinen, das Essen des
Fleisches Christi sei das Sakrament. Denn Petrus Lombardus sagt: "Das Sakrament ohne die Sache ist
die Gestalt des Brotes und Weines; das Sakrament zusammen mit der (in ihm gegebenen) Sache, das ist
das Fleisch und Blut Christi; die Sache ohne das Sakrament, das ist sein verborgenes Fleisch"
(Sentenzen IV,8,4). Und kurz danach heißt es ebenso: "Die Sache, die (im Sakrament) zeichenhaft
veranschaulicht und zugleich enthalten ist, das ist Christi eigenes Fleisch; die Sache aber, die
zwar zeichenhaft veranschaulicht, aber nicht darin enthalten ist, das ist Christi geheimnisvoller
Leib" (ebenda, aber etwas vorher). Daß er zwischen dem Fleisch Christi und der ihm verliehenen
Wirkkraft zur Nahrung unterscheidet, bejahe ich; daß er aber so tut, als ob dies Fleisch das
Sakrament wäre, und zwar unter dem Brote enthalten, das ist ein untragbarer Irrtum.Daraus ist dann
eine falsche Deutung des "Essens beim Sakrament" (sacramentalis manducatio) erwachsen: man hat
nämlich gemeint, auch die Gottlosen und Lasterhaften genössen den Leib Christi, wie fremd sie ihm
auch sein mochten. Tatsächlich aber ist doch das Fleisch Christi im Geheimnis (Sakrament) des
Abendmahls eine nicht weniger geistliche Sache als die ewige Seligkeit. Daraus ziehen wir die
Folgerung, daß alle, die des Geistes Christi ledig sind, das Fleisch Christi ebensowenig zu essen
vermögen, wie sie Wein trinken können, der nicht zugleich auch Geschmack hätte. Jedenfalls wird
Christus gar zu unwürdig in Stücke zerrissen, wenn sein Leib als etwas Totes und Kraftloses den
Ungläubigen preisgegeben wird. Auch stehen dazu Christi ausdrückliche Worte im Widerspruch: "Wer
mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm" (Joh. 6,56). Unsere
Widersacher behaupten demgegenüber, es handle sich an dieser Stelle nicht um das Essen im
Sakrament. Das gebe ich meinerseits zu — wenn sie nur nicht immer wieder an den nämlichen Stein
stießen (und behaupteten), das Fleisch Christi werde (in solchem Falle) ohne jegliche Frucht
genossen (was abzulehnen wäre)! Ich möchte nun aber gern von ihnen erfahren, wie lange sie dies
"Fleisch" in sich behalten, wenn sie es gegessen haben. Hier werden sie nach meinem Dafürhalten
keinen Ausweg finden. Sie machen aber den Einwand, durch die Undankbarkeit der Menschen könne der
Zuverlässigkeit der Verheißungen Gottes keinerlei Eintrag oder Abbruch geschehen. Das gebe ich
allerdings zu, und ich behaupte, daß die Kraft des Geheimnisses (Sakraments) unverkürzt erhalten
bleibt, so sehr auch die Gottlosen, soviel an ihnen ist, bemüht sind, sie zunichte zu machen. Aber
es ist etwas anderes, ob etwas angeboten oder ob es angenommen wird! Christus reicht diese
geistliche Speise allen dar, allen bietet er diesen geistlichen Trank. Die einen nehmen sie mit
heißem Verlangen in sich auf, die anderen weisen sie hoffärtig von sich. Soll nun die
Zurückweisung, die solche Leute üben, etwa die Wirkung haben, daß Speise und Trank ihre Natur
verlieren? Unsere Gegner werden sagen, dieser Vergleich diene ihrer Ansicht als Stütze, nämlich
daß Christi Fleisch, auch wenn es seinen Geschmack verlöre, nichtsdestoweniger Fleisch sei. Ich
behaupte jedoch, daß es nicht ohne das Schmecken des Glaubens genossen werden kann, oder — wenn
ich lieber mit Augustins Worten reden soll — ich bestreite, daß der Mensch aus dem Sakrament mehr
bekommt, als er mit dem Gefäß des Glaubens aufnimmt. So geschieht dem Sakrament keinerlei Abbruch,
nein, seine Wahrheit und Wirkkraft bleibt unverkürzt, mögen auch die Gottlosen von dem
äußerlichen Teilhaben an ihm leer davongehen. Sie machen aber wiederum den Einwand: wenn die
Gottlosen (beim Abendmahl) bloß verderbliches Brot empfingen und sonst nichts, so werde damit dem
Worte Eintrag getan: "Das ist mein Leib." Da liegt aber die Antwort schon bereit: Nicht im
Empfangen will Gott als wahrhaftig erkannt werden, sondern in der Beständigkeit seiner Güte, in
der er bereit ist, Unwürdigen zu geben, was sie doch verwerfen, ja, in der er es ihnen freigebig
darreicht. Und das ist die Unverkürztheit des Sakraments, die die ganze Welt nicht zu verletzen
vermag: daß Christi Fleisch und Blut den Unwürdigen nicht weniger wahrhaftig gegeben wird als den
auserwählten Gläubigen Gottes. Zugleich aber ist doch auch dies wahr: wie der Regen, der auf einen
harten Felsen niederströmt, sich verläuft, weil ihm kein Weg offensteht, um in das Gestein
einzudringen, so stoßen die Gottlosen in ihrer Härtigkeit die Gnade Gottes von sich, so daß sie
nicht zu ihnen dringt. Zudem ist es ebensowenig sinngemäß, daß Christus ohne den Glauben
empfangen würde, wie daß Samen im Feuer keimt.Sie fragen nun, wieso denn Christus manchen Menschen
zur Verdammnis gekommen sein sollte, wenn sie ihn eben nicht unwürdig aufgenommen hätten; aber das
ist ohne Inhalt; denn wir lesen nirgendwo, daß sich die Menschen den Tod zuziehen, indem sie
Christus unwürdig in sich aufnehmen, das geschieht vielmehr dadurch, daß sie ihn verwerfen. Nichts
hilft ihnen auch das Gleichnis Christi, in dem er sagt, der Same gehe unter den Dornen auf, werde
dann aber erstickt und verderbe (Matth. 13,7); denn Christus spricht hier davon, was für einen Wert
der zeitweilige Glaube hat — und die Leute, die in diesem Stück den Judas auf einer Stufe zum
Mitgesellen des Petrus machen, sind ja nicht der Ansicht, daß (auch nur) ein solcher Glaube
erforderlich sei, um Christi Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken. Ja, das nämliche Gleichnis
dient vielmehr zur Widerlegung ihres Irrtums, wenn Christus da sagt, der eine Same falle auf den
Weg, der andere auf steiniges Land, und keiner von beiden treibe Wurzeln (Matth. 13,4f.). Daraus
ergibt sich doch, daß die Ungläubigen durch ihre Härtigkeit daran gehindert werden, daß Christus
zu ihnen kommt. Wer auch immer begehrt, daß unser Heil durch dies Geheimnis (Sakrament) eine
Stütze empfange, der wird nichts Angemesseneres finden, als daß die Gläubigen zu dem Brunnquell
geleitet werden und das Leben schöpfen aus dem Sohne Gottes. Die Würde dieses Sakraments wird aber
herrlich genug gepriesen, wenn wir daran festhalten, daß es ein Hilfsmittel ist, vermöge dessen
wir in den Leib Christi eingefügt werden oder als solche, die in ihn eingeleibt sind, mehr und mehr
mit ihm zusammenwachsen, bis er uns im himmlischen Leben voll und ganz mit sich eint. Unsere
Widersacher aber werfen ein, Paulus hätte doch jene Menschen (in Korinth) nicht für "schuldig an
dem Leib und Blut des Herrn" erklären dürfen (1. Kor. 11,27), wenn sie deren gar nicht
teilhaftig geworden wären. Da antworte ich aber: sie werden gar nicht verurteilt, weil sie gegessen
haben, sondern nur, weil sie das Geheimnis (Sakrament) entweiht haben, indem sie das Unterpfand
unserer heiligen Verbindung mit Gott, das sie in Ehrfurcht hätten empfangen müssen, mit Füßen
traten.
IV,17,34 Da nun aber unter, den alten Schriftstellern vor allem Augustin
jenes Lehrstück verteidigt hat, daß durch den Unglauben und die Bosheit der Menschen den
Sakramenten kein Eintrag geschieht und die Gnade, die sie veranschaulichen, dadurch nicht entleert
wird, so wird es von Nutzen sein, aus seinen Worten deutlich nachzuweisen, wie töricht und verkehrt
es ist, wenn Leute, die Christi Leib den Hunden zum Fressen vorwerfen, jenes Lehrstück auf die hier
verhandelte Sache beziehen. Das Essen beim Sakrament (sacramentalis manducatio) ist nach ihrer
Meinung von der Art, daß damit die Gottlosen ohne die Kraft des Heiligen Geistes und ohne jegliche
Wirkung der Gnade Leib und Blut Christi empfangen. Anders Augustin; er erwägt weislich die Worte:
"Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der wird nicht sterben in Ewigkeit" (Joh.
6,50.54; ungenau) und sagt: "(Das ist) eben der, der die Kraft des Sakraments genießt, nicht nur
das sichtbare Sakrament, und zwar innerlich, nicht äußerlich, der es mit dem Herzen genießt und
nicht der, der es zwischen den Zähnen zerdrückt" (Predigten zum Johannesevangelium 26,12). Von
da aus kommt er schließlich zu dem Ergebnis, das Sakrament (als Zeichen) dieser Sache, das heißt
der Einheit des Leibes und Blutes Christi, werde im Herrnmahl dargegeben, und zwar einigen zum
Leben, anderen zum Verderben, — die Sache selber aber, die das Sakrament darstellt, werde allen,
sofern sie ihrer teilhaftig würden, zum Leben, niemandem aber zum Verderben gegeben (ebenda 26,15).
Damit nun hier niemand die Ausflucht macht, als "Sache" werde dabei nicht der Leib (des Herrn),
sondern vielmehr die Gnade des Heiligen Geistes bezeichnet, die sich von dem Leibe trennen lasse, so
werden diese Nebelwolken durch die Gegenüberstellung der Beiwörter "sichtbar" und "unsichtbar"
zerstreut, denn unter dem ersteren kann nicht der Leib Christi verstanden werden (ebenda 26,11f.).
Daraus ergibt sich, daß die Ungläubigen allein an dem sichtbaren Merkzeichen Anteil haben. Und um
den Zweifel desto besser zu beheben, sagt er zunächst, dies Brot suche den Hunger des inwendigen
Menschen, und fährt dann fort: "Mose, Aaron und Pinehas und viele andere, die das Manna aßen,
haben Gottes Wohlgefallen gehabt (Ex. 16,14ff.). Warum? Weil sie die sichtbare Speise geistlich
verstanden, geistlich nach ihr gehungert, geistlich von ihr gekostet haben, um geistlich gesättigt
zu werden. Denn auch wir haben heute eine sichtbare Speise empfangen, aber etwas anderes ist das
Sakrament und etwas anderes die Kraft des Sakraments" (ebenda 26,11). Kurz danach heißt es: "Und
daher kommt es, daß der, der nicht in Christus bleibt und in dem Christus nicht bleibt,
unzweifelhaft auch nicht geistlich sein Fleisch genießt und sein Blut trinkt, mag er das
Merkzeichen des Leibes und Blutes auch fleischlich und sichtbar zwischen den Zähnen zerdrücken"
(ebenda 26,19). Da hören wir, wie er abermals das sichtbare Zeichen und das geistliche Essen
einander gegenüberstellt. Damit wird jener Irrtum widerlegt, wonach der unsichtbare Leib Christi in
sakramentaler Weise wirklich gegessen wird, wenn auch nicht geistlich. Wir hören ebenfalls, wie den
Unheiligen und Unreinen nichts zugestanden wird als das sichtbare Empfangen des Zeichens. Daher
kommt sein berühmtes Wort, die übrigen Jünger hätten das Brot und damit den Herrn gegessen,
Judas dagegen (bloß) das Brot des Herrn (Predigten zum Johannesevangelium 59,1). Damit schließt er
die Ungläubigen klar und deutlich vom Teilhaben an Fleisch und Blut (Christi) aus. Den gleichen
Sinn hat es, wenn er an anderer Stelle sagt: "Was verwunderst du dich, wenn dem Judas das Brot
Christi gegeben worden ist, durch das er an den Teufel verknechtet werden sollte, wo du doch siehst,
daß auf der anderen Seite dem Paulus ein Engel des Teufels gegeben worden ist, damit er durch
diesen in Christus vollkommen gemacht würde;" (2. Kor. 12,7; Augustin, Predigten zum
Johannesevangelium 62,1). Er sagt freilich an anderer Stelle, für jene Menschen, zu denen Paulus
sagte: "Welcher unwürdig isset und trinket, der isset und trinket sich selber zum Gericht" (1.
Kor. 11,29), sei das Brot des Abendmahls der Leib Christi gewesen, und sie hätten deshalb, weil sie
es übel empfangen hätten, nicht etwa nichts empfangen (Von der Taufe gegen die Donatisten V,8,9).
Aber in welchem Sinne er das meint, das setzt er ausführlicher an einer anderen Stelle auseinander.
Da macht er sich daran, mit Überlegung festzustellen, in welcher Weise die Bösen und Lasterhaften,
die den christlichen Glauben mit dem Munde bekennen, aber mit ihren Taten ableugnen, den Leib
Christi genießen, und zwar redet er da gegen die Meinung einiger Leute, die der Ansicht waren,
solche Menschen äßen nicht nur im Sakrament, sondern in Wirklichkeit (den Leib Christi), und dabei
sagt er: "aber auch von diesen Menschen darf man nicht sagen, daß sie den Leib Christi genießen;
denn sie sind nicht zu den Gliedern Christi zu zählen. Um nämlich von anderem zu schweigen,
können sie nicht zugleich Glieder Christi und Glieder einer Hure sein (1. Kor. 6,15). Und
schließlich sagt der Herr doch selbst: ‘Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der bleibt
in mir und ich in ihm’ (Joh. 6,56), und damit zeigt er, was es heißt, nicht nur im Bezug auf das
Sakrament, sondern in Wirklichkeit den Leib Christi zu essen: das heißt nämlich, daß einer in
Christus bleibt, damit Christus in ihm bleibt. Denn der Herr hat das so gesagt, als wenn er sich
ausdrückte: Wer nicht in mir bleibt und in wem ich nicht bleibe, der soll nicht sagen oder meinen,
er äße meinen Leib oder tränke mein Blut" (Vom Gottesstaat XXI,25). Der Leser möge die
Gegenüberstellung bedenken: "mit Bezug auf das Sakrament" und "in Wirklichkeit" — dann
wird kein Zweifel mehr übrigbleiben. Das gleiche be-kräftigt Augustin nicht weniger deutlich mit
den Worten: "Bereitet nicht euren Schlund, sondern euer Herz; denn um seinetwilIen ist uns dies
Abendmahl anbefohlen. Siehe, wir glauben an Christus, und dabei empfangen wir ihn im Glauben; über
unserem Empfangen wissen wir, was wir bedenken, wir empfangen ein wenig und werden (doch) in unserem
Herzen satt gemacht: also nährt uns nicht das, was gesehen, sondern das, was geglaubt wird"
(Predigt 112,5). Auch hier beschränkt er das, was die Gottlosen empfangen, auf das sichtbare
Zeichen und lehrt, daß man Christus nicht anders empfängt als im Glauben. So geschieht es
ebenfalls an einer anderen Stelle: da erklärt er ausdrücklich, daß Gute und Böse an den Zeichen
Anteil haben, schließt aber die letzteren von dem wahren Genuß des Fleisches Christi aus (Gegen
den Manichäer Faustus XIII,16). Wenn sie nämlich die Sache selbst empfingen, so würde er nicht
voll und ganz davon schweigen; denn zu seiner Sache hätte es (anders) besser gepaßt. Auch an einer
anderen Stelle, wo er von dem Essen und von dessen Frucht redet, kommt er zu folgendem Ergebnis: "Christi
Fleisch und Blut wird dann für einen jeglichen das Leben sein, wenn das, was im Sakrament sichtbar
genommen wird, in Wahrheit geistlich gegessen und geistlich getrunken wird" (Predigt 131,1).
Wollen also die, welche die Ungläubigen des Fleisches und Blutes teilhaftig machen, mit Augustin
übereinkommen, so sollen sie uns den sichtbaren Leib Christi vorweisen; denn nach Augustin ist die
ganze Wahrheit geistlich. Und es ergibt sich aus seinen Worten mit Sicherheit der Schluß, daß das
Essen im Sakrament, wo der Unglaube der Wahrheit den Zutritt versperrt, ebensoviel bedeutet wie das
sichtbare und äußerliche Essen. Anderwärts lehrt er: "Nicht diesen Leib, den ihr seht, werdet
ihr essen, und nicht das Blut, das die vergießen, die mich kreuzigen, werdet ihr trinken. Ein
Sakrament habe ich euch anbefohlen, und wenn ihr es geistlich versteht, so wird es euch lebendig
machen" (zu Psalm 98,9). Was sollten diese Worte wohl für einen Sinn haben, wenn der Leib Christi
in Wahrheit, aber (zugleich) doch nicht geistlich genossen werden könnte? Er hat sicherlich nicht
bestreiten wollen, daß der nämliche Leib, den Christus zum Opfer dargebracht hat, im Abendmahl
gereicht wird, sondern er hat die Art und Weise solchen Essens gekennzeichnet, insofern uns nämlich
der Leib, in die himmlische Herrlichkeit aufgenommen, in der verborgenen Kraft des Heiligen Geistes
das Leben einhaucht. Ich gebe zwar zu, daß bei Augustin mehrfach die Redeweise vorkommt, der Leib
Christi werde von den Ungläubigen gegessen; aber er legt selbst aus, was er meint, indem er
zufügt: "Im Sakrament" (Predigten zum Johannesevangelium 27,11). Und an anderer Stelle
beschreibt er die geistliche Nießung dergestalt, daß in ihr unsere Bisse nicht etwa die Gnade
verzehren (Predigten zum Johannesevangelium 27,3). Damit nun unsere Widersacher nicht sagen, ich
führte meinen Streit (nur) mit der großen Menge (der Zeugnisse), so möchte ich gerne wissen,
wieso sie sich jenem einen Ausspruch des Augustin entwinden wollen, wo es heißt, die Sakramente
bewirkten das, was sie veranschaulichten, allein in den Auserwählten. Unzweifelhaft werden sie
nicht zu leugnen wagen, daß bei dem Abendmahl das Brot den Leib Christi darstellt. Daraus ergibt
sich, daß die Verworfenen vom Teilhaben an diesem ferngehalten werden. Auch Cyrill hat nicht anders
geurteilt; das geben uns seine Worte zu erkennen: "Wenn man in flüssig gewordenes Wachs anderes
Wachs hineingießt, so vermengt man beide völlig miteinander; genau so ist es, wenn jemand Fleisch
und Blut des Herrn empfängt: er wird notwendig mit ihm verbunden, so daß Christus in ihm und er in
Christus erfunden wird" (zu Joh. 6,57). Aus diesen Worten geht nach meinem Dafürhalten deutlich
hervor, daß diejenigen, welche den Leib Christi bloß in der Weise des Sakramentsgenusses essen,
der wahren und wirklichen Nießung verlustig sind, weil Christi Leib von seiner Kraft nicht zu
scheiden ist; zugleich ergibt sich, daß dadurch die Zuverlässigkeit der Verheißungen Gottes nicht
ins Wanken gerät, der ja nicht aufhört, vom Himmel herab regnen zu lassen, mögen auch die Steine
und Felsen die Feuchtigkeit solchen Regens nicht in sich aufnehmen.
IV,17,35 Diese Einsicht wird uns auch leicht von der fleischlichen Anbetung
abbringen, die manche Leute in verkehrter Unbesonnenheit bei dem Sakrament aufgebracht haben, und
zwar, weil sie in ihrem Herzen die Überlegung anstellten: ist das hier der Leib Christi, dann sind
also zusammen mit dem Leibe auch seine Seele und seine Gottheit vorhanden, die nicht mehr von ihm
getrennt werden können; daher ist Christus im Sakrament anzubeten. Zunächst: was wollen diese
Leute machen, wenn man ihnen ihr "stetes Beieinandersein" (concomitantia), das sie als Vorwand
brauchen, bestreitet? Denn sie mögen noch so scharf darauf dringen, es sei ein Widersinn, wenn man
Christi Leib von seiner Seele und Gottheit trennte, so möchte ich doch wissen, welcher
gesundsinnige und nüchterne Mensch sich weismachen lassen sollte, Christi Leib sei Christus! Sie
meinen zwar, sie brächten das mit ihren Schlußfolgerungen trefflich zuwege. Nun redet aber
Christus von seinem Leib und Blut in unterschiedlicher Weise und beschreibt die Art der
Gegenwärtigkeit nicht — wie sollen sie nun auf Grund einer unentschiedenen Sache mit Sicherheit
beweisen, was sie wollen? Wieso nun — werden sie nicht etwa, wenn es ihnen einmal zustoßen
sollte, daß ihr Gewissen von einem ernsteren Empfinden gequält würde, alsbald mit ihren
Schlußfolgerungen zergehen und zerschmelzen? Das wird nämlich dann geschehen, wenn sie sehen, daß
ihnen das gewisse Wort Gottes mangelt, kraft dessen allein unsere Seelen standfest sind, wenn sie
zur Rechenschaft gerufen werden, und ohne das sie gleich im ersten Augenblick zu wanken beginnen, es
wird geschehen, wenn sie bedenken, daß ihnen die Lehre wie auch das Vorbild der Apostel
entgegenstehen und daß sie ihre Sache aus sich allein heraus angefangen haben. Zu solchen
Anstößen werden dann auch noch andere, nicht geringe Stachel kommen. Wieso — war es denn etwa
eine so bedeutungslose Sache, Gott in dieser Gestalt anzubeten, daß uns nichts dergleichen
vorgeschrieben ist? Durfte man etwa, wo es sich doch um die wahre Verehrung Gottes handelte, mit
solcher Leichtfertigkeit etwas unternehmen, worüber man nirgendwo ein Wort zu lesen bekam? Nein,
wenn sie mit der gebührenden Demut alle ihre Gedanken unter dem Worte Gottes gehalten hätten, dann
hätten sie unzweifelhaft darauf gehört, was er selber gesagt hat: "Nehmet ... Esset ... Trinket"
— und sie hätten diesem Gebot Gehorsam geleistet, in dem er uns aufgibt, das Sakrament zu
empfangen, nicht aber es anzubeten! Wer aber, wie es von Gott geboten ist, das Sakrament ohne
Anbetung nimmt, der ist sicher, daß er von Gottes Anweisung nicht abweicht — und wenn wir uns
irgendein Werk vornehmen, so ist nichts besser als solche Sicherheit. Wer so handelt, der hat das
Vorbild der Apostel (für sich), von denen wir nicht lesen, daß sie niedergefallen sind und
angebetet haben, sondern daß sie, wie sie bei Tische saßen, das Sakrament empfangen und gegessen
haben. Er hat die Gepflogenheit der apostolischen Kirche (für sich); denn da haben die Gläubigen,
wie Lukas berichtet, nicht in der Anbetung, sondern im Brechen des Brotes Gemeinschaft gehalten
(Apg. 2,42). Er hat die apostolische Lehre (für sich), vermöge deren Paulus die Kirche der
Korinther unterwiesen hat, wobei er bezeugt: "Ich habe es von dem Herrn empfangen, das ich euch
gegeben habe" (1. Kor. 11,23).
IV,17,36 Diese Ausführungen haben nun den Zweck, daß der fromme Leser
erwägen möge, wie gefährlich es ist, in so schwierigen Dingen von Gottes einfältigem Worte
(abzugehen und) nach den Träumereien unseres Hirns umherzulaufen. Und was oben dargelegt wurde, das
muß uns hierbei von jeglichem Bedenken freimachen. Denn damit die frommen Seelen Christus im
Abendmahl recht ergreifen, müssen sie zum Himmel empor gerichtet werden. Ist es doch das Amt dieses
Sakraments, dem Verstand des Menschen, der sonst schwach ist, Hilfe zu bieten, damit er emporsteigt,
um die Höhe der geistlichen Geheimnisse zu begreifen; wenn es aber so ist, dann irren die, welche
bei dem äußeren Zeichen stehen bleiben, von dem rechten Wege, Christus zu suchen, ab. Wieso —
wollen wir etwa leugnen, daß es eine abergläubische Verehrung ist, wenn sich Menschen vor dem
Brote niederwerfen, um Christus darin anzubeten? Diesem falschen Tun hat unzweifelhaft die Synode
von Nicäa entgegentreten wollen, als sie verbot, daß wir den uns vorgelegten Merkzeichen in Demut
unsere Andacht zuwendeten. Und keine andere Ursache lag auch für die in alter Zeit bestehende
Ordnung vor, daß das Volk vor der Weihe (Konsekration) mit lauter Stimme dazu ermahnt wurde, das
Herz aufwärts zu richten (sursum corda!). Und auch die Schrift selber berichtet uns einerseits mit
Fleiß von Christi Himmelfahrt, durch die er die Gegenwärtigkeit seines Leibes unserem Blick und
dem Verkehr mit uns entzogen hat, außerdem aber will sie uns alles fleischliche Denken über ihn
austreiben und gebietet deshalb allemal, wenn sie seiner Erwähnung tut, unseren Sinnen, sich nach
oben zu richten und ihn im Himmel zu suchen, wo er zur Rechten des Vaters sitzt (Kol. 3,2). Nach
dieser Regel hätte man ihn vielmehr geistlich in der himmlischen Herrlichkeit anbeten sollen, als
sich diese so gefährliche Art von Anbetung auszudenken, die von einer fleischlichen, groben Meinung
über Gott erfüllt ist. Daher haben die, welche sich diese Anbetung des Sakraments ausgedacht
haben, sie nicht nur aus sich selbst heraus erträumt, ohne die Schrift, in der sich keine
Erwähnung derselben nachweisen läßt — und wenn dergleichen Gott wohlgefällig wäre, so wäre
es doch nicht ausgelassen worden! —, nein, sie haben sich auch gegen den Widerspruch der Schrift
nach ihrem eigenen willkürlichen Gutdünken einen Gott zurechtgemacht und dabei den lebendigen Gott
verlassen. Denn was ist Abgötterei, wenn nicht dies, daß man die Gaben statt des Gebers selbst
verehrt? Man hat sich also hier in zwiefacher Weise vergangen: einerseits hat man Gott die Ehre
geraubt und sie auf die Kreatur übertragen, und andererseits hat man auch seine Wohltat befleckt
und entheiligt und ihn dadurch entehrt, indem man aus seinem heiligen Sakrament einen widerlichen
Abgott gemacht hat. Wir wollen demgegenüber, um nicht in die nämliche Fallgrube zu stürzen,
unsere Augen, Ohren, Herzen, Sinne und Zungen voll und ganz an Gottes heilige Lehre geheftet sein
lassen. Denn sie ist die Schule des besten Lehrmeisters, des Heiligen Geistes, in welcher man
dergestalt Fortschritte macht, daß man von anderswoher nichts herbeizuholen braucht und mit Freuden
nicht weiß, was in ihr nicht gelehrt wird.
IV,17,37 Aber, wie ja der Aberglaube, wenn er einmal die rechten Grenzen
überschritten hat, mit Sündigen kein Ende macht, so ist man noch wesentlich weiter gegangen: man
hat sich Gebräuche ausgedacht, die mit der Einsetzung des Abendmahls schlechterdings nichts zu tun
haben, und zwar einzig zu dem Zweck, um dem Zeichen göttliche Ehren zu erweisen. Man sagt zwar: wir
erweisen doch Christus diese Verehrung. Da antworte ich aber erstens: wenn das wirklich beim
Abendmahl geschähe, so würde ich behaupten, daß nur die Anbetung rechtmäßig ist, die nicht bei
dem Zeichen stehen bleibt, sondern sich auf Christus richtet, der im Himmel seinen Sitz hat. Unter
welchem Vorwand behaupten sie nun aber, in diesem Brote Christus zu ehren, wo sie doch keine
Verheißung darüber besitzen? Sie weihen die Hostie, wie sie sie nennen, um sie mit Prunk (in der
Prozession) umherzutragen und um sie zum Beschauen, Verehren und Anrufen in öffentlichem Schauspiel
auszustellen. Ich frage, vermöge welcher Kraft denn diese Hostie nach ihrer Meinung rechtmäßig
geweiht ist. Sie werden dann allerdings die Worte vorbringen: "Dasist mein Leib." Demgegenüber
aber mache ich den Einwand, daß doch zugleich auch gesagt ist: "Nehmet hin und esset." Und das
tue ich nicht ohne Sinn; denn die Verheißung ist mit dem Gebot verbunden, und ich behaupte, daß
sie dergestalt in das Gebot eingeschlossen ist, daß sie bei ihrer Ablösung davon völlig zu nichts
wird. Das wird durch ein ähnliches Beispiel deutlicher werden. Gott gab ein Gebot, als er sprach:
"Rufe mich an", und er fügte die Verheißung hinzu, "so will ich dich erhören" (Ps. 50,15;
Schluß nicht Luthertext). Wenn nun jemand den Petrus oder Paulus anriefe und sich dann dieser
Verheißung rühmte — würden dann nicht alle Leute laut erklären, daß er verkehrt handelte? Was
tun nun die Menschen anderes, so frage ich, die das Gebot, in dem uns das Essen befohlen wird,
beiseite lassen und dann die verstümmelte Verheißung herausreißen: "Das ist mein Leib", um
sie für Gebräuche zu mißbrauchen, die mit Christi Stiftung nichts zu tun haben? Wir wollen also
bedenken, daß diese Verheißung solchen gegeben ist, die das mit ihr verbundene Gebot halten, daß
aber die, welche von dem Sakrament einen anderen Gebrauch machen, jeglichen Wortes ermangeln. Oben
haben wir davon gesprochen, in welcher Weise das Geheimnis (Sakrament) des heiligen Abendmahls (1.)
unserem Glauben vor Gott dienlich ist. Wenn uns aber der Herr hier den Reichtum seiner Güte in der
Fülle, die wir oben dargelegt haben, nicht nur ins Gedächtnis zurückruft, sondern sie gleichsam
aus seiner Hand in unsere legt und uns ermuntert, sie zu erkennen, so ermahnt er uns damit zugleich
(2.), solcher überströmenden Wohltätigkeit gegenüber nicht undankbar zu sein, sondern sie
vielmehr mit dem ihr billig zukommenden Lob zu preisen und mit Danksagung zu verherrlichen. Als er
daher den Aposteln die Stiftung dieses Sakraments übergab, da lehrte er sie: "Das tut zu meinem
Gedächtnis" (Luk. 22,19). Und Paulus legt das so aus, sie sollten "des Herrn Tod verkündigen"
(1. Kor. 11,26). Das bedeutet aber, daß wir alle öffentlich und aus einem Munde vor aller Welt
bekennen, daß für uns die ganze Zuversicht auf Leben und Seligkeit auf dem Tode des Herrn beruht,
damit wir ihn mit unserem Bekenntnis verherrlichen und andere durch unser Beispiel dazu ermuntern,
ihm die Ehre zu geben. Hier wird wiederum deutlich, wo der Richtpunkt des Sakraments liegt: es soll
uns in dem Gedächtnis des Todes Christi üben. Wenn uns aber Paulus gebietet, "des Herrn Tod zu
verkündigen", "bis daß er" zum Gericht "kommt" (1. Kor. 11,26), so bedeutet das nichts
anderes, als daß wir mit dem Bekenntnis unseres Mundes aussprechen sollen, was unser Glaube im
Sakrament erkannt hat, nämlich daß Christi Tod unser Leben ist. Das ist die zweite Wirkweise
(usus) des Sakraments, die sich auf das äußere Bekenntnis bezieht.
IV,17,38 (3.) Zum dritten soll uns das Abendmahl nach dem Willen des Herrn
auch als Ermahnung dienen, und es gibt keine andere, durch die wir kräftiger zur Reinheit und
Heiligkeit unseres Lebens wie auch zur Liebe, zum Frieden und zur Eintracht ermuntert und entflammt
werden könnten. Denn der Herr gibt uns im Abendmahl dergestalt Anteil an seinem Leibe, daß er mit
uns ganz eins wird und wir mit ihm. Wie nun er nur einen Leib hat, dessen er uns alle teilhaftig
macht, so müssen auch notwendig wir alle durch solches Teilhaben zu einem Leibe werden. Diese
Einheit veranschaulicht das Brot, das uns im Sakrament dargereicht wird: es setzt sich gleichsam aus
vielen Körnern zusammen, die unter sich dermaßen vermengt sind, daß man keines mehr von dem
anderen unterscheiden kann; auf die gleiche Weise gebührt es sich auch, daß wir in solcher
Herzenseintracht verbunden und vereinigt sind, daß keinerlei Zwietracht oder Entzweiung
dazwischentritt. Das will ich lieber mit den Worten des Paulus auseinandersetzen; er sagt: "Der
gesegnete Kelch, welchen wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Das Brot,
das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? ... So sind wir viele ein Leib,
dieweil wir alle eines Brotes teilhaftig sind" (1. Kor. 10,16f.). Wir haben aber dann beim
Sakrament herrlich viel gelernt, wenn in unseren Herzen der Gedanke festgeprägt und eingegraben
ist: wir können keinen unter unseren Brüdern verletzen, verachten, von uns stoßen, schmählich
behandeln oder auf irgendeine Weise kränken, ohne daß wir zugleich in ihm Christus mit unseren
Ungerechtigkeiten verletzen, verachten und schmählich behandeln, wir können nicht mit unseren
Brüdern in Zwietracht leben, ohne zugleich mit Christus in Zwietracht zu sein, wir können Christus
nicht lieben, ohne daß wir ihn in unseren Brüdern lieben; die Sorge, die wir um unseren Leib
tragen, müssen wir auch an unsere Brüder wenden, die doch Glieder an unserem Leibe sind, und wie
kein Stück unseres Leibes von irgendeinem Schmerzempfinden berührt wird, das sich nicht zugleich
auf alle anderen übertrüge, so können wir es auch nicht ertragen, daß ein Bruder von irgendeinem
Übel befallen wird, das wir nicht auch selbst mit ihm durchlitten. Daher ist es nicht ohne Sinn,
daß Augustin dies Sakrament so oft als Band der Liebe bezeichnet. Denn was könnte wohl für ein
schärferer Ansporn angewendet werden, um unter uns die gegenseitige Liebe zu erwecken, als daß
Christus sich selbst für uns hingibt und uns damit nicht nur durch sein Vorbild dazu auffordert,
uns einander zu weihen und hinzugeben, sondern auch, insofern er sich allen gemein macht, dahin
wirkt, daß wir alle eins sind in ihm?
IV,17,39 Hierdurch erfährt aber das, was ich anderwärts ausgeführt habe,
nämlich daß die rechte Verwaltung des Sakraments nicht ohne das Wort besteht, eine treffliche
Bekräftigung. Denn jeglicher Nutzen, der uns aus dem Abendmahl erwächst, erfordert das Wort: ob
wir im Glauben gestärkt, im Bekenntnis geübt oder zum Dienst ermuntert werden sollen — immer
bedarf es der Predigt! Darum kann beim Abendmahl nichts verkehrteres geschehen, als daß man es in
eine stumme Verrichtung umwandelt, wie man das unter der Tyrannei des Papstes getan hat. Nach dem
Willen der Papisten soll nämlich die ganze Kraft der Weihe (Konsekration) von dem Vorsatz des
Priesters abhängen — als ob das das Volk nichts anginge, wo doch gerade ihm dies Geheimnis hätte
ausgelegt werden müssen. Daraus ist dann der Irrtum erwachsen, daß sie nicht darauf achteten, daß
jene Verheißungen, auf Grund deren die Weihe geschieht, nicht für die Elemente selbst bestimmt
sind, sondern für die, welche sie empfangen. Nun redet aber doch Christus nicht das Brot an, daß
es sein Leib werden solle, sondern er gebietet den Jüngern zu essen, und verheißt ihnen das
Teilhaben an seinem Leib und Blut. Und auch Paulus lehrt keine andere Ordnung, als daß den
Gläubigen zusammen mit Brot und Kelch die Verheißungen dargeboten werden sollen. So ist es ohne
Zweifel. Denn wir sollen uns hier nicht irgendeine Zauberbeschwörung ersinnen, so daß es genug
wäre, die Worte dahergemurmelt zu haben, als ob sie von den Elementen gehört würden, nein, wir
sollen begreifen, daß jene Worte eine lebendige Predigt sind, die die Hörer erbauen, innerlich in
ihre Herzen dringen, den Herzen eingeprägt werden und darin haften soll, und die ihre Wirkkraft in
der Erfüllung dessen beweisen soll, was sie verheißt. Aus diesen Erwägungen geht klar hervor,
daß das Weglegen des Sakraments, wie es manche verlangen, damit es außerhalb der Ordnung an die
Kranken ausgeteilt werden könnte, unnütz ist. Denn die Kranken werden es dann entweder ohne
Anführung der Einsetzung(sworte) Christi empfangen, oder der Diener wird mit dem Zeichen zugleich
eine wahre Auslegung des Geheimnisses verbinden. Die stillschweigende Austeilung (also der erste
Fall) aber bedeutet einen Mißbrauch und Fehler. Werden dagegen die Verheißungen genannt und wird
das Geheimnis (Sakrament) ausgelegt, so daß die, welche es nehmen sollen, es mit Frucht empfangen,
so besteht kein Grund zu bezweifeln, daß dies die wahre Weihe ist. Was soll also jene andere für
einen Sinn haben, deren Kraft nicht bis zu den Kranken hingelangt? Ja, wird man sagen, aber wer so
handelt, der hat das Beispiel der Alten Kirche für sich! Das gebe ich zu; aber bei einer Sache, die
so große Bedeutung hat und bei der man nicht ohne große Gefahr in Irrtum fällt, ist nichts
sicherer, als daß man der Wahrheit selber folgt!
IV,17,40 Wie wir nun sehen, daß dies heilige Brot beim Abendmahl des Herrn
eine geistliche Speise ist, süß und köstlich nicht weniger als heilbringend für Gottes fromme
Diener, die durch das Kosten solchen Brotes empfinden, daß Christus ihr Leben ist, durch dies Brot
zur Danksagung ermuntert werden und in ihm eine Ermahnung zur gegenseitigen Liebe untereinander
haben, — so verwandelt es sich auf der anderen Seite für alle, deren Glauben es nicht nährt und
festigt und die es nicht zum Bekenntnis seines Lobes und zur Liebe erweckt, in das verderblichste
Gift. Denn wie eine leibliche Speise, wenn sie in einen Leib gerät, der mit schlechten Säften
erfüllt ist, auch selbst schlecht gemacht und verdorben wird und deshalb mehr schadet als nährt,
so ist es auch mit dieser geistlichen Speise: trifft sie auf eine Seele, die mit Bosheit und
Nichtswürdigkeit befleckt ist, so stürzt sie diese nur mit um so schlimmerem Zusammenbruch ins
Verderben, und zwar nicht durch einen ihr selbst anhaftenden Fehler, sondern weil "den Unreinen
und Ungläubigen nichts rein" ist (Tit. 1,15), wie sehr es auch sonst durch den Segen des Herrn
geheiligt sein mag. "Denn", wie Paulus sagt, "welcher unwürdig isset und trinket, der ist
schuldig an dem Leib und Blut des Herrn und isset und trinket sich selber zum Gericht, damit, daß
er nicht unterscheidet den Leib des Herrn" (1. Kor. 11,29; Zwischenstück aus Vers 27). Denn diese
Art Menschen, die ohne jedes Fünklein Glauben, ohne allen Eifer der Liebe gleich Säuen
herbeilaufen, um das Abendmahl des Herrn zu nehmen, die unterscheiden den Leib des Herrn eben
durchaus nicht. Insofern sie nämlich nicht glauben, daß dieser Leib ihr Leben ist, behandeln sie
ihn, soviel sie es vermögen, mit Schmach, indem sie ihn aller seiner Würde berauben; und indem sie
ihn schließlich in solcher Gesinnung empfangen, entheiligen und besudeln sie ihn. Insofern sie aber
von ihren Brüdern entfremdet sind, mit ihnen in Zwietracht leben und es dann wagen, das heilige
Merkzeichen des Leibes Christi mit ihrer Zwietracht zu vermengen, liegt es nicht an ihnen, wenn
Christi Leib nicht zerstückt und Glied für Glied auseinander gerissen wird. Daher sind sie nicht
unverdient "schuldig am Leib und Blut des Herrn", weil sie sie eben in heiligtumsschänderischer
Gottlosigkeit so ekelhaft beflecken. Durch diesen unwürdigen Genuß des Sakraments ziehen sie sich
also ihre Verdammnis zu. Denn obwohl sie keinen Glauben haben, der auf Christus ruhte, bekennen sie
doch durch den Empfang des Sakraments, daß ihr Heil nirgendwo anders liege als in ihm, und
schwören sie alle andere Zuversicht ab. Daher sind sie ihre eigenen Verkläger, legen sie selber
Zeugnis gegen sich ab und versiegeln sie sich selbst ihre Verdammnis. Und dann ferner: obwohl sie
durch Haß und Böswilligkeit von ihren Brüdern, das heißt von Christi Gliedern, geschieden und
mit ihnen entzweit sind und daher keinen Anteil an Christus haben, bezeugen sie doch (durch den
Empfang des Sakraments), daß das Heil allein darin bestehe, Christi teilhaftig und mit ihm geeint
zu sein (wodurch sie sich also abermals selbst verklagen)! Daher gebietet Paulus: "Der Mensch
prüfe sich selbst, und also esse er von diesem Brot und trinke von diesem Kelch" (1. Kor. 11,28).
Damit hat er, jedenfalls wie ich es auslege, sagen wollen, es solle jeder einzelne in sich selbst
hinabsteigen und bei sich bedenken, ob er sich mit innerlichem Vertrauen seines Herzens auf das Heil
verläßt, das Christus uns erworben, und es mit dem Bekenntnis seines Mundes anerkennt, ferner, ob
er im eifrigen Trachten nach Unschuld und Heiligkeit nach Christi Nachfolge strebt, ob er bereit
ist, sich nach Christi Beispiel den Brüdern hinzugeben und sich denen zuteil zugeben, mit denen er
Christus gemeinsam hat, ob er, wie er von Christus als sein Glied angesehen wird, so auch
seinerseits alle Brüder für Glieder seines Leibes gelten läßt, und ob er danach trachtet, sie
wie seine Glieder zu fördern, zu schützen und zu unterstützen. Nicht daß diese Leistungen des
Glaubens und der Liebe schon jetzt bei uns vollkommen sein könnten, sondern daß wir uns darum
mühen und mit allem Begehren danach streben sollen, den angefangenen Glauben von Tag zu Tag je mehr
und mehr zunehmen zu lassen!
IV,17,41 Im allgemeinen hat man die armen Gewissen, wenn man die Menschen
auf solchen würdigen Genuß des Abendmahls vorbereiten wollte, in grausamer Weise gepeinigt und
gequält, aber nichts von dem vorgebracht, was zur Sache dienlich war. Man hat gesagt, diejenigen
übten den würdigen Genuß des Abendmahls, die im Stande der Gnade seien. Dies "im Stande der
Gnade sein" hat man dann so ausgelegt, es hieße von aller Sünde sauber und gereinigt sein. Durch
diese Lehre wurden alle Menschen, soviel ihrer je auf Erden gewesen sind oder noch sind, von dem
Gebrauch dieses Sakraments ausgeschlossen. Denn wenn es darum geht, daß wir unsere Würdigkeit von
uns selbst her nehmen sollen, dann ist es um uns geschehen — nur Verzweiflung und tödliches
Zusammenbrechen warten unser! Wir mögen uns mit allen Kräften anstrengen, so werden wir doch
nichts anderes erreichen, als daß wir gerade dann, wenn wir uns am meisten darum gemüht haben,
solche Würdigkeit zu suchen, am allerunwürdigsten sein werden. Um diese Wunde zu heilen, hat man
sich eine Art und Weise ausgedacht, wie wir solche Würdigkeit erlangen sollen: wir sollen uns,
soviel wir es vermögen, prüfen, sollen uns über alles, was wir getan haben, Rechenschaft ablegen
und dann durch Zerknirschung, Bekenntnis und Genugtuung für unsere Unwürdigkeit Sühne leisten —
was für eine Art von Sühneleistung das ist, das haben wir an einer zur Besprechung dieser Dinge
passenderen Stelle dargelegt. Soweit es mit unserer jetzigen Erörterung zu tun hat, behaupte ich,
daß dergleichen Dinge für solche Gewissen, die niedergeschlagen sind und am Boden liegen und von
der Sündenangst durchbohrt sind, ein gar zu inhaltloser, nichtiger Trost sind. Denn wenn der Herr
durch jenes Verbot niemanden zum Teilhaben an seinem Abendmahl zuläßt, der nicht gerecht und
unschuldig wäre, so ist keine geringe Gewährleistung erforderlich, damit einer dadurch seiner
Gerechtigkeit gewiß werde, die, wie er es vernimmt, Gott von ihm verlangt. Woher sollen wir aber
eine Bekräftigung der "Gewißheit" bekommen, daß die, welche "getan haben, was sie vermögen",
vor Gott ihre Schuldigkeit getan hätten? Und selbst wenn es so wäre, so bleibt doch zu fragen:
wann darf wohl einer wagen, sich die Zusage zu geben, er habe getan, was er vermochte? Da uns also
(in dieser Weise!) keine gewisse Sicherheit von unserer Würdigkeit zuteil wird, so muß uns der
Zugang allezeit verschlossen bleiben, vermöge jenes furchtbaren Verbots, in dem verordnet wird: "Welcher
unwürdig isset und trinket, der isset und trinket sich selber zum Gericht" (1. Kor. 11,29).
IV,17,42 Jetzt läßt sich leicht ein Urteil darüber gewinnen, von welcher
Art die im Papsttum herrschende Lehre ist und von welchem Urheber sie ihren Ausgang genommen hat:
das ist eine Lehre, welche die armen und von Angst und Traurigkeit angefochtenen Sünder durch ihre
maßlose Härte des Trosts dieses Sakraments verlustig gehen läßt und beraubt, während ihnen doch
in ihm alle Köstlichkeiten des Evangeliums vor Augen gestellt wurden. Ohne Zweifel konnte der
Teufel die Menschen auf keinem kürzeren Wege ins Verderben bringen, als daß er sie dermaßen
betörte, daß sie von jener Speise, mit der sie der himmlische Vater in seiner großen Güte hatte
nähren wollen, nichts kosteten und keinen Geschmack von ihr bekamen. Damit wir also nicht in
solchen Abgrund hineinrennen, wollen wir bedenken, daß dies heilige Mahl eine Arznei für die
Kranken, ein Trost für die Sünder und ein reiches Geschenk für die Armen ist, während es für
Gesunde, Gerechte und Reiche, sofern welche zu finden wären, nichts bringt, was (für sie) einigen
Wert hätte. Denn da uns in diesem Mahl Christus zur Speise gegeben wird, so erkennen wir, daß wir
ohne ihn dahinschwinden, verrinnen und ermatten, wie auch die Kraft des Leibes beim Mangel an
Nahrung zunichte wird. Und ferner: er wird uns doch zum Leben gegeben, und daran erkennen wir, daß
wir ohne ihn in uns selber völlig tot sind. Daher besteht jene Würdigkeit, die wir Gott als
einzige und beste bringen können, darin, daß wir unsere Niedrigkeit und sozusagen unsere
Unwürdigkeit vor ihn tragen, damit er uns durch seine Barmherzigkeit seiner würdig mache, sie
besteht darin, daß wir in uns selber alle Hoffnung aufgeben, um uns in ihm zu trösten, daß wir
uns erniedrigen, um von ihm aufgerichtet, daß wir uns verklagen, um von ihm gerechtfertigt zu
werden, sie besteht weiterhin darin, daß wir nach der Einheit streben, die er uns in seinem
Abendmahl anbefiehlt, und, wie er uns alle in sich selber eins macht, so auch wünschen, daß wir
alle voll und ganz eine Seele, ein Herz und eine Zunge haben. Wenn wir das erwogen und bedacht
haben, so werden uns wohl solche Gedanken kommen können: Wie sollen denn wir, die wir arm und nackt
sind an allem Guten, wie sollen wir, die wir von dem Schmutz der Sünde besudelt, wir, die wir halb
tot sind, wie sollen wir den Leib des Herrn würdig genießen? Aber solche Gedanken werden uns dann
zwar vielleicht erschüttern, aber nie und nimmer zu Boden werfen. Nein, wir werden dann vielmehr
bedenken, daß wir als Arme zu einem gütigen Geber, als Kranke zu einem Arzt, als Sünder zu dem
Wirker der Gerechtigkeit und schließlich als Tote zu dem kommen, der da lebendig macht, wir werden
erwägen, daß die Würdigkeit, die von Gott geboten wird, vor allen Dingen in dem Glauben besteht,
der alles bei Christus findet und nichts bei uns selbst, und alsdann auch in der Liebe, und zwar in
einer solchen, die wir Gott in all ihrer Unvollkommenheit darbieten dürfen, damit er sie bessere
und mehre, sintemal wir eine vollkommene nicht zu leisten vermögen. Es gibt manche, die mit uns in
der Ansicht übereinstimmen, daß jene Würdigkeit selbst in Glaube und Liebe besteht, aber dann in
der Art und Weise dieser Würdigkeit weit abgeirrt sind, indem sie eine Vollkommenheit des Glaubens
fordern, zu der überhaupt nichts mehr hinzukommen kann, und eine Liebe, die der gleich sein soll,
die Christus uns gegenüber zu erkennen gegeben hat. Damit aber weisen sie, genau wie die
obengenannten Leute (nämlich die Papisten), alle Menschen vom Zugang zu diesem heiligen Mahle weg.
Denn wenn ihre Meinung Gültigkeit hätte, so würde jeder das Sakrament unwürdig empfangen; denn
alle ohne Ausnahme wären ihrer Unvollkommenheit schuldig und überführt. Auch wäre es doch
wahrlich ein Zeichen von gar zu großer Unverständigkeit, ja Dummheit, wenn man beim Empfang des
Sakraments eine Vollkommenheit forderte, die das Sakrament selbst wirkungslos und überflüssig
machte; denn es ist nicht für die vollkommenen gestiftet, sondern für die Schwachen und
Gebrechlichen, um die Gesinnung des Glaubens und der Liebe anzustacheln, zu erwecken, anzuspornen
und zu üben und um den Mangel an Glauben und Liebe zu beheben.
IV,17,43 Was nun den äußerlichen Brauch bei der Übung des Sakraments
betrifft, so macht es nichts aus, ob die Gläubigen das Brot in die Hand nehmen oder nicht, ob sie
es untereinander verteilen oder ob jeder ißt, was man ihm gegeben hat, ob sie den Kelch dem Diakon
in die Hand geben oder an den Nächsten weiterreichen, ob das Brot gesäuert oder ungesäuert ist,
und ob der Wein rot oder weiß ist. Dies sind Dinge ohne entscheidende Bedeutung, die in der freien
Entschließung der Kirche stehen. Allerdings ist es sicher, daß es der Brauch der Alten Kirche
gewesen ist, daß alle das Brot in die Hand empfingen. Auch hat Christus gesagt: "Teilet ihn (den
Kelch) unter euch" (Luk. 22,17). Nach dem Bericht der Geschichtsbücher hat man vor der Zeit des
Bischofs Alexander von Rom gesäuertes, gewöhnliches Brot genommen; Alexander (I.) ist der erste
gewesen, der an ungesäuertem Brot Gefallen gefunden hat, aus welchem Grunde, sehe ich nicht, einzig
wollte er wohl die Augen des Volkes mit einem neuen Schaubild zur Bewunderung hinreißen, statt sein
Herz in rechter Ehrfurcht zu unterweisen. Ich beschwöre alle, die auch nur von einem geringen Eifer
um die Frömmigkeit erfaßt sind, ob sie nicht klar durchschauen, wieviel herrlicher Gottes Ehre
hier leuchtet und wieviel reichlicher hier die Köstlichkeit des geistlichen Trostes ist, die den
Frommen erwächst, als bei jenen frostigen und schauspielerhaften Possen, die keinen anderen Nutzen
bringen, als den Sinn des verblüfften Volkes zu täuschen! Das heißen sie "das Volk bei der
innerlichen Ehrfurcht erhalten", wenn es vom Aberglauben dumm und betört ist und sich überall
hinziehen läßt. Will jemand dergleichen Fündlein mit ihrem Alter verteidigen, so weiß auch ich
sehr wohl, wie alt bei der Taufe die Übung der Salbung und des Anblasens ist, und wie kurz nach der
Zeit der Apostel das Abendmahl des Herrn vom Rost befallen worden ist; aber das ist eben die
Frechheit des menschlichen Selbstvertrauens, daß es sich nicht enthalten kann, in Gottes
Geheimnissen allezeit sein Spiel und seine Ausgelassenheit zu treiben. Wir aber wollen bedenken:
Gott legt auf den Gehorsam gegen sein Wort so großes Gewicht, daß er den Willen hat, daß wir
sowohl seine Engel als auch den ganzen Erdkreis nach diesem seinem Worte beurteilen sollen. Nachdem
wir nun einem so großen Haufen von Zeremonien Valet gesagt haben, könnte das Abendmahl am
schicklichsten so verwaltet werden, daß es recht häufig und mindestens einmal in der Woche der
Kirche vorgelegt würde. Am Anfang sollten dann öffentliche Gebete stehen, dann sollte die Predigt
gehalten werden, danach sollte der Diener, nachdem Brot und Wein auf den Lisch gestellt sind, von
der Stiftung des Abendmahls berichten und weiterhin die Verheißungen darlegen, die uns in ihm
hinterlassen sind; zugleich sollte er alle mit dem Bann belegen, die durch das Verbot des Herrn vom
Abendmahl ausgeschlossen sind. Danach sollte man darum beten, daß der Herr uns kraft seiner Güte,
in der er uns diese heilige Nahrung gewährt hat, auch zu ihrem Empfang mit Glauben und herzlicher
Dankbarkeit unterweisen und erziehen und uns, da wir es aus uns selbst heraus nicht sind, in seiner
Barmherzigkeit solchen Mahles würdig machen möge. Dann sollte man Psalmen singen oder etwas
verlesen und die Gläubigen sollten in gebührender Ordnung an dem heiligen Mahle teilhaben, wobei
die Diener das Brot brächen und den Kelch reichten. Nach Beendigung des Abendmahles sollte eine
Ermahnung stattfinden zu aufrichtigem Glauben und zum Bekenntnis des Glaubens, zur Liebe und zu
einem der Christen würdigen Wandel. Zum Schluß sollte man die Danksagung sprechen und Gott Lob
singen. Nach dem allem sollte die Kirche im Frieden entlassen werden.
IV,17,44 Was wir bisher von diesem Sakrament ausgeführt haben, zeigt mehr
als genugsam, daß es nicht dazu eingesetzt ist, um einmal im Jahre empfangen zu werden, und zwar,
wie das jetzt allgemein die Gepflogenheit ist, nur, um der Pflicht ledig zu sein. Nein, es soll bei
allen Christen in häufiger Übung stehen, damit sie sich in wiederholtem Gedenken an Christi Leiden
erinnern; in solcher Erinnerungsollen sie ihren Glauben stärken und festigen, sollen sie sich
ermahnen, das Bekenntnis des Lobes Gottes zu singen und seine Güte zu verkündigen, und sollen sie
schließlich die gegenseitige Liebe nähren und sie sich auch gegenseitig bezeugen, da sie ja das
Band solcher Liebe in der Einheit des Leibes Christi sehen. Denn allemal, wenn wir an dem
Merkzeichen des Leibes unseres Herrn teilhaben, so verpflichten wir uns gleichsam durch das Geben
und Empfangen eines Unterpfands einander gegenseitig zu allen Leistungen der Liebe, damit niemand
unter uns etwas tut, womit er seinen Bruder verletzte, und niemand etwas unterläßt, womit er ihm
beistehen könnte, wo es die Not erfordert und die Möglichkeit dazu besteht. So ist es in der
apostolischen Kirche der Brauch gewesen, wie es Lukas erwähnt, wenn er berichtet: "Sie blieben
aber beständig in der Apostel Lehre und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet"
(Apg. 2,42). So müßte es allgemein dahin kommen, dass keine Zusammenkunft der Kirche ohne Wort,
Gebete, die Austeilung des Abendmahls und Almosen geschähe. Daß diese Ordnung auch bei den
Korinthern eingerichtet war, läßt sich auf Grund der Worte des Paulus (1. Kor. 11) genugsam
annehmen, und sie ist ohne Zweifel auch noch viele Jahrhunderte nachher in Übung gewesen. Daher
rühren nämlich jene alten Kirchensatzungen, die man dem Anacletus und dem Calixt zuschreibt: es
sollen danach alle, die nicht aus der Kirche ausgeschlossen werden wollen, nach Vornahme der
Konsekration das Abendmahl mitfeiern. Und in den alten Kirchensatzungen, die man die apostolischen
nennt, steht zu lesen: "Wer nicht bis zum Ende anwesend bleibt und das Heilige Abendmahl nicht
empfängt, der soll als einer, der der Kirche Unruhe bereitet, zurechtgewiesen werden" (Canones
Apostolorum 9 [10]). Ebenso hat man auf dem Konzil zu Antiochia (341) beschlossen: wer in die Kirche
ginge, die Schrift hörte, aber am Abendmahl nicht teilnähme, der solle aus der Kirche verwiesen
werden, bis er von diesem Fehler Abstand nähme. Das hat man dann freilich auf dem ersten Konzil zu
Toledo (400) entweder gemildert oder wenigstens mit milderen Worten ausgesprochen; trotzdem wird
auch dort festgesetzt: wer dabei betroffen werde, daß er nach dem Hören der Predigt niemals am
Abendmahl teilnehme, der solle vermahnt und, sofern er nach der Vermahnung von diesem Fehler nicht
abstehe, ausgeschlossen werden.
IV,17,45 Durch diese Bestimmungen wollten nämlich die heiligen Männer den
häufigen Gebrauch des Abendmahls aufrechterhalten und verteidigen, wie er von den Aposteln selbst
überliefert war. Sie sahen eben, daß er für die Gläubigen höchst heilsam war, durch die
Nachlässigkeit der Menge jedoch nach und nach in Abgang geraten mußte, über seine Zeit aber gibt
uns Augustin folgendes Zeugnis: "Das Sakrament (= Zeichen) dieser Sache, das heißt der Einheit
des Leibes des Herrn, wird an manchen Orten Tag für Tag, an anderen in bestimmten Abständen auf
dem Tisch des Herrn bereitet und von jenem Tisch her empfangen, von einigen zum Leben, von anderen
zum Verderben" (Predigten zum Johannesevangelium 26,15). Und in seinem ersten Brief an Januaris
schreibt er: "Die einen halten alle Tage mit dem Leib und Blut des Herrn Gemeinschaft, die anderen
empfangen sie an bestimmten Tagen, an manchen Orten geht kein Tag vorbei, wo nicht das Abendmahl
dargeboten wird, an anderen geschieht es bloß samstags und sonntags, wieder an anderen
ausschließlich an Sonntagen" (Brief 54,11,2; an Januaris). Da nun, wie gesagt, das Volk zuweilen
recht lässig war, so setzten die heiligen Männer mit strengem Tadel Nachdruck hinter ihre
Forderung, damit es nicht den Anschein hatte, als sähen sie solcher Trägheit durch die Finger. Ein
Beispiel dieser Art findet sich bei Chrysostomus in seiner Auslegung des Briefes an die Epheser; da
heißt es: "Zu dem Manne, der das Gastmahl entehrte, wurde nicht gesagt: ‘Warum hast du dich zu
Tische gesetzt?’, sondern: ‘Warum bist du hereingekommen?’ (Matth. 22,12; nicht Luthertext).
Jeder, der an den Geheimnissen (Sakramenten) nicht teilnimmt, ist unredlich und unverschämt, daß
er hier anwesend ist. Ich frage: wenn jemand auf Ein-ladung zu einem Gastmahl kommt, die Hände
wäscht, sich zu Tische setzt und den Eindruck erweckt, als schicke er sich zum Essen an — und
dann nichts anrührt, tut der nicht dem Gastmahl wie dem Gastgeber Schmach an? So ist es auch mit
dir: du stellst dich unter denen ein, die sich durch Gebet zum Empfang des heiligen Mahles
vorbereiten, hast auch dadurch, daß du nicht weggegangen bist, bekannt, daß du einer aus ihrer
Schar bist, und nimmst dann schließlich doch nicht an dem Mahle teil! Wäre es da nicht besser
gewesen, du wärest überhaupt nicht erschienen? Du sagst: Ich bin unwürdig. Dann warst du also
auch nicht würdig, an dem Gebet teilzuhaben, das die Vorbereitung zum Empfang des heiligen
Geheimnisses (Sakraments) darstellt" (zum ersten Kapitel des Epheserbriefs 3,5).
IV,17,46 Unzweifelhaft ist diese Gepflogenheit, die da gebietet, einmal im
Jahre Abendmahl zu feiern, ein ganz sicheres Fündlein des Teufels, durch wessen Dienst sie auch am
Ende aufgebracht worden sein mag! Man sagt, Zephyrinus (von Rom) sei der Urheber dieser Bestimmung
gewesen; aber es ist durchaus nicht anzunehmen, daß diese damals so gewesen ist, wie wir sie heute
vor uns haben. Denn Zephyrinus hat durch seine Einrichtung vielleicht nicht gar so übel für die
Kirche gesorgt, so wie dazumal die Zeiten waren. Es unterliegt nämlich nicht dem geringsten
Zweifel, daß damals (um die Wende des 2. und 3. Jahrhunderts) den Gläubigen das Heilige Abendmahl
jedesmal vorgelegt wurde, wenn sie sich zur Versammlung beieinanderfanden, und es ist auch nicht
zweifelhaft, daß ein erheblicher Teil von ihnen kommunizierte. Nun kam es aber kaum jemals vor,
daß alle miteinander das Abendmahl feierten, und andererseits war es doch notwendig, daß sie
angesichts ihrer Vermengung unter unheilige und abgöttische Menschen mit irgendeinem äußeren
Merkzeichen ihren Glauben bekundeten; daher hatte der heilige Mann um der Ordnung und des Regiments
willen jenen Tag festgesetzt, an dem das ganze Volk der Christen durch das Teilhaben am Abendmahl
des Herrn ein Bekenntnis seines Glaubens ablegen sollte. Diese im übrigen anerkennenswerte
Einrichtung des Zephyrinus hat dann die spätere Zeit übel verkehrt: da hat man nämlich ein
bestimmtes Gesetz aufgestellt, nach welchem jeder (mindestens) einmal im Jahre am Abendmahl
teilnehmen mußte; dadurch ist es dahin gekommen, daß fast alle, wenn sie einmal kommuniziert
hatten, nun der Meinung waren, als ob sie für den Rest des Jahres ihrer Pflicht sein ledig seien,
und unbekümmert auf beiden Ohren schliefen. Ganz anders hätte es geschehen müssen: mindestens
jede Woche einmal hätte der Versammlung der Christen der Tisch des Herrn bereitet werden müssen,
dann hätte man die Verheißungen erklären sollen, die uns am Tisch des Herrn geistlich zu nähren
bestimmt sind, und dann hätte man zwar niemanden mit Zwang nötigen, aber alle ermahnen und
anspornen und auch die Schläfrigkeit der Faulen tadeln sollen. So hätten alle gemeinschaftlich als
hungrige Leute zu diesem köstlichen Mahl zusammenkommen sollen. Nicht zu Unrecht habe ich mich
daher zu Anfang (dieser Sektion) beklagt, daß diese Gepflogenheit durch des Teufels List
aufgebracht sei, diese Gepflogenheit, die einen Tag im Jahre vorschreibt und die Menschen dadurch
für das ganze Jahr nachlässig macht. Wir sehen zwar, daß dieser verkehrte Mißbrauch schon zur
Zeit des Chrysostomus eingeschlichen ist; aber man kann zugleich sehen, wie sehr er das mit
Widerwillen aufgenommen hat. Er klagt nämlich an der oben angeführten Stelle mit ernsten Worten,
es bestehe hier eine derartige Ungleichartigkeit, daß die Leute oftmals zu anderen Zeiten des
Jahres nicht zum Abendmahl kämen, auch wenn sie rein seien, zur Osterzeit jedoch auch dann
kommunizieren wollten, wenn sie unrein seien. Dann ruft er aus: "O Gewohnheit, o Halsstarrigkeit!
So geschieht also das tägliche Opfer umsonst, so stehen wir umsonst am Altar: Niemand ist da, der
mit uns zugleich das Abendmahl nähme" (zum ersten Kapitel des Epheserbriefs 3,4). So wenig kann
die Rede davon sein, daß Chrysostomus diesen Mißbrauch mit seiner Autorität bekräftigt hätte!
IV,17,47 Aus der gleichen Werkstatt (nämlich aus der des Teufels) ist auch
die andere Satzung hervorgegangen, die dem besseren Teil des Volkes Gottes die Hälfte des
Abendmahls gestohlen oder entzogen hat, nämlich das Merkzeichen des Blutes, das man den "Laien"
und "Weltlichen" — mit diesen Titeln zeichnet man nämlich Gottes Erbe (1. Petr. 5,3) aus —
versagt und nur einigen wenigen geschorenen und gesalbten Leuten in Besitz gegeben hat. Das Gebot
des ewigen Gottes geht dahin, daß "alle" trinken sollen (Matth. 26,27); dies Gebot aber wagt
der Mensch durch ein neues und entgegengesetztes Gesetz veraltet zu machen und abzuschaffen, indem
er verordnet, es sollten nicht alle trinken! Und damit solche Gesetzgeber nicht ohne Ursache wider
ihren Gott streiten, so schützen sie Gefahren vor, die eintreten könnten, wenn man diesen
geweihten Kelch durchweg allen reichte — als ob diese von Gottes ewiger Weisheit nicht
vorhergesehen und bemerkt worden wären! Ferner stellen sie natürlich spitzfindig die
Schlußfolgerung an, das eine Element sei genug für beide. Denn wenn der Leib da ist, so sagen sie,
so ist es der ganze Christus, der ja von seinem Leibe nicht losgerissen werden kann. So schließt
also der Leib vermöge des wechselseitigen Beieinanderseins (concomitantia) das Blut mit ein. Da
sieht man, wie unser Sinn mit Gott "einig" geht, wo er doch schon bei der geringsten Lockerung
der Zügel ausgelassen und unbändig zu werden beginnt! Der Herr zeigt auf das Brot und sagt: "Das
ist mein Leib", er weist auf den Kelch und sagt: "Das ist mein Blut ..." Die Vermessenheit der
menschlichen Vernunft erhebt dagegen Einspruch und behauptet, das Brot sei das Blut und der Wein sei
der Leib — als ob der Herr ohne jede Ursache mit Worten und Zeichen seinen Leib und sein Blut
voneinander unterschieden hätte, und als ob man je hätte sagen hören, daß Christi Leib oder Blut
"Gott und Mensch" genannt würde! Hätte er sich ganz bezeichnen wollen, so hätte er doch
unzweifelhaft sagen können: "Das bin ich", wie er in der Schrift zu sprechen gewohnt war, nicht
aber: "Das ist mein Leib. Das ist mein Blut." Er wollte aber der Schwachheit unseres Glaubens zu
Hilfe kommen und stellte deshalb den Kelch gesondert neben das Brot, um zu lehren, daß er zum
Tranke nicht weniger genug sei als zur Speise. Nimmt man nun einen Teil weg, so werden wir in ihm
bloß die halbe Nahrung finden! Selbst wenn wir den Fall setzen, ihre Behauptung, vermöge des "wechselseitigen
Beieinanderseins" sei das Blut im Brote und der Leib wiederum im Kelch, wäre richtig, so rauben
sie eben doch den frommen Seelen die Bekräftigung des Glaubens, die Christus als notwendig lehrt.
Wir sollen also ihre Spitzfindigkeiten fahrenlassen und den Nutzen behalten, der auf Grund der
Anordnung Christi in dem zwiefachen Unterpfand empfangen wird!
IV,17,48 Ich weiß freilich, daß die Diener des Satans entsprechend ihrem
Brauch, mit der Heiligen Schrift ihren Spott zu treiben, hier Ausflüchte machen. Zunächst berufen
sie sich darauf, aus einer einfachen Tatsache ließe sich keine Regel ableiten, kraft deren die
Kirche zu einem fortwährenden Brauch verpflichtet würde. Es ist aber eine Lüge, wenn sie
behaupten, es handle sich hier bloß um eine einfache Tatsache; denn Christus hat nicht nur den
Kelch gereicht, sondern auch festgesetzt, daß die Apostel für die Folgezeit so verfahren sollten.
Er gibt doch eine Vorschrift, wenn er sagt: "Trinket alle aus diesem Kelch" (Matth. 26,27;
erweitert). Und Paulus erwähnt, daß es sich hier um eine Tatsache gehandelt hat, doch so, daß er
dies Verfahren Christi zugleich als eine feste Einrichtung anbefiehlt (1. Kor. 11,25). Die zweite
Ausflucht besteht in der Behauptung, Christus habe zum Teilhaben an diesem (ersten) Abendmahl doch
ausschließlich die Apostel zugelassen, die er bereits in den Stand der Priester eingereiht und
aufgenommen hätte. Ich möchte nun aber, daß sie mir auf fünf Fragen Antwort gäben, denen sie
nicht entwischen können, sondern bei denen sie samt ihren Lügen mit Leichtigkeit widerlegt werden.
Erstens: mit welchem Orakel ist ihnen eigentlich diese Lösung offenbart worden, die doch mit dem
Worte Gottes so gar wenig zu tun hat? Die Schrift nennt zwölf Jünger, die mit Christus zu Tische
gesessen hätten; aber sie verdunkelt Christi Würde nicht derart, daß sie sie als "Priester"
bezeichnete — ein Titel, von dem später an dem dafür passenden Ort noch die Rede sein wird!
Obwohl Christus nun damals das Sakrament diesen Zwölf gegeben hat, wies er sie doch an, sie sollten
ihrerseits "solches tun", das heißt das Abendmahl in dieser Weise untereinander austeilen.
Zweitens: wie ist es denn gekommen, daß in jener besseren Zeit, nämlich von den Aposteln an noch
etwa weitere tausend Jahre hindurch, alle ohne Ausnahme der beiden Merkzeichen teilhaftig wurden?
Wußte etwa die Alte Kirche nicht, welche Menschen Christus zu seinem Abendmahl als Tischgenossen
zugelassen hatte? Es wäre doch ein Zeichen von heillosester Unverschämtheit, hier zu zaudern oder
Ausflüchte zu suchen: Es sind Darstellungen der Kirchengeschichte vorhanden, dazu auch die Bücher
der alten Kirchenlehrer, die uns hierfür ganz klare Zeugnisse geben. "Das Fleisch", so sagt
Tertullian, wird mit Christi Leib und Blut gespeist, damit die Seele von Gott her gesättigt werde"
(Von der Auserstehung des Fleisches 8). "Wieso willst du", so sagt Ambrosius zu (dem Kaiser)
Theodosius, "mit solchen Händen den heiligen Leib Christi empfangen? Woher nimmst du die
Vermessenheit, mit deinem Munde an dem Kelch dieses köstlichen Blutes teilzuhaben?" (Theodoret,
Kirchengeschichte V,18). Hieronymus spricht von "Priestern, die das Abendmahl (eucharistia)
bereiten und das Blut des Herrn an das Volk austeilen" (zu Maleachi 2). Und Chrysostomus sagt: "Bei
uns geht es nicht wie unter dem alten Gesetz, wo einen Teil der Priester aß, den anderen das Volk;
nein, allen wird ein Leib und ein Kelch gereicht. Was zum Abendmahl gehört, das ist alles für
Priester und Volk gemeinsam" (Predigten zum zweiten Korintherbrief 18,3). Das nämliche bezeugt
auch Augustin an sehr vielen Stellen.
IV,17,49 Aber wozu führe ich hier eine Auseinandersetzung über eine
völlig bekannte Sache? Man lese alle griechischen und lateinischen Schriftsteller (der älteren
Kirche), so werden einem immer wieder derartige Zeugnisse begegnen. Und diese Übung ist nicht in
Abgang geraten, solange in der Kirche noch ein Tropfen von reinem Wesen übrig war. Gregor (I.), von
dem man mit Recht sagen könnte, er sei der letzte Bischof von Rom gewesen, lehrt, daß man diese
Gepflogenheit auch zu seiner Zeit innegehalten hat. "Was das Blut des Lammes ist", sagt er, "das
habt ihr nun nicht durch Hören, sondern durch Trinken erfahren." Oder auch: "Sein Blut wird in
den Mund der Gläubigen eingegossen." Ja, diese Sitte dauerte noch vierhundert Jahre nach seinem
Tode fort, als bereits alles entartet war. Denn diese Einrichtung galt eben nicht nur als eine
Sitte, sondern als unverletzliches Gesetz. Es war eben damals noch die Ehrfurcht vor der göttlichen
Stiftung lebendig, und man zweifelte nicht daran, daß es ein Gottesraub sei, wenn man das, was der
Herr verbunden hatte, auseinanderriß. Spricht sich doch Gelasius (von Rom) folgendermaßen aus: "Wir
haben erfahren, daß manche bloß ein Stück des heiligen Leibes nehmen, sich aber des Kelches
enthalten; diese sollen nun, da sie in irgendwelchem Aberglauben befangen zu sein scheinen,
unstreitig entweder die Sakramente ungeteilt empfangen oder vom ungeteilten Sakrament ferngehalten
werden" (Brief 37; wiedergegeben Decretum Gratiani III, Von der Konsekration 2,12). Eine
Zerteilung dieses Geheimnisses (Sakraments) kann eben nicht ohne furchtbare Heiligtumsschändung
eintreten! Man vernahm doch auch die Gründe des Cyprian, die einen christlichen Sinn sicherlich
bewegen müssen; ersagt: "Wieso sollen wir diese Menschen lehren und auffordern, über dem
Bekenntnis Christi ihr Blut zu vergießen, wenn wir ihnen, wo sie ihren Kriegsdienst leisten sollen,
Christi Blut versagen? Und wie sollen wir sie zu dem Kelch des Martyriums geschickt machen, wenn wir
sie nicht zuvor dazu zulassen, in der Kirche kraft des Rechtes der Gemeinschaft den Kelch des Herrn
zu trinken?" (Von den Abgefallenen 25). Daß nun aber die kirchlichen Rechtsgelehrten jene (oben
erwähnte) Verordnung des Gelasius auf die Priester einschränken, das ist eine zu kindische
Ausflucht, als daß sie einer Widerlegung bedürfte.
IV,17,50 Ich frage drittens: Warum hat der Herr von dem Brot einfach gesagt,
die Jünger sollten es essen, von dem Kelch aber: "Trinket alle daraus" (Matth. 26,27)? Es ist
doch so, als ob er der Schalkheit des Satans mit vorbedacht hätte entgegentreten wollen! Viertens:
Wenn der Herr — wie die Papisten das wollen — bloß Priester seines Abendmahls gewürdigt hat,
so möchte ich wissen, wer unter den Menschen es dann je gewagt hätte, Außenstehende (d.h. "Laien")
zur Teilnahme an diesem Mahl herbeizurufen, die der Herr doch ausgeschlossen hätte, und zwar noch
zur Teilnahme an einer Gabe, über die dem Menschen keine Gewalt zustand, ohne jegliche Weisung
dessen, der solche Gabe allein zu geben vermochte! Ja, aus welcher Zuversicht nehmen sie sich denn
heutzutage das Recht, daß sie das Merkzeichen des Leibes Christi an das "Laienvolk" austeilen,
wenn sie doch weder eine Weisung noch ein Beispiel des Herrn dazu haben? Fünftens: Hat etwa Paulus
gelogen, als er zu den Korinthern sagte: "Ich habe es von dem Herrn empfangen, das ich euch
gegeben habe" (1. Kor. 11,23)? Er setzt nämlich nachher auseinander, was er ihnen "gegeben"
hat, nämlich (unter anderem) dies, daß sie alle ohne Unterschied beide Merkzeichen im Abendmahl
empfangen sollten. Hatte es nun aber Paulus "von dem Herrn empfangen", daß alle ohne
Unterschied zugelassen werden sollten, so sollen die, welche fast das gesamte Volk Gottes wegweisen,
wohl zusehen, von wem sie das "empfangen" haben! Denn Gott können sie nun nicht mehr als
Urheber vorschützen: bei ihm gibt es nicht "Ja und Nein" (2. Kor. 1,19). Nun wagen sie aber
immer noch, für solche Abscheulichkeiten den Namen der Kirche vorzuschützen und sie unter diesem
Vorwand zu verteidigen — als ob diese Antichristen, die Christi Lehre und Stiftung so leichtfertig
zertreten, zerstören und abschaffen, die Kirche wären, oder als ob die apostolische Kirche, in der
die ganze Kraft der Religion in Blüte stand, keine Kirche gewesen wäre!
Von der päpstlichen Messe, einer Heiligtumsschändung, durch die das Abendmahl
Christi nicht nur entweiht, sondern zunichte gemacht worden ist
IV,18,1 Mit diesen und dergleichen Erfindungen hat der Satan, gleichsam wie
durch Verbreitung von Finsternis, das heilige Mahl Christi zu entstellen und zu besudeln versucht,
damit seine Reinheit nur ja nicht in der Kirche erhalten bleibe. Diese schreckliche Abscheulichkeit
aber hat ihren Gipfel erreicht, als er ein Zeichen aufrichtete, mit dem das Abendmahl nicht nur
verdunkelt und verkehrt, sondern völlig getilgt und abgeschafft werden sollte, um dadurch zum
Verschwinden gebracht und aus dem Gedächtnis der Menschen entfernt zu werden. Das geschah nämlich,
als er fast die ganze Welt mit dem furchtbar verderbenbringenden Irrtum verblendete, daß sie
glaubte, die Messe sei ein Opfer und eine dargebrachte Gabe, kraft deren man die Vergebung der
Sünden erlangte. In welcher Weise die vernünftigeren Schultheologen im Anfang diese Lehre
aufgefaßt haben, darum kümmere ich mich nicht — ich will sie mit ihren spitzfindigen
Scharfsinnigkeiten fahrenlassen; denn diese müssen, mag man sie allenfalls auch mit Ausflüchten
verteidigen, trotzdem aus dem Grunde von allen rechtschaffenen Leuten verworfen werden, daß sie
nichts tun, als die Klarheit des Abendmahls mit viel Finsternis zu bedecken. Diese Dinge will ich
also fahrenlassen, und der Leser möge begreifen, daß ich mich hier mit der Meinung in Streit
begebe, mit welcher der römische Antichrist und seine Propheten die ganze Welt erfüllt haben,
nämlich mit der Meinung, die Messe sei ein Werk, vermöge dessen sich der Priester, der Christus
opferte, und die anderen Menschen, die an dem Opfer teilnähmen, bei Gott ein Verdienst erwürben,
oder auch: die Messe sei ein Sühnopfer, durch das sie Gott mit sich versöhnten. Und das ist nun
nicht nur von der allgemeinen Ansicht der großen Menge so angenommen werden, nein, auch die
Handlung selbst ist so eingerichtet, daß sie eine Art von Beschwichtigung sein soll, durch die man
Gott zwecks Versöhnung der Lebendigen und der Toten Genüge leisten will. Das geben auch die Worte
zu erkennen, die die Römischen dabei gebrauchen, und aus der tagtäglichen Übung läßt sich
ebenfalls nichts anderes entnehmen. Wie tiefe Wurzeln diese Pest geschlagen hat, das weiß ich; ich
weiß auch, wie mächtig der Schein einer guten Sache ist, unter dem sie sich verbirgt; ich weiß,
wie diese Pest den Namen Christi als Vorwand benutzt und viele Leute des Glaubens sind, in dem einen
Namen "Messe" hätten sie die ganze Summe des Glaubens zusammengefaßt. Nun wird aber auf Grund
des Wortes Gottes mit höchster Deutlichkeit nachgewiesen werden, daß die Messe, so schön und
glänzend sie auch erscheinen mag, (1) Christus besonders schlimme Schmach antut, daß sie (2) sein
Kreuz begräbt und unterdrückt, (3) seinen Tod in Vergessenheit geraten läßt und (4) die Frucht,
die uns aus ihm erwachsen ist, beiseite schafft, es wird bewiesen werden, daß sie (5) das
Sakrament, in dem das Gedächtnis des Todes Christi verblieben war, entkräftet und hinfällig
macht. Ist das aber bewiesen — wird es dann wohl Wurzeln geben, die so tief sitzen, daß dies
Beil, nämlich das Wort Gottes, sie nicht zerschlägt und aus dem Boden heraushaut, wird dann wohl
ein Schein vorhanden sein, der so glänzend wäre, daß das Übel sich darunter verbergen könnte
und von diesem Licht nicht an den Tag gebracht würde?
IV,18,2 (1) Wir wollen also jetzt zeigen, was wir oben an die erste Stelle
gesetzt haben nämlich daß Christus in der Messe eine unerträgliche Lästerung und Schmach angetan
wird. Denn er ist doch vom Vater zum Priester und Hohenpriester (Pontifex) geweiht worden. Und zwar
hat das nicht nur für eine bestimmte Zeit gegolten, wie es nach unseren Berichten mit den im Alten
Bunde eingesetzten Priestern der Fall war; denn ihr Leben war sterblich, und deshalb konnte ihr
Priesteramt nicht unsterblich sein; aus diesem Grunde waren auch Nachfolger nötig, die immer wieder
an die Stelle der Verstorbenen gesetzt werden mußten. Christus aber ist unsterblich, und darum ist
es durchaus nicht vonnöten, daß an seine Stelle ein Statthalter tritt. Daher ist er vom Vater als
Priester für alle Ewigkeit eingesetzt worden, nach der Ordnung Melchisedeks: er soll eben ein ewig
dauerndes Priestertum ausüben (Hebr. 5,5.10; 7,17.21; 9,11; 10,21; Ps. 110,4; Gen. 14,18). Dies
Geheimnis war lange Zeit zuvor in Melchisedek bildlich dargestellt worden: die Schrift führt ihn
einmal als Priester des lebendigen Gottes ein, erwähnt ihn aber dann später nie mehr — als ob
sein Leben niemals ein Ende genommen hätte. Das ist die Ähnlichkeit, um derentwillen Christus als
Priester nach der Ordnung Melchisedeks bezeichnet worden ist. Wer nun aber Tag für Tag opfert, der
muß unumgänglich Priester bestellen, um diese Opfer zu vollziehen; diese Priester muß man dann
für Christus einsetzen, und zwar als Nachfolger oder als Platzhalter. Setzt man sie aber an Christi
Statt, so entreißt man ihm nicht nur seine Ehre und raubt ihm das Vorrecht des ewigen Priestertums,
sondern man versucht ihn damit auch von der Rechten des Vaters zu vertreiben; denn da kann er nicht
als der Unsterbliche seinen Sitz haben, ohne zugleich auch der ewige Priester zu bleiben. Die
Römischen sollen auch nicht behaupten, ihre Priester träten nicht an Christi Stelle, als ob er
gestorben wäre, sondern sie seien bloß dienstbare Helfer an seinem ewigen Priestertum, das deshalb
nicht aufhöre, seinen Bestand zu haben. Denn es gibt ein Wort des Apostels, das sie so stark in die
Enge treibt, daß sie sich nicht herauswinden können. Der Apostel sagt nämlich: "Und jener sind
viele, die Priester wurden, darum daß sie der Tod nicht bleiben ließ" (Hebr. 7,23). Demnach ist
also Christus, den der Tod nicht (am "Bleiben") hindert, der einzige Priester, und er bedarf
keiner Mitgenossen. Aber unverschämt, wie sie sind, wappnen sie sich zur Verteidigung ihrer
Gottlosigkeit mit dem Beispiel des Melchisedek. Weil es nämlich von ihm heißt, er habe Brot und
Wein dargebracht, so ziehen sie daraus den Schluß, es habe sich da um ein Vorspiel ihrer Messe
gehandelt — als ob die Gleichartigkeit zwischen ihm und Christus in der Darbringung von Brot und
Wein bestünde! Das ist doch zu inhaltlos und oberflächlich, als daß es einer Widerlegung
bedürfte! Melchisedek reichte dem Abraham und seinen Begleitern Brot und Wein, um sie in ihrer
Erschöpfung durch Marsch und Kampf damit zu erquicken — was hat das aber mit einem Opfer zu tun
(das man doch Gott darbringt)? Die Freundlichkeit des Königs wird von Mose gelobt (Gen. 14,18) —
und daraus machen sich unsere Widersacher in ihrem Ungestüm ein Geheimnis (Sakrament) zurecht, von
dem doch gar nicht die Rede ist! Aber noch eine andere Deckfarbe wenden sie an, um ihrem Irrtum
einen schönen Schein zu geben; sie berufen sich nämlich darauf, daß es gleich nachher heißt: "Und
er war ein Priester Gottes des Höchsten" (Gen. 14,18). Ich antworte, daß sie das, was der
Apostel auf die Segnung bezieht, verkehrterweise auf Brot und Wein wenden (als ob das Priestertum
des Melchisedek in der Gabe von Brot und Wein seinen Ausdruck gefunden hätte). Es verhielt sich
also so: da Melchisedek ein Priester Gottes war, so segnete er den Abraham (Gen. 14,19). Daraus
folgert der nämliche Apostel — und einen besseren Ausleger als ihn kann man doch nicht suchen —
die hervorragende Würde des Melchisedek, und zwar, weilder Geringere von dem Überlegenen den Segen
empfängt (Hebr. 7,7). Ich möchte doch wissen, ob der Apostel, wenn die Darbringung des Melchisedek
(d.h. die Gabe von Brot und Wein) eine bildliche Darstellung des Meßopfers wäre, einen so ernsten
und wichtigen Sachverhalt vergessen hätte, wo er doch auch die kleinsten Dinge untersucht. Aber sie
mögen schwatzen, was sie wollen, so werden sie sich doch vergebens bemühen, die Begründung
umzustoßen, die der Apostel selber anführt, nämlich die, daß das Recht und die Würde des
Priestertums unter den sterblichen Menschen aufhört, weil Christus, der unsterblich ist, der einige
und immerwährende Priester ist.
IV,18,3 (2) Als zweite "Tugend" der Messe haben wir es bezeichnet, daß
sie Christi Kreuz und Leiden unterdrückt und zudeckt. Nun ist es völlig sicher, daß Christi Kreuz
sogleich umgestürzt wird, wenn man einen Altar errichtet. Denn wenn er sich am Kreuze selbst zum
Opfer darbrachte, um uns für immerdar zu heiligen und uns eine ewige Erlösung zu erwerben (Hebr.
9,12), so hat ohne jeden Zweifel die Kraft und Wirkung seines Opfers ohne Ende fort und fort ihren
Bestand. Wäre es nicht so, so hätten wir von Christus keine ehrenvollere Meinung als von den
Ochsen und Kälbern, die unter dem Gesetz geschlachtet wurden und deren Opferung sich dadurch als
unwirksam und schwach erwies, daß sie eben öfters wiederholt wurde. Man muß also entweder
bekennen, daß dem Opfer Christi, das er am Kreuze vollbrachte, die Kraft zu einer ewigen Reinigung
fehlte, oder man muß zugeben, daß er einmal ein einziges Opfer für alle Zeiten vollzogen hat.
Eben dies meint der Apostel, wenn er sagt, dieser oberste Hohepriester, nämlich Christus, sei "einmal",
"am Ende der Welt" "durch sein eigen Opfer erschienen", um "die Sünde aufzuheben"
(Hebr. 9,26). Und das gleiche ist gemeint, wenn es an anderer Stelle heißt: "In dem Willen Gottes
sind wir geheiligt auf einmal durch das Opfer des Leibes Jesu Christi" (Hebr. 10,10; Anfang nicht
ganz Luthertext), oder ebenso, wenn er sagt: "Mit einem Opfer hat Christus in Ewigkeit vollendet,
die geheiligt werden" (Hebr. 10,14; fast ganz Luthertext). Diesem Worte läßt der Apostel die
herrliche Aussage folgen, nachdem wir einmal Vergebung der Sünden empfangen hätten, bliebe uns
fürder kein Opfer mehr (Hebr. 10,18.26). Das gleiche hat auch Christus mit seinem letzten Wort zu
verstehen gegeben, das er in den letzten Zügen gesprochen hat, nämlich mit dem Wort: "Es ist
vollbracht" (Joh. 19,30). Wir pflegen doch auf die letzten Worte von Sterbenden wie auf Orakel zu
achten. Nun bezeugt Christus im Sterben, daß mit seinem einigen Opfer alles vollbracht und erfüllt
ist, was zu unserer Seligkeit diente. Soll es uns da erlaubt sein, diesem Opfer, dessen
Vollgenugsamkeit er so deutlich gepriesen hat, Tag für Tag ungezählte neue hinzuzufügen, als ob
es unvollständig wäre? Gottes Wort behauptet doch nicht nur, sondern es ruft auch laut aus und
bezeugt, daß dies Opfer einmal vollbracht ist und seine Kraft ewige Dauer hat. Ist es nun nicht so,
daß einer, der ein anderes verlangt, dieses Opfer der Unvollkommenheit und Schwachheit beschuldigt?
Wozu dient nun aber die Messe, die mit der Bestimmung eingerichtet ist, daß Tag für Tag
hunderttausend Opfer vollzogen werden, anders als dazu, daß Christi Leiden, mit dem er sich selbst
als das einige Opfer dem Vater dargebracht hat, begraben und versunken darniederliegt? Wer wird,
wofern er nicht blind ist, verkennen, daß es die Vermessenheit des Satans gewesen ist, die sich
einer so offenen und klaren Wahrheit widersetzte? Es ist mir auch nicht verborgen, was für
Gaukeleien dieser Vater der Lüge als Vorwand zu seinem Betrug zu benutzen pflegt; er sagt nämlich,
es handele sich nicht um vielfältige und verschiedene Opfer, sondern es werde vielmehr eines und
dasselbe häufig wiederholt. Aber dergleichen Nebel sind ohne Mühe zu zerstreuen. Denn der Apostel
behauptet in der ganzen Auseinandersetzung, daß esnicht nur kein anderes Opfer gibt, sondern daß
auch jenes eine Opfer einmal dargebracht worden ist und nicht mehr wiederholt werden soll.
Spitzfindigere Leute ziehen sich mit einer noch dunkleren Ausflucht aus der Sache heraus: sie sagen,
es handele sich hier nicht um eine Wiederholung, sondern um eine Zueignung (des Opfers Christi).
Aber auch diese Klüglingsweisheit ist durchaus nicht schwieriger zu widerlegen. Denn als Christus
sich einmal zum Opfer darbrachte, da geschah das nicht mit der Bestimmung, daß dies sein Opfer Tag
für Tag durch neue Opfer Gültigkeit erlangte, nein, er hat es getan, damit uns die Frucht dieses
Opfers durch die Predigt des Evangeliums und die Verwaltung des Heiligen Abendmahls zuteil werde. So
sagt Paulus, daß Christus als unser "Osterlamm" geschlachtet worden ist, und gebietet uns zu
essen (1. Kor. 5,7f.). Die Art und Weise, wie uns das Opfer am Kreuz rechtmäßig zugeeignet wird,
besteht, so behaupte ich, darin, daß es uns zum Genießen zuteil gegeben wird und wir es in wahrem
Glauben annehmen.
IV,18,4 Aber es ist der Mühe wert zu vernehmen, auf was für ein Fundament
die Papisten sonst noch das Meßopfer gründen. Es gibt nämlich eine Weissagung des Maleachi in
welcher der Herr verheißt, es solle einst auf der ganzen Erde seinem Namen "geräuchert und ein
reines Speisopfer geopfert werden" (Mal. 1,11). Diese Weissagung beziehen die Papisten auf die
hier vorliegende Frage! Als ob es für die Propheten etwas Neues oder Ungewöhnliches wäre, daß
sie, wenn von der Berufung der Heiden die Rede ist, die geistliche Verehrung Gottes, zu der sie sie
ermahnen, mit den äußerlichen Bräuchen des Gesetzes ausdrücken! Damit wollen sie doch den
Menschen ihrer Zeit nur faßlicher zeigen, daß die Heiden zur wahren Gemeinschaft der
Gottesverehrung berufen werden sollten. In dieser Weise pflegen sie allgemein die Wahrheit der
Dinge, die durch das Evangelium vor Augen gestellt worden ist, mit den Abbildern ihrer Zeit zu
beschreiben. So setzen sie für die Bekehrung zum Herrn das Hinaufsteigen nach Jerusalem (Jes.
2,2ff.; Micha 4,1ff.), für die Anbetung Gottes die Darbringung von Gaben aller Art (Ps. 68,30;
72,10; Jes. 60,6ff.) und für die reichlichere Erkenntnis Gottes, mit der die Gläubigen im Reiche
Christi begabt werden sollten, "Träume" und "Gesichte" (Joel 3,1). Die Stelle, die unsere
Widersacher anführen, hat also Ähnlichkeit mit einer anderen Weissagung, die Jesaja ausspricht,
wenn er von der Aufrichtung dreier Altäre in Assyrien, Ägypten und Judäa redet (Jes.
19,19.21.23f.). Ich frage nämlich erstens, ob sie denn nicht zugeben, daß diese Verheißung ihre
Erfüllung im Reiche Christi findet. Zweitens frage ich, wo denn nun (in diesem Reiche) jene Altäre
sind oder ob man sie je errichtet hat. Drittens möchte ich wissen, ob die Römischen der Meinung
sind, es sei für jedes (irdische) Reich ein besonderer Tempel bestimmt, wie das ja mit jenem Tempel
zu Jerusalem der Fall war. Wenn sie diese Fragen erwägen, so werden sie meines Erachtens zugeben,
daß der Prophet unter Abbildern, die zu seiner Zeit paßten, eine Weissagung von der künftigen
Ausbreitung der geistlichen Verehrung Gottes über die ganze Erde gibt. Das ist die Antwort, die wir
ihnen erteilen. Weil uns aber dafür immer wieder leicht zugängliche Beispiele begegnen, so will
ich mir mit einer längeren Aufzählung keine Mühe machen. Allerdings sind unsere Widersacher auch
darin in einem jämmerlichen Irrtum befangen, daß sie kein anderes Opfer gelten lassen als das
Meßopfer. Es ist doch so, daß die Gläubigen dem Herrn heutzutage tatsächlich opfern und ihm ein
reines Opfer darbringen (vgl. Mal. 1,11), von dem in Kürze die Rede sein wird.
IV,18,5 (3) Jetzt komme ich auf die dritte "Aufgabe" der Messe zu
sprechen. Dabei muß ich auseinandersetzen, wieso sie den wahren und einigen Tod Christi auslöscht
und aus dem Gedächtnis der Menschen tilgt. Denn wie unter den Menschen die Bekräftigung eines
Testaments vom Tode dessen abhängig ist, der es erteilt, so hat unser Herr auch das Testament,
kraft dessen er uns mit der Vergebung der Sünden und mit ewiger Gerechtigkeit beschenkt hat, mit
seinem Tode bekräftigt. Wer sich erdreistet, an diesem Testament etwas zu ändern oder zu neuern,
der leugnet Christi Tod und behandelt ihn als etwas Bedeutungsloses. Was ist nun aber die Messe
anders als ein neues und völlig andersartiges Testament? Wieso — verheißt nicht jegliche Messe
eine neue Vergebung der Sünden und ein neues Erwerben der Gerechtigkeit, so daß es nun schon
soviel Testamente wie Messen gibt? So muß denn also Christus aufs neue kommen, er muß durch einen
zweiten Tod dies neue Testament, nein, vielmehr durch unermeßlich wiederholtes Sterben diese
zahllosen Testamente in Gültigkeit setzen, die die Messen bedeuten! Habe ich nun also nicht im
Beginn dieser Darlegungen die Wahrheit gesagt, als ich behauptete, durch die Messen werde der einige
und wahre Tod Christi ausgelöscht? Was will man sagen, wo doch die Messe unmittelbar darauf
hinausläuft, daß Christus, wenn es möglich wäre, abermals dahingeschlachtet würde? "Denn wo
ein Testament ist", sagt der Apostel, "da muß der Tod geschehen des, der das Testament machte"
(Hebr. 9,16). Die Messe will aber ein neues Testament sein, also erfordert sie auch (aufs neue) den
Tod Christi. Zudem muß das Opfer, das man darbringt, getötet und geschlachtet werden. Wenn
Christus also in jeder einzelnen Messe geopfert wird, so muß er in jedem Augenblick an tausend
Stellen grausam gemordet werden. Dies Beweisstück stammt nicht von mir, sondern von dem Apostel:
hätte es Christus für nötig gehalten, sich mehrfach zum Opfer darzubringen, so "hätte er oft
leiden müssen von Anfang der Welt her" (Hebr. 9,26). Ich gebe zu, daß die Papisten eine Antwort
zur Hand haben, mit der sie auch uns der Schmähung bezichtigen; sie sagen nämlich, es werde ihnen
hier etwas vorgeworfen, an das sie nie gedacht hätten und nicht einmal hätten denken können. Wir
wissen allerdings, daß Christi Tod und Leben durchaus nicht in ihrer Hand liegt. Ob sie es darauf
anlegen, ihn zu töten, darauf achten wir nicht; wir wollen nur zeigen, was für ein Widersinn sich
aus ihrer gottlosen und schandbaren Lehre ergibt. Eben dies weise ich mit den Worten des Apostels
nach. Sie mögen hundertmal Einspruch erheben und sagen, dies Opfer sei doch "unblutig", so
werde ich doch bestreiten, daß es von dem Gutdünken der Menschen abhängt, daß die Opfer ihre
Natur verändern; denn damit würde Gottes heilige und unverletzliche Stiftung hinfällig werden.
Daraus ergibt sich, daß der Grundsatz des Apostels seinen Bestand behält, wonach Blutvergießen
erforderlich ist, wenn die Abwaschung nicht aufhören soll.
IV,18,6 (4) Jetzt müssen wir das vierte "Amt" der Messe behandeln,
nämlich daß sie uns die Frucht, die uns aus dem Tode Christi zukam, aus der Hand reißt, indem sie
dahin wirkt, daß wir sie nicht erkennen und nicht darüber nachdenken. Denn wer wird daran denken,
daß er durch Christi Tod erlöst ist, wenn er die neue Erlösung in der Messe gesehen hat? Wer wird
darauf vertrauen, daß ihm die Sünden vergeben sind, wenn er die neue Vergebung (in der Messe) zu
Gesichte bekommen hat? Man wird auch nicht entwischen können, wenn man sagt, in der Messe erlangten
wir die Vergebung der Sünden doch aus keinem anderen Grunde, als weil sie uns durch den Tod Christi
bereits erworben sei. Denn man bringt damit nichts anderes vor, als wenn man behauptete, wir seien
von Christus mit der Bestimmung erlöst worden, daß wir uns (hernach) selber erlösten. Denn die
Lehre, welche die Diener des Satans ausgestreut haben und heutzutage mit Geschrei, mit Feuer und
Schwert verteidigen, sieht eben so aus: Wenn wir Christus in der Messe dem Vater zum Opfer
darbringen, so erlangt man durch dies Werk der Opferung Vergebung der Sünden und wird des Leidens
Christi teilhaftig. Was bleibt dann vom Leiden Christi übrig, als daß es ein Vorbild der Erlösung
ist, an dem wir lernen sollen, unsere eigenen Erlöser zu sein? Als Christus im Abendmahl die
Zuversicht auf Vergebung besiegelt, da gibt er seinen Jüngern nicht das Gebot, an jener Handlung
hängenzubleiben, sondern verweist sie auf das Opfer seines Todes und gibt damit zu verstehen, daß
das Abendmahl ein Denkzeichen oder, wie man allgemein sagt, ein Erinnerungsmal (memoriale) war, an
dem sie lernen sollten, daß das Sühnopfer, mit dem Gott versöhnt werden sollte, nur einmal hat
dargebracht werden müssen. Denn es ist nicht genug, wenn man daran festhält, daß Christus das
einige Opfer ist, nein, man muß zugleich auch wissen, daß es nur eine Opferung gibt: unser Glaube
soll sich also an sein Kreuz festheften.
IV,18,7 (5) Jetzt komme ich auf den Abschluß des Ganzen zu sprechen,
nämlich darauf, daß das Heilige Abendmahl, in dem der Herr das Gedächtnis seines Leidens
eingegraben und ausgeprägt hinterlassen hatte, durch die Aufrichtung der Messe aufgehoben,
durchgestrichen und hinfällig gemacht worden ist. Denn das Abendmahl selbst ist eine Gabe Gottes,
die mit Danksagung empfangen werden sollte. Das Opfer in der Messe dagegen zahlt Gott angeblich
einen Preis, den er dann als Genugtuung annähme. Das Opfer in der Messe ist also von dem Sakrament
des Abendmahls so verschieden, wie es Geben und Empfangen sind. Aber das ist nun die elendige
Undankbarkeit des Menschen, daß er eben da, wo er die Freigebigkeit der göttlichen Güte erkennen
und für sie Dank sagen sollte, Gott zu seinem Schuldner macht. Das Sakrament gab uns die
Verheißung, daß wir durch Christi Tod nicht nur einmal ins Leben zurückgebracht, sondern fort und
fort lebendig gemacht werden sollen, weil darin unser Heil in vollem Maße zustande gebracht ist.
Das Meßopfer aber singt uns ein weit anderes Liedlein: Christus müsse Tag für Tag geopfert
werden, um uns einen Vorteil zu bringen! Das Abendmahl sollte in der öffentlichen Versammlung der
Kirche ausgeteilt werden, um uns über die Gemeinschaft zu belehren, in der wir allein in Christus
Jesus verbunden sind. Diese Gemeinschaft wird durch das Meßopfer aufgelöst und auseinandergezerrt;
denn nachdem der Irrtum Eingang gefunden hat, es müßten Priester da sein, die für das Volk
opferten, da hat man so getan, als ob das Abendmahl ihnen vorbehalten wäre, und deshalb aufgehört,
es nach der Weisung des Herrn an die Kirche der Gläubigen auszuteilen. Dadurch ist den Privatmessen
der Zugang eröffnet worden, die mehr nach einer Ausschließung vom Abendmahl aussehen als nach der
Gemeinschaft, die vom Herrn gestiftet worden ist, indem sich ja der Priester absondert, um sein "Opfer"
zu verzehren, und sich damit von dem ganzen Volk der Gläubigen trennt. Unter "Privatmesse"
verstehe ich, damit sich niemand täuscht, jegliche Messe, bei der keine Austeilung des Herrnmahles
an die Gläubigen stattfindet, mag auch sonst eine große Menschenmenge dabei sein.
IV,18,8 Wo nun das Wort "Messe" selbst seinen Ursprung hat, das habe ich
niemals sicher feststellen können. Nur ist es mir wahrscheinlich, daß es von den Opfergaben
genommen ist, die man zusammenlegte. Darum gebrauchen es auch die Alten durchweg in der Mehrzahl.
Aber — um die Auseinandersetzung über das Wort fahrenzulassen — ich behaupte, daß die
Privatmessen mit Christi Stiftung schlechthin im Widerspruch stehen und deshalb eine gottlose
Entweihung des Heiligen Abendmahls darstellen. Denn was hat uns der Herr aufgetragen? Hat er nicht
geboten, wir sollten (Brot und Wein) "nehmen" und unter uns verteilen? Und wie sieht die
Innehaltung dieses Gebots nach der Lehre des Paulus aus? Besteht sie nicht im Brotbrechen, das die
Gemeinschaft des Leibes und Blutes Christi sein soll (1. Kor. 10,16)? Wie soll es nun mit dieser
Weisung im Einklang stehen, wenn bloß einer (Brot und Wein) empfängt, ohne (sie) auszuteilen?
Aber, so entgegnet man wohl, dieser eine handelt doch im Namen der ganzen Kirche: Welchen Auftrag
hat er denn dazu? Heißt es nicht, offen mit Gott seinen Spott zu treiben, wenn einer für sich
allein an sich reißt, was doch unter vielen hätte geschehen sollen? Aber weil die Worte Christi
und des Paulus klar genug sind, so kann man in aller Kürze zu dem Ergebnis kommen: überall, wo
nicht das Brot zur Gemeinschaft der Gläubigen gebrochen wird, da haben wir es nicht mit dem Mahl
des Herrn, sondern mit einer falschen und verkehrten Nachahmung des Abendmahls zu tun. Falsche
Nachahmung aber ist Verfälschung. Nun geschieht aber die Verfälschung eines so wichtigen
Geheimnisses (Sakraments) nicht ohne Gottlosigkeit. Also liegt in den Privatmessen ein gottloser
Mißbrauch vor. Und wie nun der eine Fehler in der Religion sogleich den zweiten gebiert, so haben
die Papisten, nachdem sich einmal die Sitte eingeschlichen hatte, ohne gemeinschaftlichen Genuß des
Sakraments zu "opfern", nach und nach damit angefangen, an jeder Ecke ihrer Kirchengebäude
ungezählte Messen zu halten und das Volk, das sich doch, um das Geheimnis (Sakrament) seiner
Einheit zu erkennen, zu einer Versammlung hätte vereinen sollen, in den verschiedensten Richtungen
auseinanderzuzerren. Jetzt sollen sie hergehen und behaupten, es sei keine Abgötterei, daß sie in
ihren Messen das Brot zeigen, damit es an Christi Statt angebetet werde. Denn es ist vergebens, daß
sie sich auf jene Verheißungen von der Gegenwart Christi berufen, die, wie man sie auch verstehen
mag, jedenfalls nicht dazu gegeben sind, daß unreine und unheilige Menschen, sooft sie wollen und
zu jedem ihnen passenden Mißbrauch den Leib Christi ihrer "Behandlung" unterwerfen, sondern
vielmehr dazu, daß die Gläubigen, indem sie bei der Feier des Abendmahls in frommer Achtsamkeit
der Weisung Christi folgen, das wahre Teilhaben an ihm genießen.
IV,18,9 Zudem muß man bedenken, daß diese Verkehrtheit der Kirche in ihrer
reineren Gestalt unbekannt gewesen ist. Denn die unverschämteren unter unseren Widersachern mögen
sich noch so sehr bemühen, hier einen schönen Schein zu machen, so ist es dennoch mehr als gewiß,
daß die ganze Alte Kirche gegen sie steht. Das haben wir oben in anderen Punkten nachgewiesen, und
auf Grund eines fleißigen Lesens der Alten wird man es noch sicherer feststellen können. Aber
bevor ich meine Darlegungen abschließe, möchte ich unseren Meßlehrern noch eine Frage vorlegen:
sie wissen doch, daß bei Gott "Gehorsam besser ist denn Opfer" (1. Sam. 15,22) und daß er
nachdrücklicher fordert, daß man auf seine Stimme hört, als daß man ihm Opfer darbringt; wie
kommen sie nun zu dem Glauben, daß diese Art zu "opfern" Gott wohlgefällig sei, obwohl sie
doch keinen Auftrag dazu besitzen und obwohl sie sehen, daß sie nicht durch eine einzige Silbe der
Schrift gutgeheißen wird? Und zudem: sie hören doch, wie der Apostel sagt, es nehme niemand Namen
und Ehre des Priestertums an als der, der berufen sei wie Aaron, ja, auch Christus selbst habe sich
nicht eingedrängt, sondern sei der Berufung des Vaters gehorsam gewesen (Hebr. 5,4f.). Wenn es sich
aber so verhält, so müssen sie entweder nachweisen, daß Gott ihr Priestertum begründet und
eingerichtet hat — oder aber zugeben, daß diese (von ihnen in Besitz gehaltene) Würde nicht von
Gott ist und sie ohne Berufung in unverschämter Vermessenheit darin eingebrochen sind. Sie können
nun aber auch nicht einen Tüttel vorschützen, der ihr Priestertum deckte. Weshalb sollen nun also
ihre Opfer nicht hinfällig werden, die doch (wie sie behaupten) ohne Priester nicht dargebracht
werden können?
IV,18,10 Wenn nun jemand hierher und dorther Aussagen der alten
Kirchenlehrer zusammenstückelt, sie uns gewaltsam entgegenhält und auf Grund ihrer Autorität
behauptet, das Opfer, das im Abendmahl vollzogen werde, müsse anders verstanden werden, als wir es
darlegen, so soll ihm in Kürze die Antwort zuteil werden: wenn es sich darum handelt, das
selbsterdachte Opfer zu bestätigen, das sich die Papisten in der Messe zurechtgemacht haben, so
gewähren die Alten einer solchen Heiligtumsschändung durchaus keinen Beistand. Sie gebrauchen
allerdings das Wort "Opfer", aber sie setzen zugleich auseinander, daß sie darunter nichts
anderes verstehen als die Erinnerung an jenes wahre und einige Opfer, das Christus, der, wie sie es
selber immer wieder aussprechen, unser einiger Priester ist, am Kreuze vollbracht hat. "Die
Hebräer", so sagt Augustin, "feierten in den Tieropfern, die sie Gott brachten, die Weissagung
von jenem zukünftigen Opfer, das Christus dargebracht hat; die Christen feiern das Gedenken an das
bereits vollzogene Opfer durch die heilige Opferung und das Teilhaftigwerden des Leibes Christi"
(Gegen den Manichäer Faustus XX,18). Hier lehrt er unzweifelhaft voll und ganz das gleiche, was
sich ausführlicher in dem Buche "Vom Glauben an Petrus Diaconus" findet, wer schließlich auch
sein Verfasser sein mag. Diese Worte lauten: "Halte es ganz fest und zweifle durchaus nicht daran,
daß sich der Eingeborene selbst, der für uns Fleisch geworden ist, für uns als Opfer und
hingelegte Gabe, Gott zu einem süßen Geruch, dargebracht hat; ihm wurden zusammen mit dem Vater
und dem Heiligen Geiste zur Zeit des Alten Testaments Tiere geopfert, und ihm, zusammen mit dem
Vater und dem Heiligen Geiste, mit denen er eine und die nämliche Gottheit innehat, bringt nun die
heilige Kirche auf der ganzen Welt ohne Aufhören das Opfer von Brot und Wein dar. Denn in jenen
fleischlichen Opfern lag eine Abbildung des Fleisches Christi, das er selbst für unsere Sünden
darbringen, und seines Blutes, das er zur Vergebung der Sünden vergießen sollte. In diesem Opfer
(der Kirche) aber liegt eine Danksagung und Erinnerung im Blick auf das Fleisch Christi, das er für
uns dargebracht, und das Blut, das er für uns vergossen hat" (Fulgentius von Ruspe, Vom Glauben
an Petrus Diaconus 19). Daher legt es auch Augustin an zahlreichen Stellen so aus, daß es sich hier
um nichts anderes handle als um ein Opfer des Lobes (Gegen einen Widersacher des Gesetzes und der
Propheten I,18,37; 20,39; auch sonst). Schließlich wird man bei ihm immer wieder die Äußerung
finden, daß das Mahl des Herrn aus keinem anderen Grunde als Opfer bezeichnet werde, als weil es
ein Gedächtnis, ein Abbild und ein Zeugnis jenes einzigartigen, wahren und einigen Opfers sei, mit
dem uns Christus versöhnt hat. Denkwürdig ist auch eine Stelle im vierundzwanzigsten Kapitel des
vierten Buches seiner Schrift "Von der Dreieinigkeit"; da spricht er zunächst von dem einigen
Opfer und kommt dann zu dem Schluß: "Bei einem Opfer muß man bekanntlich vier Dinge in Betracht
ziehen: wem es dargebracht wird, wer es darbringt, was geopfert wird und für wen es geopfert wird.
Nun bleibt eben unser einiger und wahrer Mittler, indem er uns durch das Opfer des Friedens mit Gott
versöhnt, eins mit dem, dem er solche Opfer darbringt; er hat sich eins gemacht mit denen, für die
er es dargebracht hat, er allein ist der, der es geopfert hat — und zugleich auch das, was er
geopfert hat" (Von der Dreieinigkeit IV,14,19). In demselben Sinne spricht sich auch Chrysostomus
aus (Predigten zum Hebräerbrief 17,3). Die Ehre des Priestertums aber behalten sie Christus vor,
dergestalt, daß Augustin bezeugt, es werde die Stimme des Antichrists sein, wenn jemand den Bischof
zum Mittler zwischen Gott und den Menschen machte (Gegen den Brief des Parmenian II,8).
IV,18,11 Dennoch bestreiten wir nicht, daß uns im Abendmahl die Opferung
Christi dergestalt dargezeigt wird, daß uns der Anblick des Kreuzes schier vor die Augen tritt —
so, wie Christus nach den Worten des Paulus vor den Augen der Galater gekreuzigt worden ist, indem
ihnen die Predigt des Kreuzes vorgetragen wurde (Gal. 3,1). Aber ich sehe, daß auch jene Alten
diese Erinnerung verdreht und ihr einen anderen Sinn gegeben haben, als er der Stiftung Christi
entsprach; ihr Abendmahl trug nämlich die Gestalt von ich weiß nicht was für einem wiederholten
oder wenigstens erneuten Opfer an sich. Deshalb gibt es für fromme Herzen nichts Sichereres, als
bei der reinen und einfachen Anordnung Gottes stehenzubleiben; denn dies Abendmahl wird ja auch
deshalb sein Mahl genannt, weil hier allein seine Autorität in Kraft stehen soll. Weil ich jedoch
wahrnehme, daß die alten Kirchenlehrer das fromme und rechtgläubige Verständnis dieses ganzen
Geheimnisses (Sakraments) beibehalten haben, und weil ich ihnen nicht nachweisen kann, daß sie dem
einigen Opfer des Herrn auch nur den mindesten Eintrag hätten tun wollen, so unterstehe ich mich
nicht, sie irgendwelcher Gottlosigkeit zu bezichtigen. Ich bin jedoch der Ansicht, daß man sie
nicht davon freisprechen kann, daß sie in der Art des Vollzugs (der Handlung) in mancher Hinsicht
fehlgegangen sind. Sie haben sich nämlich der jüdischen Opfersitte mehr angeschlossen, als es
Christus angeordnet hatte oder der Sinn des Evangeliums mit sich brachte. Einzig diese Angleichung
also ist verkehrt, und um ihretwillen könnte man sie verdientermaßen anklagen, weil sie sich mit
der einfachen und reinen Einsetzung Christi nicht zufriedengegeben haben und gar zu sehr zu den
Schatten des Gesetzes zurückgebogen sind.
IV,18,12 Wenn jemand fleißig darüber nachdenkt, so wird er beobachten,
daß das Wort des Herrn zwischen den mosaischen Opfern und unserer Eucharistie dergestalt
unterscheidet, daß jene zwar dem jüdischen Volke die nämliche Wirkung des Todes Christi
veranschaulichten, die uns heute im Abendmahl vor Augen gestellt wird, daß aber die Art der
Veranschaulichung verschieden ist. Denn bei jenen Opfern wurde den levitischen Priestern geboten,
das Opfer bildlich darzustellen, das Christus bringen sollte, es wurde das Opfer(tier) hingestellt,
das an die Stelle Christi selber treten sollte, es war ein Altar da, auf dem es geopfert werden
sollte, kurz, es wurde alles so gehandhabt, daß ein Bild jenes Opfers vor die Augen der Menschen
trat, das Gott zur Versöhnung dargebracht werden sollte. Nachdem dieses Opfer aber nun vollbracht
ist, hat uns der Herr eine andere Art und Weise gelehrt, um nämlich die Frucht des Opfers, das ihm
der Sohn dargebracht hat, auf das gläubige Volk kommen zu lassen. Daher hat er uns einen Tisch
gegeben, an dem wir das Mahl halten sollen, nicht aber einen Altar, auf dem ein Opfer dargebracht
werden soll. Er hat nicht Priester geweiht, die da opfern, sondern Diener, die das heilige Mahl
austeilen sollen. Je erhabener und heiliger das Geheimnis (Sakrament) ist, desto größer muß die
fromme Scheu und die Ehrfurcht sein, mit der es behandelt wird. Es ist also nichts sicherer, als
wenn wir allen Vorwitz der menschlichen Vernunft von uns abtun und uns allein an das halten, was die
Schrift lehrt. Und fürwahr, wenn wir bedenken, daß es sich hier um das Mahl des Herrn, nicht um
ein Mahl von Menschen handelt, so besteht kein Anlaß, daß wir uns von irgendeiner menschlichen
Autorität oder irgendeiner durch lange Jahre vorgezeichneten Sitte auch nur einen Fingerbreit davon
abbringen lassen. Als daher der Apostel das Abendmahl von allen Verkehrtheiten reinigen wollte, die
sich schon in die Kirche der Korinther eingeschlichen hatten, da schlug er dazu den besten Weg ein:
er rief sie zu jener einigen Stiftung zurück und zeigte damit, daß wir aus ihr eine bleibende
Regel entnehmen sollen (1. Kor. 11,20ff.).
IV,18,13 Damit uns nun nicht irgendein händelsüchtiger Mensch aus den
Ausdrücken "Opfer" und "Priester" einen Streit erwachsen laßt, so will ich, allerdings in
zusammenfassender Kürze, auch noch deutlich machen, was ich in dieser ganzen Erörterung unter "Opfer"
und "Priester" verstehe. Manche dehnen das Wort "Opfer" (seiner Bedeutung nach) auf alle
heiligen Zeremonien und gottesdienstlichen Handlungen aus; aber ich sehe nicht, aus was für einem
Grunde sie das tun wollen. Wir wissen, daß nach dem ständigen Gebrauch der Heiligen Schrift als
"Opfer" das bezeichnet wird, was die Griechen bald "thuesía" (Opfer), bald "prosphorá"
(Darbringung), bald "teleté" (Weiheopfer) nennen. Das umfaßt, allgemein verstanden, alles, was
man überhaupt Gott darbringt. Wir müssen also eine nähere Unterscheidung eintreten lassen, aber
doch so, daß diese Unterscheidung ihre Bezogenheit (anagoge) von den Opfern des mosaischen Gesetzes
her hat, unter deren Schatten der Herr seinem Volke die ganze Wahrheit der Opfer vergegenwärtigen
wollte. Obwohl diese Opfer nun von vielfältiger Gestalt gewesen sind, so kann man sie doch alle auf
zwei Grundformen zurückführen. Denn die Opferung geschah entweder (1) um der Sünde willen, und
zwar in der Art einer Genugtuung, durch welche die Schuld vor Gott getilgt wurde, oder sie war (2)
ein Merkzeichen des Gottesdienstes und eine Bezeugung der Gottesfurcht, und zwar bald als demütige
Bitte, mit der man um Gottes Gnade anhielt, bald als Danksagung zur Bezeugung der Dankbarkeit des
Herzens für empfangene Wohltaten, bald auch als einfache Übung der Frömmigkeit zur Erneuerung des
Bundesschlusses. Zu dieser letzteren Gruppe gehörten die Brandopfer und Speisopfer, die Gabenopfer,
die Erstlingsopfer und die Friedensopfer. Demnach wollen auch wir die Opfer in zwei Gruppen
einteilen. Die Opfer der einen Art wollen wir zum Zweck der Unterweisung als "Dienstopfer" oder
"Frömmigkeitsopfer" bezeichnen, weil sie in der Verehrung und im Dienst Gottes bestehen, wie
sie ihm die Gläubigen schuldig sind und erweisen. Wir können sie auch, wenn man das lieber will,
als "Dankopfer" bezeichnen, weil sie Gott nur von solchen Menschen dargebracht werden, die sich
ihm, mit seinen unermeßlichen Wohltaten beladen, mit allem, was sie tun und lassen, hingeben. Die
Opfer der anderen Art nennen wir "Sühne-" oder "Versöhnungsopfer". Die Messe ist kein "Sühn-Opfer"
(1) "Sühnopfer" nennen wir nun ein solches Opfer, das den Zweck hat, Gottes Zorn zu
beschwichtigen, seinem Urteil Genüge zu tun und dadurch die Sünden abzuwaschen und zu tilgen,
damit der Sünder, von ihren Flecken gereinigt und zur Reinheit der Gerechtigkeit zurückgebracht,
bei Gott selbst wieder zu Gnaden kommt. Diesen Namen trugen im Gesetz jene Opfer, die zur Sühne
für die Sünden dargebracht wurden (Ex. 29,36) — nicht weil sie imstande gewesen wären, Gottes
Gnade zu gewinnen oder die Ungerechtigkeit zu tilgen, sondern weil sie eine schattenhafte Andeutung
jenes wahren Sühnopfers sein sollten, das schließlich von Christus allein mit der Tat vollbracht
worden ist. Von ihm allein ist es vollbracht worden, weil das kein anderer vermochte. Und das ist
einmal geschehen, weil nur das eine von Christus vollbrachte Opfer von ewiger Wirkung und Kraft ist,
wie er es selbst mit eigenen Worten bezeugt hat, indem er sagte, es sei "vollbracht" oder
erfüllt (Joh. 19,30), das heißt: alles, was dazu nötig war, die Gnade des Vaters zu gewinnen und
Vergebung der Sünden, Gerechtigkeit und Seligkeit zu erlangen, das ist voll und ganz in diesem
seinem einigen Opfer geleistet und vollendet, und es fehlt daher nichts, so daß weiterhin für ein
anderes Opfer kein Raum mehr bleibt.
IV,18,14 Aus diesem Grunde stelle ich fest, daß sowohl Christus als auch
seinem Opfer, das er durch seinen Tod am Kreuz für uns vollbracht hat, eine ganz ruchlose
Schmähung und untragbare Lästerung angetan wird, wenn jemand durch ein wiederholtes Opfer daran
denkt, sich die Vergebung der Sünden zu erkaufen, Gott zu versöhnen und Gerechtigkeit zu erlangen.
Worum geht es nun aber bei dem Messehalten anders, als daß wir um einer neuen Opferung willen des
Leidens Christi teilhaftig werden sollen? Und damit der Aberwitz kein Maß und Ziel hat, so haben
die Papisten gemeint, es sei zu wenig, wenn sie sagten, es geschehe hier ein gemeinsames Opfer, das
gleichermaßen für die gesamte Kirche Geltung habe; nein, sie haben noch hinzusetzen zu müssen
geglaubt, es stehe in ihrem Belieben, dies Opfer in besonderer Weise dem einen oder anderen
Menschen, je, wie sie es wollten, zuzuwenden — oder besser: jedem beliebigen Menschen, der sich
solche "Ware" mit barem Gelde kaufen will! Da sie nun den Preis, den Judas empfing, nicht haben
erreichen können, so haben sie, um doch wenigstens an einem Merkmal das Vorbild ihres Meisters zu
erkennen zu geben, in der Zahl eine Ähnlichkeit bewahrt. Judas hat Christus für dreißig
Silberlinge verkauft, die Papisten tun es nach französischer Münze um dreißig Kupferpfennige; nur
tat es Judas einmal, die Papisten dagegen tun es, sooft sich ein Käufer einstellt. In diesem Sinne
bestreiten wir auch, daß sie Priester sind, das heißt Leute, die mit solchen Opfern bei Gott für
das Volk einträten und durch Versöhnung Gottes eine Tilgung der Sünden bewirkten. Denn Christus
ist der einige Priester und Hohepriester des Neuen Bundes, auf ihn ist jegliches Priesteramt
übertragen, und in ihm sind sie alle verschlossen und zu ihrem Ende gekommen. Auch wenn die Schrift
von Christi ewigem Priestertum nichts erwähnte, so müßte doch, weil Gott nach Abschaffung jener
alten Priestertümer kein neues gestiftet hat, der Beweisgrund des Apostels unwiderlegt
stehenbleiben, wonach sich niemand diese Ehre nimmt, er sei denn von Gott berufen (Hebr. 5,4). An
was für einer Zuversicht erdreisten sich nun diese Heiligtumsschänder, die sich zu Schlächtern
Christi aufwerfen, sich Priester des lebendigen Gottes zu nennen?
IV,18,15 Es gibt bei Platon im zweiten Buche seines Werkes "Vom Staat"
eine sehr treffliche Stelle. Da spricht er von den alten Sühnopfern und verlacht die törichte
Zuversicht böser und ruchloser Menschen, die da meinten, ihre Opfer seien gleich Decken, unter
denen sich ihre Schandtaten verhüllen könnten, so daß sie von den Göttern nicht gesehen würden,
und die mit den Göttern gleichsam einen Bund gemacht zu haben glaubten und sich dann um so
unbekümmerter gehen ließen. Es kommt einem geradezu so vor, als spiele Platon damit auf die
Sühneübung in der Messe an, wie sie heutzutage in der Welt besteht. Daß es ein Frevel ist, einen
anderen zu betrügen und zu hintergehen, das weiß jedermann. Daß es gottlos ist, die Witwen mit
Ungerechtigkeiten zu quälen, die Waisen auszuplündern, die Armen zu bedrücken, anderer Leute Gut
mit bösen Praktiken an sich zu reißen, auf das Vermögen eines anderen mit Meineid und Betrug
einen Anschlag zu machen und einen Menschen mit Gewalt und tyrannischer Grausamkeit zu unterdrücken
— das gibt jedermann zu. Wie kommt es nun, daß sich so viele Leute das alles zu tun erlauben, als
ob sie es straflos wagen könnten? Fürwahr, wenn wir es recht bedenken, so besteht keine Ursache,
die ihnen soviel Mut macht als eben die, daß sie der Zuversicht sind, sie könnten Gott durch das
Meßopfer wie mit einer entrichteten Zahlung Genugtuung leisten, oder daß sie wenigstens darauf
vertrauen, daß dies für sie ein leicht gangbarer Weg sei, um mit ihm ins reine zu kommen. Dann
geht Platon noch weiter und verlacht den groben Stumpfsinn derer, die der Meinung sind, sie könnten
sich mit dergleichen Sühnopfern von den Strafenloskaufen, die sie sonst in der Unterwelt erleiden
müßten. Und was haben nun heutzutage die Jahrgedächtnisse und der größere Teil der Messen
anders für einen Zweck, als daß Menschen, die ihr ganzes Leben lang die grausamsten Tyrannen oder
die beutegierigsten Räuber gewesen sind oder jeglicher Schandtat ergeben waren, gleichsam mit
diesem "Preis" losgekauft werden und dadurch dem Fegefeuer entrinnen sollen?
IV,18,16 (2) In der zweiten Gruppe von Opfern, die wir als " Dankopfer "
bezeichneten, sind alle Pflichtwerke der Liebe zusammengefaßt, die wir unseren Brüdern erweisen,
um dadurch zugleich den Herrn in seinen Gliedern zu ehren. Ferner gehören hierher alle unsere
Gebete, Lobpreise, Danksagungen und alles, was wir zur Verehrung Gottes tun. All das hängt
schließlich von einem größeren Opfer ab, kraft dessen wir nach Seele und Leib zu einem Tempel
geweiht werden, der dem Herrn heilig ist. Denn es ist nicht genügt wenn unsere äußeren Handlungen
dem Gehorsam gegen ihn dienstbar gemacht werden, nein, zuerst müssen wir ihm selbst geheiligt und
geweiht sein, und dann auch alles, was wir haben, damit alles, was in uns ist, seiner Ehre dient und
den Eifer um ihre Mehrung erkennen läßt. Diese Art von Opfern dient nicht dazu, Gottes Zorn zu
beschwichtigen, Vergebung der Sünden zu erlangen und Gerechtigkeit zu erwerben, sondern sie ist
ausschließlich darin wirksam, Gott zu verherrlichen und zu erheben. Denn Gott kann nur das angenehm
und wohlgefällig sein, was aus den Händen solcher Menschen kommt, die er bereits der Vergebung der
Sünden teilhaftig gemacht, aus einem anderen Grunde mit sich versöhnt und dadurch von der Schuld
losgesprochen hat. Diese Art Opfer aber sind für die Kirche so sehr vonnöten, daß sie ohne sie
nicht sein kann. Daher werden sie in Ewigkeit bleiben, solange Gottes Volk bestehen wird. So haben
wir es schon oben aus dem Propheten ersehen; denn in diesem Sinne mag es verstanden werden, wenn er
die Weissagung gibt: "Vom Aufgang der Sonne bis zum Niedergang soll mein Name herrlich werden
unter den Heiden, und an allen Orten soll meinem Namen geräuchert und reines Speisopfer geopfert
werden; denn mein Name soll herrlich werden unter den Heiden, spricht der Herr" (Mal. 1,11). So
wenig kann die Rede davon sein, daß wir diese Opfer abschaffen sollten! So gebietet auch Paulus,
wir sollten unsere Leiber "begeben" "zum Opfer, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig
sei", — und darin solle dann unser "vernünftiger Gottesdienst" bestehen (Röm. 12,1). Da
hat er sich recht deutlich ausgedrückt, indem er zufügt, dies sei unser "vernünftiger
Gottesdienst". Denn er verstand darunter die geistliche Art und Weise, Gott zu dienen, die er zu
den fleischlichen Opfern des mosaischen Gesetzes stillschweigend in Gegensalz stellte. So werden
auch "Wohltun" und "Mitteilen" als "Opfer" bezeichnet, mit denen man sich Gottes
Wohlgefallen erwerbe (Hebr. 13,16). In demselben Sinne heißt auch die Freundlichkeit der Philipper,
mit der sie dem Mangel des Paulus aufgeholfen haben, ein "Opfer" von süßem Geruch (Phil.
4,18). Im nämlichen Sinne gelten auch alle guten Werke der Gläubigen als geistliche Opfer.
IV,18,17 Wozu soll ich nun so viele Beispiele aufzählen? Diese Redeweise
begegnet einem ja in der Schrift immer wieder! Ja, selbst zu der Zeit, als das Volk Gottes noch
unter der äußeren Zucht des Gesetzes gehalten wurde, haben die Propheten genugsam erklärt, daß
jenen fleischlichen Opfern die Wahrheit innewohne, die die christliche Kirche mit dem jüdischen
Volke gemein hat. Aus diesem Grunde betete David, sein Gebet möge wie ein Brandopfer vor Gottes
Angesicht emporsteigen (Ps. 141,2). Und Hosea nannte die Dankgebete "die Farren unserer Lippen"
(Hos. 14,3). David nennt sie an anderer Stelle Lobopfer (Ps. 51,21). Ihm hat sich der Apostel
angeschlossen; er nennt sie ebenfalls "Lobopfer" und erklärt dann erläuternd: "Das ist die
Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen (Hebr. 13,15). Ohne die Opfer dieser Art kann das Mahl
des Herrn nicht sein; denn wenn wir in diesem Mahle "seinen Tod verkündigen" (1. Kor. 11,26)
und unsere Danksagung kundwerden lassen, so tun wir damit nichts anderes, als daß wir ein solches
Lobopfer darbringen. Auf Grund dieses Opferamtes werden wir Christen alle ein "königliches
Priestertum" genannt (1. Petr. 2,9), weil wir Gott durch Christus jene Opfergabe des Lobes
darbringen, von der der Apostel spricht, nämlich "die Frucht der Lippen, die seinen Namen
bekennen" (Hebr. 13,15). Denn wir erscheinen mit unseren Gaben nicht ohne den vor Gottes
Angesicht, der für uns eintritt. Christus ist es, der als Mittler für uns eintritt, und in ihm
bringen wir uns selber und unsere Gaben dem Vater dar. Er ist unser Hoherpriester, der in das
Allerheiligste des Himmels eingegangen ist und uns den Zugang eröffnet. Er ist der Altar, auf dem
wir unsere Gaben niederlegen, so daß wir alles, was wir wagen, in ihm wagen. Er ist es, so sage
ich, der uns dem Vater zu einem Königreich und zu Priestern gemacht hat (Apk. 1,6).
IV,18,18 Was bleibt nun übrig, als daß den Greuel der Messe selbst Blinde
sehen, Taube hören und Kinder begreifen? Diesen Greuel der Messe, der, in einem goldenen Becher
gereicht, alle Könige und Völker der Erde, vom höchsten bis zum geringsten, dermaßen trunken
gemacht, dermaßen in Taumel und Schwindel versetzt hat, daß sie stumpfer geworden sind als die
Tiere und in diesem einen verderblichen Schlund Kern und Stern ihrer Seligkeit gesehen haben!
Jedenfalls hat der Satan nie mit einem stärkeren Sturmwerkzeug dazu angesetzt, Christi Reich zu
berennen und zu erobern. Das ist die Helena, für welche die Feinde der Wahrheit heutzutage mit
soviel Ungestüm, soviel Wut und Verbissenheit ihre Schlacht schlagen — in Wahrheit eine Helena,
mit der sie sich in geistlichem Ehebruch, der doch von allen der widerwärtigste ist, dermaßen
beflecken! Ich rühre hier die groben Mißbräuche nicht einmal mit dem kleinen Finger an: sie
könnten ja vorschützen, durch diese sei eben die Reinheit ihrer "heiligen Messe" entweiht
worden. Ich berühre es nicht, welchen schnöden Schacher sie treiben, was für schmutzige
Geschäfte sie mit ihren Meßopfern machen und mit was für einer Raubgier sie ihrer Habsucht
Erfüllung verschaffen. Ich deute nur an, und zwar mit wenigen und einfältigen Worten, von welcher
Art die allerheiligste Heiligkeit der Messe selber ist, um derentwillen sie es "verdient" hat,
manche hundert Jahre lang so hoch in Achtung zu stehen und mit so großer Ehrfurcht behandelt zu
werden! Denn einerseits wäre ein größeres Werk vonnöten, um diese großen Geheimnisse nach
Gebühr zu verherrlichen, und andererseits will ich jenen widerwärtigen Schmutz, der allen Menschen
vor Augen liegt und in aller Munde ist, nicht daruntermischen. Es sollen eben alle erkennen, daß
die Messe auch dann, wenn man sie in ihrer erlesensten Reinheit auffaßt, um derentwillen sie am
meisten gerühmt werden mag, also ohne ihre Anhängsel — von der Fußsohle bis zum Scheitel von
jeder Art von Gottlosigkeit, Gotteslästerung, Abgötterei und Heiligtumsschändung übervoll ist.
IV,18,19 Damit haben die Leser in kurzer Überschau beinahe alles zusammen,
was nach meinem Dafürhalten von diesen beiden Sakramenten zu wissen nötig ist, deren Übung der
christlichen Kirche von dem ersten Ursprung des Neuen Bundes bis zum Ende der Welt anbefohlen ist.
Die Taufe soll nämlich gleichsam ein Eingang in die Kirche und die Einweihung in den Glauben sein
und das Abendmahl gleichsam eine immerwährende Speise, mit der Christus die Hausgenossenschaft
seiner Gläubigen geistlich nährt. Wie nun also nur ein Gott ist, ein Glaube, ein Christus und eine
Kirche, die sein Leib ist, so gibt es auch nur eine Taufe, und diese wird nicht mehrfach wiederholt.
Das Abendmahl dagegen wird immer wieder ausgeteilt, damit die, welche einmal in die Kirche
aufgenommen sind, erkennen sollen, daß sie fort und fort in Christus ihre Speise empfangen.Wie
außer diesen beiden Sakramenten kein anderes von Gott gestiftet ist, so darf auch die Kirche der
Gläubigen kein anderes anerkennen. Denn daß es nicht Sache des menschlichen Gutdünkens ist, neue
Sakramente aufzurichten oder einzusetzen, das wird man leicht einsehen, wenn man sich an das
erinnert, was wir oben deutlich genug dargetan haben, nämlich daß die Sakramente von Gott dazu
eingerichtet sind, uns über eine von ihm gegebene Verheißung zu belehren und uns seinen guten
Willen gegen uns zu bezeugen, man wird es, so sage ich, verstehen, wenn man außerdem bedenkt, daß
niemand Gottes Ratgeber gewesen ist (Jes. 40,13; Röm. 11,34), der uns über seinen Willen etwas
Bestimmtes zusagen oder uns darüber Gewißheit und Sicherheit verschaffen könnte, was er uns geben
und was er uns verweigern will. Denn daraus ergibt sich doch auch zugleich, daß niemand in der Lage
ist, uns ein Zeichen vor Augen zu stellen, das ein Zeugnis von seinem Willen oder von irgendeiner
Verheißung sein könnte. Denn er allein ist es, der uns ein Zeichen geben und sich dadurch bei uns
bezeugen kann. Ich will es kürzer und vielleicht gröber, aber dafür klarer aussprechen: Ein
Sakrament kann nie ohne die Verheißung der Seligkeit sein; nun können uns aber alle Menschen, wenn
man sie auch an einem Ort versammelte, von sich selbst aus über unsere Seligkeit keine Zusage
geben; also können sie von sich aus auch kein Sakrament schaffen oder aufrichten.
IV,18,20 Die christliche Kirche soll sich also an diesen beiden Sakramenten
genügen lassen und nicht nur für die Gegenwart kein anderes, drittes, zulassen oder anerkennen,
sondern bis zum Ende der Welt nicht einmal eins begehren oder erwarten. Freilich sind den Juden je
nach den verschiedenen Zeitumständen außer jenen regelmäßigen Sakramenten auch eine Anzahl
anderer gegeben worden, wie das Manna, das Wasser, das aus dem Felsen floß, die eherne Schlange und
ähnliche (Ex. 16,13; 17,6; 1. Kor. 10,3f.; Num. 21,8; Joh. 3,14). Aber durch diese Vielfältigkeit
sollten sie eben dazu ermahnt werden, nicht bei solchen Abbildern stehenzubleiben, deren Bestand gar
zu wenig fest war, sondern vielmehr etwas Besseres von Gott zu erwarten, das ohne Untergang und ohne
Ende bestünde. Weit anders ist es mit uns bestellt, wo uns doch Christus offenbart ist, "in
welchem verborgen liegen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis" (Kol. 2,3), und zwar in
solcher Fülle und solchem überströmenden Reichtum, daß es wahrhaftig hieße, Gott zu reizen und
gegen uns aufzubringen, wenn man einen neuen Zuwachs zu diesen "Schätzen" erhoffen oder
erbitten wollte. Wir sollen nur eins: nach Christus allein hungern, ihn suchen, auf ihn hoffen, ihn
lernen und tiefer kennenlernen, bis jener große Tag aufgegangen ist, an dem der Herr die
Herrlichkeit seines Reiches in ihrer ganzen Fülle offenbaren und sich unseren Blicken zeigen wird,
"wie er ist" (1. Joh. 3,2). Das ist auch der Grund, warum unsere Zeit in der Schrift als "die
letzte Stunde" (1. Joh. 2,18), als der "letzte" Tag (Hebr. 1,2) und mit dem Ausdruck "die
letzten Zeiten" (1. Petr. 1,20) bezeichnet wird: es soll sich niemand mit der eitlen Erwartung
irgendeiner neuen Lehre oder Offenbarung betrügen! Denn nachdem der himmlische Vater "vorzeiten
manchmal und mancherleiweise geredet hat ... durch die Propheten, hat er am letzten in diesen Tagen
zu uns geredet durch seinen" geliebten "Sohn" (Hebr. 1,1f.), der allein den Vater zu
offenbaren vermag (Luk. 10,22) und tatsächlich völlig geoffenbart hat, soweit es für uns von
Belang ist, solange wir ihn jetzt noch "durch einen Spiegel" anschauen (1. Kor. 13,12). Wie es
nun aber den Menschen versagt ist, in der Kirche Gottes neue Sakramente aufbringen zu können, so
wäre es auch zu wünschen, daß den Sakramenten, die von Gott stammen, möglichst wenig
Menschenfündlein beigemischt würden. Denn wie der Wein, wenn man Wasser in ihn hineingießt,
schlaff und kraftlos und wie durch die Einmischung von Sauerteig der ganze Teig gesäuert wird, so
wird auch die Lauterkeit der Geheimnisse (Sakramente) Gottes nur besudelt, wenn der Mensch aus
seinem Eigenen heraus etwas zusetzt. Und doch sehen wir, wie sehr die Sakramente, so wie sie heute
behandelt werden, von ihrer ursprünglichen Reinheit entartet sind. Allenthalben findet man mehr als
genug Prunk, Zeremonien und Gebärden, aber auf Gottes Wort nimmt man unterdessen keinen Bedacht und
erwähnt es nicht, während doch ohne dies Wort auch die Sakramente selbst keine Sakramente sind!
Ja, auch die von Gott eingesetzten Zeremonien können unter dieser großen Masse ihr Haupt nicht
erheben, sondern liegen gleichsam verschüttet darnieder. Wie wenig sieht man bei der Taufe von dem,
was dabei allein hätte erscheinen und angeschaut werden sollen, nämlich, wie wir es anderwärts
mit Recht beklagt haben, von der Taufe selbst? Das Abendmahl ist völlig begraben worden, als man es
in die Messe umgewandelt hat — einzig, daß man es einmal im Jahre, aber dann in zerrissener,
halbierter und zerfetzter Gestalt zu sehen bekommt!
Von den fünf fälschlich so genannten Sakramenten; hier wird erklärt, daß die
fünf anderen Sakramente, die man bisher allgemein für solche gehalten hat, keine Sakramente sind,
auch wird gezeigt, welche Art sie tragen
IV,19,1 Die obige Erörterung über die Sakramente könnte bei gelehrigen und
nüchternen Leuten soviel erreichen, daß sie nicht gar zu vorwitzig über das Ziel hinausgingen und
außer jenen beiden Sakramenten, von denen sie wissen, daß sie vom Herrn gestiftet sind, keinerlei
andere ohne Gottes Wort annähmen. Nun ist aber jene Meinung von den sieben Sakramenten im Gerede
fast aller Menschen eine gewohnte Sache, sie ist in allen Schulen und Predigten verbreitet, hat
schon in der Alten Kirche ihre Wurzeln geschlagen und sitzt auch jetzt noch in den Herzen der
Menschen fest. Daher habe ich gemeint, ich würde etwas tun, das der Mühe wert ist, wenn ich die
fünf übrigen Sakramente, die man allgemein den wahren und ursprünglichen Sakramenten des Herrn
zuzählt, für sich allein und genauer untersuchte und nach Abstreifung alles schönen Scheins den
Blicken der Einfältigen darzeigte, von welcher Art sie sind und wie fälschlich man sie bislang
für Sakramente gehalten hat. Zunächst möchte ich allen Frommen bezeugt haben, daß ich solchen
Streit über den Namen ("Sakrament") keineswegs aus Zanksucht anfange, sondern durch
schwerwiegende Gründe dazu veranlaßt werde, den Mißbrauch dieses Namens zu bekämpfen. Ich weiß
sehr wohl, daß die Christen sowohl über die Worte als auch über alle Dinge Herren sind und daß
sie deshalb, wenn nur das fromme Verständnis gewahrt wird, die Ausdrücke nach ihrem Gutdünken den
Dingen anpassen können, selbst wenn sich dabei in der Redeweise eine gewisse Uneigentlichkeit
einstellt. Das gebe ich alles zu — obwohl es besser wäre, wenn sich die Worte nach den Dingen
richten müßten, als wenn sich die Dinge nach den Worten richten! Mit dem Begriff "Sakrament"
ist es aber anders bestellt. Denn wer das Bestehen von sieben Sakramenten behauptet, der legt damit
zugleich allen jene Begriffsbestimmung bei, nach der die Sakramente "sichtbare Formen der
unsichtbaren Gnade" sein sollen, er erklärt sie alle zugleich für Gefäße des Heiligen Geistes,
für Werkzeuge zur Zueignung der Gerechtigkeit und für Ursachen zur Erlangung der Gnade. Ja, der
Sentenzenmeister (Petrus Lombardus) selbst erklärt gar, die Sakramente des mosaischen Gesetzes
würden nicht im eigentlichen Sinne als "Sakramente" bezeichnet, und zwar, weil sie das, was sie
abbildeten, nicht zugleich gewährt hätten. Ist es nun, das möchte ich doch wissen, zu ertragen,
daß Merkzeichen, die der Herr mit eigenem Munde geweiht und mit herrlichen Verheißungen
ausgezeichnet hat, nicht für Sakramente geachtet werden sollen, während diese Ehre unterdessen auf
solche Gebräuche übertragen wird, die sich die Menschen entweder aus sich heraus erdacht haben
oder wenigstens ohne ausdrückliches Gebot Gottes innehalten? Die Papisten sollen also entweder die
Begriffsbestimmung abändern oder aber von diesem Gebrauch des Ausdrucks "Sakrament" Abstand
nehmen, der hernach falsche und widersinnige Meinungen erzeugt. Sie sagen nun (z.B.): die "letzte
Ölung" ist ein Abbild und eine Ursache der unsichtbaren, Gnade weil sie ein Sakrament ist. Weil
man aber das, was sie vorbringen, auf keinerlei Weise zugeben soll, so muß der Widerspruch
jedenfalls bei dem Begriff "Sakrament" selbst einsetzen, damit wir für seine Annahme nicht den
Preis zahlen müssen, daß er den Anlaß zu solchem Irrtum bietet. Auf der anderen Seite: wenn sie
den Beweis führen, daß es sich bei der "letzten Ölung" um ein Sakrament handelt, so fügen
sie auch einen Grund zu: sie bestehe eben aus dem äußerlichen Zeichen und dem Wort. Wenn wir nun
aber (hinsichtlich der letzten Ölung) weder ein Gebot noch eine Verheißung finden — was können
wir dann anders tun als Widerspruch einlegen?
IV,19,2 Jetzt wird deutlich, daß wir nicht etwa um ein Wort zanken, sondern
vielmehr eine nicht überflüssige Auseinandersetzung über die Sache selbst führen. Daher müssen
wir mit Nachdruck an dem festhalten, was wir oben mit unwiderleglicher Beweisführung bekräftigt
haben, nämlich daß die Entscheidung über die Stiftung eines Sakraments ausschließlich bei Gott
allein liegt. Denn das Sakrament soll mit einer bestimmten Verheißung Gottes die Gewissen der
Gläubigen aufrichten und trösten — diese würden aber solche Gewißheit nie und nimmer von einem
Menschen annehmen. Das Sakrament soll uns ein Zeugnis des guten Willens Gottes gegen uns sein —
für den aber kann keiner unter den Menschen oder unter den Engeln Zeuge sein; denn keiner ist
Gottes Ratgeber gewesen (Jes. 40,13; Röm. 11,34). Er ist es also allein, der uns mit rechtmäßiger
Gewährleistung durch sein Wort Zeugnis über sich gibt. Das Sakrament ist ein Zeichen, in dem
Gottes Bund und Zeugnis versiegelt wird. Solche Versiegelung aber könnte durch leibliche Dinge und
die Elemente dieser Welt nicht erfolgen, wenn sie nicht durch Gottes Kraft dazu gestaltet und
bestimmt würden. Also kann der Mensch kein Sakrament stiften; denn es liegt wahrhaftig nicht in der
Kraft des Menschen, dahin zu wirken, daß unter so verachteten Dingen solche großen Geheimnisse
Gottes verborgen liegen. Gottes Wort muß vorausgehen und bewirken, daß das Sakrament Sakrament
sei, wie Augustin sehr trefflich lehrt (Predigten zum Johannesevangelium 80,3). Außerdem ist es,
wenn wir nicht in zahlreiche Widersinnigkeiten geraten wollen, von Nutzen, daß ein gewisser
Unterschied zwischen den Sakramenten und den anderen Zeremonien beibehalten wird. Die Apostel haben
mit gebeugten Knien gebetet (Apg. 9,40; 20,36) — dann können wir also (wenn man jene
Unterscheidung nicht macht) die Knie nicht beugen, ohne daß es ein Sakrament ist! Die Jünger
haben, so berichtet man, in der Richtung nach Osten gebetet — so muß also der Blick nach Osten
ein Sakrament für uns sein! Paulus will, "daß die Männer ... an allen Orten ... aufheben
heilige Hände" (1. Tim. 2,8), und es wird mehrfach erwähnt, daß die Heiligen ihr Gebet mit
aufgereckten Händen verrichtet haben (Ps. 63,5; 88,10; 141,2; 143,6) — so muß dann also auch das
Ausstrecken der Hände ein Sakrament werden, kurz, alle Gebärden der Heiligen gehen dann in
Sakramente über! Freilich würde ich mich auch um diese Dinge nicht so sehr bekümmern, wenn sie
nur nicht mit jenen größeren Unzuträglichkeiten verbunden wären.
IV,19,3 Wenn sie uns mit der Autorität der Alten Kirche in die Enge treiben
wollen, so behaupte ich, daß sie damit Trügerei verüben. Denn diese Siebenzahl findet sich bei
den kirchlichen Schriftstellern nirgendwo, auch steht es nicht hinreichend fest, zu welcher Zeit sie
sich zum erstenmal eingeschlichen hat. Ich gebe allerdings zu, daß die alten Kirchenlehrer in der
Verwendung des Wortes "Sakrament" zuweilen recht frei verfahren. Aber was wollen sie mit diesem
Wort bezeichnen? Eben alle Zeremonien und äußerlichen Gebräuche sowie alle Übungen der
Frömmigkeit! Wenn sie dagegen von den Zeichen sprechen, die die Zeugnisse der göttlichen Gnade
gegen uns sein sollen, so begnügen sie sich mit diesen beiden: mit Taufe und Eucharistie. Damit
niemand meint, ich beriefe mich fälschlich darauf, so will ich hier einige wenige Zeugnisse
Augustins wiedergeben. So schreibt er an Januarius: "Zunächstsollst du wissen, was der Hauptpunkt
dieser Erörterung ist, nämlich daß unser Herr Christus, wie er es im Evangelium selber
ausspricht, uns ein sanftes Joch und eine leichte Last aufgelegt hat. Daher hat er die Gemeinschaft
des Neuen Volkes mit solchen Sakramenten zusammengebunden, die der Zahl nach sehr wenige, der
Ausübung nach sehr leicht und der Bedeutung nach von höchster Wichtigkeit sind. So ist da die
Taufe, die im Namen der Dreieinigkeit geweiht ist, die Gemeinschaft am Leib und Blut des Herrn, und
was uns allenfalls noch sonst in den kanonischen Schriften anbefohlen wird" (Brief 54,1). Ebenso
schreibt er in seiner Schrift "Von der christlichen Unterweisung": "Seit der Auferstehung des
Herrn hat der Herr selbst wie auch die apostolische Ordnung statt vieler Zeichen einige wenige
überliefert, und die sind sehr leicht auszuüben, sehr erhaben in ihrem Verständnis und sehr
keusch in ihrem Gebrauch; so ist da die Taufe und die Feier des Leibes und Blutes des Herrn" (Von
der christlichen Unterweisung III,9,13). Weshalb spricht er hier kein Wort von der "heiligen"
Zahl, das heißt von der Siebenzahl? Ist es wohl wahrscheinlich, daß er sie ausgelassen hätte,
wenn sie damals in der Kirche im Schwang gewesen wäre — vor allem, wo er doch sonst auf die
Beobachtung von Zahlen mehr Sorgfalt verwendet, als es nötig war? Ja, er nennt doch Taufe und
Abendmahl ausdrücklich und übergeht die anderen mit Stillschweigen — gibt er damit nicht
genugsam zu verstehen, daß sich diese beiden Geheimnisse (Sakramente) durch eine einzigartige
Würde auszeichnen, die anderen Zeremonien dagegen an einem untergeordneten Platz nachfolgen? Daher
behaupte ich, daß diese Sakramentslehrer nicht nur vom Wort des Herrn, sondern auch von der
Zustimmung der Alten Kirche im Stich gelassen werden — mögen sie sich unter diesem Vorwande auch
noch so hochmütig gebärden! Aber jetzt wollen wir uns den einzelnen "Sakramenten" selbst
zuwenden.
IV,19,4 In alter Zeit bestand die Sitte, daß die Kinder der Christen, wenn
sie herangewachsen waren, dem Bischof vorgestellt wurden, um die Pflicht zu erfüllen, die (sonst)
von solchen Menschen gefordert wurde, die sich als Erwachsene zur Taufe meldeten. Diese hatten
nämlich ihren Sitz unter den "Katechumenen", bis sie nach Gebühr in den Geheimnissen des
Glaubens unterwiesen und imstande waren, vor dem Bischof und dem Volke (d.h. der Gemeinde) das
Bekenntnis des Glaubens abzulegen. Weil nun diejenigen, die als kleine Kinder ihre Einweihung durch
die Taufe empfangen hatten, damals kein Glaubensbekenntnis vor der Kirche getan hatten, so wurden
sie gegen Ende ihrer Kindheit oder auch im Beginn ihrer Jünglingszeit von ihren Eltern zum zweiten
Male vorgestellt und durch den Bischof nach der Form des Katechismus geprüft, wie man sie damals in
bestimmter Gestalt und in allgemeinem Gebrauch besaß. Damit aber dieser Vorgang, der ohnehin
verdientermaßen ernst und heilig sein sollte, mehr Ehrfurcht und Würde genoß, so kam auch die
Zeremonie der Handauflegung zur Anwendung. So wurde denn das Kind, nachdem man seinen Glauben (d.h.
sein Glaubensbekenntnis) gutgeheißen hatte, unter feierlichem Segen entlassen. Diese Gepflogenheit
findet sich bei den Alten oft erwähnt. So sagt der Papst Leo (I.): "Wenn jemand von den Ketzern
(in die Kirche) zurückkommt, so soll er nicht abermals getauft werden, sondern das, was ihm dort
gefehlt hat, nämlich die Kraft des Geistes, soll ihm durch die bischöfliche Handauflegung
zugeeignet werden" (Brief 166,2). Hier werden nun unsere Widersacher laut rufen: wenn bei diesem
Vorgang der Heilige Geist zugeeignet werde, dann werde er auch mit Recht als Sakrament bezeichnet.
Aber Leo selbst setzt an anderer Stelle auseinander, was er mit diesen Worten gemeint hat; er sagt
da: "Wer bei den Ketzern getauft worden ist, der soll nicht wiedergetauft, sondern unter Anrufung
des Heiligen Geistes durch Handauflegung befestigt werden; denn er hat (bei den Ketzern) bloß die
Form der Taufe empfangen, aber ohne die Heiligung" (Brief 159,7).Auch Hieronymus erwähnt diese
Angelegenheit in seiner Schrift gegen die Luciferianer (8f.). Allerdings leugne ich nun nicht, daß
Hieronymus insofern etwas irrt, als er behauptet, es handele sich hier um einen apostolischen
Brauch. Aber er ist trotzdem von den Albernheiten unserer Widersacher sehr weit entfernt. Auch jene
Behauptung selbst mildert er, indem er hinzufügt, diese Segnung sei allein den Bischöfen
übertragen, und zwar mehr zur Ehre des Priesteramtes, als aus dem Zwang des Gesetzes heraus. Eine
solche Handauflegung also, die einfach als Segnung geschieht, lobe ich, und ich möchte wohl
wünschen, daß sie heute zu ihrem reinen Gebrauch zurückgeführt würde.
IV,19,5 Eine spätere Zeit aber hat dann, nachdem die Sache bereits nahezu in
Vergessenheit geraten war, ich weiß nicht was für eine "Konfirmation" (Firmung) als Sakrament
Gottes eingerichtet. Angeblich soll die Kraft der Firmung darin bestehen, daß sie den Heiligen
Geist verleiht, und zwar zur Mehrung der Gnade, die dem Menschen in der Taufe zur (Erlangung der)
Unschuld zuteil geworden sein soll; sie soll ferner die Kraft haben, daß sie die, welche in der
Taufe zum Leben wiedergeboren sind, zum Kampfe stärkt. Der Vollzug dieser Firmung geschieht durch
die Salbung und durch eine Formel, die lautet: "Ich bezeichne dich mit dem Zeichen des heiligen
Kreuzes und befestige dich mit dem Salböl des Heils im Namen des Vaters und des Sohnes und des
Heiligen Geistes." Das macht sich alles hübsch und fein. Aber wo soll das Wort Gottes sein, das
hier die Gegenwart des Heiligen Geistes verheißt? Die Römischen können nicht ein Jota
vorschützen! Woher wollen sie uns nun also die Gewißheit verschaffen, daß ihr Salböl ein "Gefäß
des Heiligen Geistes" sei? Wir sehen Öl, nämlich eine dicke und fette Flüssigkeit — weiter
nichts! "Es komme das Wort zum Element", sagt Augustin, "so wird daraus ein Sakrament"
(Predigten zum Johannesevangelium 80,3). Dies Wort, sage ich, sollen sie vorweisen, wenn sie den
Willen haben, daß wir in dem Öl etwas anderes anschauen als eben — Öl! Wenn sie sich, wie es
billig ist, als Diener der Sakramente bekennten, so brauchten wir nicht länger zu streiten. Denn
das erste Gesetz, das einem Diener gilt, besagt, daß er nichts ohne Weisung tue. Nun, sie sollen
irgendeine Weisung zu diesem Dienstamt vorweisen, dann will ich weiter kein Wort sagen! Wenn sie
aber ohne Weisung dastehen, so können sie ihre Heiligtumsschänderische Vermessenheit nicht
beschönigen. In diesem Sinne fragte der Herr die Pharisäer, ob die Taufe des Johannes vom Himmel
wäre oder von den Menschen. Hätten sie geantwortet: "Von den Menschen", so hätte Christus
sagen können: also sei sie inhaltslos und eitel. Hätten sie gesagt: "Vom Himmel", so wären
sie genötigt gewesen, die Lehre des Johannes anzuerkennen. Um also gegen Johannes nicht gar zu sehr
ihre Verachtung zu bezeugen, so wagten sie es nicht auszusprechen, daß seine Taufe von den Menschen
sei (Matth. 21,25-27). Wenn daher die Firmung "von den Menschen ist", so kommt damit heraus,
daß sie eitel und inhaltlos ist. Wollen unsere Widersacher uns aber weismachen, daß sie "vom
Himmel" sei, so sollen sie es beweisen!
IV,19,6 Sie verteidigen sich freilich mit dem Beispiel der Apostel, die doch,
so meinen sie, nichts ohne Überlegung getan haben. Das ist unzweifelhaft richtig, und sie würden
von uns keinen Tadel zu hören bekommen, wenn sie sich als Nachfolger der Apostel erwiesen. Aber was
haben denn die Apostel getan? Nach dem Bericht des Lukas war es so: als die Apostel, die zu
Jerusalem waren, hörten, "daß Samarien das Wort Gottes angenommen hatte, da sandten sie zu ihnen
Petrus und Johannes"; diese beteten dann für die Samaritaner, "daß sie den Heiligen Geist
empfingen"; dieser war nämlich noch auf keinen von ihnen gekommen, "sondernsie waren allein
getauft auf den Namen ... Jesu"; dann beteten sie und "legten die Hände auf sie", und durch
diese Handauflegung empfingen die Samaritaner den Heiligen Geist (Apg. 8,14-17). Diese Handauflegung
erwähnt Lukas noch einige Male (Apg. 6,6; 8,17; 13,3; 19,6). Da höre ich nun, was die Apostel
getan haben: sie haben nämlich ihr Amt getreulich ausgeübt. Es war des Herrn Wille, daß jene
sichtbaren und wundersamen Gnadengaben des Heiligen Geistes, die er damals über sein Volk ausgoß,
von seinen Aposteln durch Handauflegung verwaltet und ausgeteilt würden. Ich bin nun der Meinung,
daß dieser Handauflegung kein tieferes Geheimnis zugrunde liegt, sondern ich erkläre es so, daß
sie eine solche Zeremonie angewendet haben, um auch durch ihre Gebärde deutlich zu machen, daß sie
den, dem sie die Hände auflegten, Gott anbefahlen und gleichsam darbrachten. Wenn nun das Amt, das
die Apostel damals ausübten, noch in der Kirche verblieben wäre, so müßte auch die Handauflegung
beibehalten werden. Tatsächlich aber wird jene Gnade nicht mehr ausgeteilt — und wozu soll dann
die Handauflegung dienen? Sicherlich ist der Heilige Geist auch jetzt noch bei dem Volke Gottes
gegenwärtig; denn die Kirche Gottes kann nicht bestehenbleiben, wenn er sie nicht leitet und
regiert. Haben wir doch die ewige und ständig bleibende Verheißung, mit der Christus die
Dürstenden zu sich ruft, daß sie lebendiges Wasser trinken (Joh. 7,37). Aber jene wunderbaren
Krafttaten und offenkundigen Wirkungen, die durch Handauflegung ausgeteilt wurden, haben aufgehört,
und sie sollten auch nur für eine Zeitlang bestehen. Denn es war erforderlich, daß die Predigt des
Evangeliums, die doch etwas Neues war, und das Reich Christi, das ebenfalls neu war, mit unerhörten
und ungewöhnlichen Wundern verherrlicht und großgemacht wurden. Nachdem der Herr von solchen
Wundern abgelassen hat, hat er seine Kirche nicht etwa gleich verlassen, sondern er hat gelehrt,
daß die Herrlichkeit seines Reiches und die Würde seines Wortes machtvoll genug offenbart ist. In
welchem Stück wollen sich nun diese Schauspieler für Nachfolger der Apostel ausgeben? Mit der
Handauflegung hätte doch bewirkt werden müssen, daß sich die Kraft des Heiligen Geistes sogleich
offenkundig als wirksam erwiese. Das bekommen sie nicht fertig — wozu berufen sie sich denn auf
die Handauflegung, die zwar, wie wir lesen, bei den Aposteln in Übung gestanden hat, aber doch zu
einem ganz anderen Zweck?
IV,19,7 Es steht hier genau so, als wenn jemand lehrte, jener Hauch, mit dem
der Herr seine Jünger angeblasen hat (Joh. 20,22), sei ein Sakrament, kraft dessen der Heilige
Geist gegeben werde. Aber es ist doch so: als der Herr das einmal tat, da wollte er eben nicht, daß
es auch von uns aus geschähe. In derselben Weise übten auch die Apostel die Handauflegung für
jene Zeit, in der nach des Herrn Wohlgefallen die Gnadengaben des Heiligen Geistes auf ihre Bitten
hin ausgeteilt wurden, aber sie taten es nicht, damit sich die Späteren, wie es diese Affen tun,
bloß Nachahmenderweise und ohne das Vorhandensein der Sache ein leeres und inhaltloses Zeichen
ausdenken sollten. Selbst wenn sie es beweisen könnten, daß sie mit der Handauflegung den Aposteln
nachfolgen — tatsächlich haben sie hierin mit den Aposteln nichts gemein, abgesehen von ich weiß
nicht was für einer verkehrten Nachmacherei —, so bliebe doch noch zu fragen, woher sie denn das
Öl haben, das sie das "Öl des Heils" nennen. Wer hat sie denn gelehrt, im Öl das Heil
zusuchen? Wer hat ihnen denn beigebracht, dem Öl die Kraft zur Stärkung zuzuschreiben? Etwa
Paulus, der uns von den Elementen dieser Welt weit wegzieht (Gal. 4,9), der nichts mehr verdammt,
als daß man sich an dergleichen Bräuchlein hängt (Kol. 2,20)? Da erkläre ich aber kühnlich, und
zwar nicht von mir, sondern von dem Herrn aus: Wer Öl als"Öl des Heils" bezeichnet, der
schwört das Heil, das in Christus ist, ab, der verleugnet Christus und hat keinen Teil am Reiche
Gottes! Denn das Öl ist für den Bauch, und der Bauch für das Öl, und der Herr wird beide
zunichte machen (Anklang an 1. Kor. 6,13; vergleiche die folgenden Ausführungen). Alle jene
schwachen Elemente nämlich, die schon über ihrem Gebrauch vergehen, haben mit dem Reiche Gottes
nichts zu schaffen; denn das ist geistlich und wird nie vergehen. Wieso, könnte jemand sagen —
willst du mit dem nämlichen Maß auch das Wasser messen, mit dem wir getauft werden, und das Brot
und den Wein, unter denen uns das Mahl des Herrn gereicht wird? Ich antworte: bei den von Gott
gegebenen Sakramenten muß man zweierlei beachten, einerseits die Substanz der leiblichen Sache, die
uns da vorgelegt wird, und andererseits die "Gestalt", die ihr vom Worte Gottes aufgeprägt ist
und in der die ganze Kraft liegt. Sofern also Brot, Wein und Wasser, die bei den Sakramenten unseren
Blicken dargeboten werden, ihre Substanz behalten, gilt allezeit das Wort des Paulus: "Die Speise
dem Bauche und der Bauch der Speise; aber Gott wird diesen und jene zunichte machen" (1. Kor.
6,13). Diese leiblichen Dinge gehen nämlich mit der Gestalt dieser Welt vorüber und verschwinden
(1. Kor. 7,31). Sofern sie aber von dem Wort Gottes geheiligt werden, so daß sie Sakramente sind,
halten sie uns nicht im Fleische fest, sondern unterweisen uns in Wahrheit und geistlich.
IV,19,8 Aber wir wollen noch genauer zusehen, wie viele Ungeheuerlichkeiten
dieses Fett (nämlich das Salböl) nährt und fördert. Diese Salbenschmierer behaupten, der Heilige
Geist werde in der Taufe zur Unschuld gegeben, in der Firmung aber zur Mehrung der Gnade, in der
Taufe würden wir zum Leben wiedergeboren, in der Firmung werde uns die Rüstung zum Kampf zuteil.
Und sie sind gar so schamlos, daß sie erklären, die Taufe könne ohne die Firmung nicht nach
Gebühr vollendet werden. O, was für eine Niederträchtigkeit! Soll es nun nicht gelten, daß wir
in der Taufe mit Christus begraben und seines Todes teilhaftig geworden sind, um auch an seiner
Auferstehung Anteil zu haben (Röm. 6,4)? Diese Gemeinschaft mit Christi Tod und Leben erklärt
Paulus als die Ertötung unseres Fleisches und die Lebendigmachung im Geist, weil ja unser alter
Mensch gekreuzigt ist, damit wir in Neuheit des Lebens wandeln sollen (ebenda). Was heißt nun, zum
Kampfe gerüstet zu werden, wenn nicht dies? Wenn sie es schon für nichts geachtet haben, das Wort
Gottes mit Füßen zu treten, warum haben sie dann nicht wenigstens vor der Kirche Ehrfurcht gehabt,
wo sie doch den Eindruck erwecken wollen, als ob sie ihr allenthalben so gehorsam wären? Auf dem
Konzil zu Mileve wurde beschlossen: "Wer da sagt, daß die Taufe allein zur Vergebung der Sünden
erteilt werde und nicht auch als Hilfsmittel für die künftige Gnade, der sei verflucht"
(Decretum Gratiani III, Von der Konsekration 4,154). Was ließe sich nun wohl Gewichtigeres gegen
diese Lehre unserer Widersacher vorbringen als dieser Beschluß? Allerdings sagt Lukas an der von
uns angeführten Stelle, daß da Leute im Namen Jesu Christi getauft worden seien, die den Heiligen
Geist noch nicht empfangen hatten (Apg. 8,16). Aber damit bestreitet er nicht etwa schlechthin, daß
sie mit irgendeiner Gabe des Geistes ausgerüstet gewesen sind, wo sie doch "von Herzen" an
Christus "glaubten" und ihn "mit dem Munde bekannten" (vgl. Röm. 10,10). Nein, er meint den
Empfang des Geistes, bei dem man die offenkundigen Krafttaten und sichtbaren Gnadengaben vor Augen
hatte. So heißt es von den Aposteln, sie hätten den Geist am Pfingsttage empfangen (Apg. 2,4),
während doch Christus schon lange vorher zu ihnen gesagt hatte: "Denn ihr seid es nicht, die da
reden, sondern eures Vaters Geist ist es, der durch euch redet" (Matth. 10,20). Ihr, die ihr aus
Gott seid, sehet den boshaften und niederträchtigen Betrug des Satans! Was in der Taufe wahrhaftig
gegeben wurde, das wird nach seiner verlogenen Behauptung in seiner "Firmung" ausgeteilt, und er
tut solche Lüge, um schlichte Menschen verstohlen von der Taufe abzubringen. Wer wird noch
zweifeln, daß es sich hier um eine Lehre des Satans handelt, wo sie doch die der Taufe eigenen
Verheißungen von der Taufe losreißt und anderswohin ableitet und überträgt? Da kommt es heraus,
sage ich, auf was für ein Fundament sich diese großartige Salbung gründet! Es ist Gottes Wort,
daß alle, die in Christus getauft sind, Christus samt seinen Gaben "angezogen" haben (Gal.
3,27). Das Wort der Salbenschmierer aber lautet: wer getauft ist, der hat in der Taufe keine
Verheißung empfangen, vermöge deren er in den Kämpfen gerüstet würde (Decretum Gratiani III,
Von der Konsekration 5,2). Jenes ist die Stimme der Wahrheit — dies aber muß füglich die Stimme
der Lüge sein! Ich bin also in der Lage, diese "Firmung" wahrheitsgemäßer zu bestimmen, als
sie es selbst bisher getan haben: sie ist eine furchtbare Schmähung der Taufe, die deren Gebrauch
verdunkelt, ja abschafft, sie ist ein falsches Versprechen des Teufels, das uns von der Wahrheit
Gottes wegzieht. Oder, wenn man es so lieber haben will: sie ist ein Öl, das durch des Teufels
Lügerei besudelt ist und das sich nun gleich finsteren Nebeln verbreitet und die Sinne einfältiger
Menschen betrügt.
IV,19,9 Außerdem stellen die Papisten den weiteren Satz auf: Alle Gläubigen
müssen nach der Taufe durch Auflegung der Hände den Heiligen Geist empfangen, um im Vollsinne als
Christen erfunden zu werden (ebenda 5,1); denn niemals wird einer ein Christ sein, wofern er nicht
durch die bischöfliche Firmung, gesalbt ist (ebenda 5,6). So behaupten sie es wörtlich! Ich hätte
nun aber gemeint, daß alles, was zum Christentum gehört, in der Heiligen Schrift verzeichnet und
zusammengefaßt ist. Nun soll jedoch, wie ich sehe, anderswoher als aus der Schrift die wahre Form
der Religion entnommen und gelernt werden! Die Weisheit Gottes, die himmlische Wahrheit und die
ganze Lehre Christi machen die Menschen also bloß anfangsweise zu Christen, das Öl dagegen macht
sie vollkommen! Mit diesem Satz werden sämtliche Apostel und so viele Märtyrer verdammt, die, wie
es mehr als sicher feststeht, niemals solche Salbung empfangen haben; denn dazumal gab es noch gar
nicht dieses "heilige Öl", mit dem sie hätten gesalbt werden können, um in jeder Hinsicht zu
vollkommenen Christen zu werden, oder besser: um erst Christen zu werden, nachdem sie es zuvor gar
nicht waren! Aber selbst wenn ich kein Wort sage, so widerlegen sich die Papisten selbst mehr als
hinreichend. Der wievielte Teil ihres Volkes ist es denn eigentlich, den sie nach der Taufe salben?
Weshalb dulden sie denn in ihrer Herde solche "Halbchristen", deren Unvollkommenheit doch leicht
zu kurieren wäre? Weshalb lassen sie es hingehen, daß diese Leute in so bequemer Nachlässigkeit
etwas unterlassen, was man doch ohne schwere Versündigung nicht unterlassen darf? Weshalb wenden
sie nicht größere Strenge daran, eine Sache zu fordern, die so "notwendig" ist und ohne die
man das Heil nicht erlangen kann? Anders würde es (nach ihrer Meinung) doch einzig dann stehen,
wenn jemand etwa durch einen plötzlichen Tod am Empfang dieser Salbung verhindert würde. Es ist
eben so: indem sie es hingehen lassen, daß die Firmung willkürlich mißachtet wird, geben sie
selbst stillschweigend zu, daß sie nicht soviel wert ist, wie sie es rühmen!
IV,19,10 Zum Schluß stellen sie fest, diese heilige Salbung müsse mit
größerer Ehrfurcht behandelt werden als die Taufe, weil sie ja als etwas Besonderes durch die Hand
der obersten Priester verwaltet werde, während die Taufe allgemein durch sämtliche Priester zur
Austeilung komme (ebenda 5,3). Was soll man nun hier anders sagen, als daß sie völlig rasend
geworden sind, indem sie ihre eigenen Fündlein dermaßen liebkosen, daß sie im Vergleich damit die
heiligen Stiftungen Gottes unbekümmert verachten? O heiligtumsschändender Mund, wagst du es, solch
Fett, das nur von dem Gestank deines Atems besudelt und durch das Gemurmel deiner Worte verzaubert
ist, dem Sakrament Christi gegenüberzustellen und es mit dem Wasser zu vergleichen, das durch
Gottes Wort geheiligt ist? Aber auch das war deiner Unverfrorenheit noch zu wenig, nein, du meintest
dein Fett dem Sakrament Christi gar vorziehen zu sollen! Das sind nun die Aussprüche des "Heiligen
Stuhls", die Offenbarungsworte des apostolischen Orakels! Jedoch haben einige unter den Papisten
begonnen, diesen auch nach ihrer Meinung zügellosen Wahnwitz ein wenig abzuschwächen. Sie sagen:
Allerdings ist die Firmung mit größerer Ehrfurcht zu behandeln (als die Taufe); aber das geschieht
wohl nicht um einer größeren Kraftwirkung oder Nützlichkeit willen, die man durch sie erlangte,
sondern (1) darum, weil sie von würdigeren Leuten ausgeteilt und (2) an einem würdigeren Teil
unseres Leibes vollzogen wird, nämlich an der Stirn, oder auch (3) weil sie ein stärkeres Wachstum
der Tugenden gewährt, mag auch die Taufe größeren Wert für die Vergebung haben (Petrus
Lombardus, Sentenzen IV,7,2). Aber erweisen sie sich nun mit jener ersten Ursache nicht als
Donatisten, die die Kraft des Sakraments nach der Würde des Dieners beurteilen? Allein, mag es
einmal so sein, mag die Firmung als "würdiger" bezeichnet werden, weil die bischöfliche Hand
die höhere "Würde" hat! Aber wenn dann einer von ihnen erfahren will, woher denn den
Bischöfen solch großes Vorrecht übertragen ist — was wollen sie dann für eine Begründung
vorbringen außer ihrer Willkür? Allein die Apostel, so sagen sie, haben das Recht ausgeübt, da
sie ja allein den Heiligen Geist ausgeteilt haben! Aber sind nun etwa allein die Bischöfe Apostel?
Ja, sind sie überhaupt Apostel? Aber wir wollen ihnen auch das zugeben — weshalb behaupten sie
dann aber nicht auf Grund des nämlichen Beweisgrundes, daß allein die Bischöfe bei dem Mahl des
Herrn das Sakrament des Blutes berühren dürften? Sie versagen es doch den "Laien" deshalb,
weil es allein den Aposteln vom Herrn gegeben worden sei. Ist es aber allein den Aposteln gegeben
— warum ziehen sie dann nicht die Folgerung: also auch allein den Bischöfen? Aber es ist so: an
dieser Stelle (beim Kelch) machen sie die Apostel zu einfachen Presbytern ("Priestern") — nun
dagegen (bei der Firmung), reißt sie der Schwindel, der ihnen den Kopf verdreht, in anderer
Richtung, so daß sie sie plötzlich zu Bischöfen ernennen! Und schließlich: Ananias war kein
Apostel, und doch ist Paulus zu ihm hingesandt worden, um sein Sehvermögen zurückzubekommen,
getauft zu werden und mit dem Heiligen Geist erfüllt zu werden (Apg. 9,17-19)! Zum Überfluß will
ich auch noch dies zufügen, wenn diese Amtsaufgabe nach göttlichem Recht den Bischöfen zukam —
weshalb haben sie es dann gewagt, sie auf gewöhnliche Priester zu übertragen, wie man es in einem
Brief Gregors (I.) zu lesen bekommt (Briefe IV,26)?
IV,19,11 Die zweite Begründung lautete so: sie bezeichneten ihre Firmung
als "würdiger" im Vergleich mit der Taufe Gottes, weil bei der Firmung die Stirn mit Öl
bestrichen würde, in der Taufe dagegen der Schädel. Wie oberflächlich, albern und läppisch ist
das doch! Sie tun gerade, als ob die Taufe mit Öl und nicht mit Wasser vollzogen würde. Ich rufe
alle Frommen zu Zeugen dafür an, ob diese Schwätzer es mit ihren Bemühungen nicht allein darauf
abgesehen haben, die Reinheit der Sakramente mit ihrem Sauerteig zu verderben. Ich habe an anderer
Stelle behauptet, daß bei den Sakramenten das, was von Gott ist, inmitten solchen Schwarms von
Menschenfündlein kaum noch durch kleine Ritzchen hindurchleuchtet. Wenn einer mir damals in dieser
Sache keinen Glauben schenken wollte, so soll er jetzt wenigstens seinen eigenen Lehrern glauben. Er
sieht es doch, wie sie das Wasser (der Taufe) übergehen und gar nicht in Betracht ziehen, sondern
bei der Taufe allein — das Öl verherrlichen! Wir behaupten also demgegenüber, daß bei der Taufe
auch die Stirn mit Wasser benetzt wird. Und im Vergleich mit diesem Wasser achten wir euer Öl nicht
einen Dreck wert, ob es nun bei der Taufe oder bei der Firmung angewandt wird! Wenn jemand
einwendet, das Öl werde doch teurer verkauft, so sage ich, daß alles, was allenfalls noch Gutes an
der Sache sein könnte, durch diesen Preiszuwachs verdorben wird — so wenig kann davon die Rede
sein, daß man solchen elendigen Betrug noch durch Diebstahl anpreisen dürfte. Mit der dritten
Begründung (für die höhere Würde der Firmung) verraten sie ihre Gottlosigkeit — sie schwatzen
da nämlich, in der Firmung werde dem Menschen ein stärkerer Zuwachs an Tugenden zugeeignet als in
der Taufe. Gewiß, die Apostel haben durch Handauflegung die sichtbaren Gnaden, gaben des Heiligen
Geistes ausgeteilt. Worin hat sich nun aber das Fett der Papisten als fruchtbringend erwiesen? Aber
weg mit diesen Leuten, die die römische Lehre abschwächen wollen: sie decken die eine
Heiligtumsschändung nur mit zahlreichen neuen zu! Es handelt sich hier um einen gordischen Knoten,
und es ist besser, ihn zu zerhauen, als sich so große Mühe darum zu geben, ihn aufzulösen.
IV,19,12 Wenn die Römischen nun sehen, daß sie ohne das Wort Gottes und
ohne eine annehmbare Begründung für ihre Sache dastehen, dann gebrauchen sie nach ihrer Gewohnheit
den Vorwand, dieser Brauch sei ganz alt und durch die einhellige Gepflogenheit vieler Jahrhunderte
gefestigt. Selbst wenn das wahr wäre, so würden sie doch nichts damit ausrichten. Denn ein
Sakrament ist nicht von der Erde, sondern vom Himmel, nicht von den Menschen, sondern von Gott
allein. Sie müssen also beweisen, daß Gott der Urheber ihrer Firmung ist, wenn sie sie für ein
Sakrament gehalten haben wollen. Aber wozu berufen sie sich auf das hohe Alter der Firmung (als
Sakrament), wo doch die Alten, wenn sie im eigentlichen Sinne sprechen wollen, niemals mehr als zwei
Sakramente aufzählen? Wenn wir für unseren Glauben bei den Menschen Schutz suchen müßten, so
hätten wir eine uneinnehmbare Burg in der Tatsache, daß die Handlungen, die unsere Widersacher
lügnerisch für Sakramente ausgeben, von den Alten niemals als solche anerkannt worden sind. Die
Alten sprechen von der Handauflegung — aber nennen sie sie etwa "Sakrament"? Augustin erklärt
offen, sie sei nichts anderes als ein Gebet (Von der Taufe gegen die Donatisten III,16,21). Sie
sollen mir auch hier nicht mit ihren stinkigen Unterscheidungen dazwischenschreien (und behaupten),
Augustin beziehe diese Aussage nicht auf die Handauflegung bei der Firmung, sondern auf die
Handauflegung, die der Krankenheilung oder der Versöhnung dienen sollte. Das Buch ist ja vorhanden
und befindet sich in den Händen der Menschen; wenn ich es nun verdrehe und ihm einen anderen Sinn
unterschiebe, als in dem Augustin selbst geschrieben hat, wohlan, so sollen sie mich nicht nur, wie
sie es allgemein gewohnt sind, mit Scheltworten überhäufen, sondern gar mit Gespei! Er spricht
nämlich von solchen Leuten, die aus der Abspaltung zur Einheit der Kirche zurückkehrten. Er
erklärt, daß sie einer Wiederholung der Taufe nicht bedürfen, da nämlich die Handauflegung dazu
genüge, daß der Herr ihnen durch das Band des Friedens seinen Geist zuteil werden lasse. Nun
konnte es aber widersinnig erscheinen, daß die Handauflegung wiederholt werden sollte, die Taufe
aber nicht, und deshalb legt er den Unterschied zwischen beiden dar. "Denn was ist", so sagt er,
"die Handauflegung anders als ein Gebet für den Menschen?" Daß dies nun der Sinn ist, das
leuchtet auch aus einer anderen Stelle ein, an der er sagt: "Um des Bandes der Liebe willen, das
ja die herrlichste Gabe des Heiligen Geistes ist und ohne das alles, was sonst in einem
MenschenHeiliges sein mag, keinen Wert für die Seligkeit hat, empfangen die Ketzer, die sich
bekehrt haben, (bloß) die Handauflegung" (ebenda V,23,33).
IV,19,13 Ach, wenn wir doch die Gepflogenheit beibehielten, die, wie ich
bereits darlegte, bei den Alten bestanden hat, bevor diese unzeitig zur Welt gekommene Maske von
einem "Sakrament" geboren war! Danach sollte nicht eine solche "Firmung" bestehen, wie sie
sich die Römischen zurechtmachen — die kann man ja nicht nennen, ohne der Taufe Unrecht zu tun
—, sondern eine Lehrbefragung, in der die Kinder oder vielmehr die angehenden jungen Leute vor der
Kirche über ihren Glauben Rechenschaft ablegen. Das beste Verfahren bei einer solchen Lehrbefragung
würde darin bestehen, daß man eine festgelegte Form zu diesem Zweck zusammenstellte, die mit
faßlicher Auslegung den Hauptinhalt fast aller Hauptstücke unserer Religion enthielte, in denen
die gesamte Kirche der Gläubigen ohne Widerspruch eines Sinnes sein soll. Es sollte sich das Kind
im Alter von zehn Jahren der Kirche vorstellen, um das Bekenntnis des Glaubens abzulegen. Dabei
müßte man es über die einzelnen Hauptstücke befragen, und es müßte auf jedes einzelne seine
Antwort geben; wenn es dann etwas nicht wüßte oder nicht recht verstünde, so sollte man es
unterweisen. So würde das Kind den einigen, wahren und lauteren Glauben, in dem das Volk der
Gläubigen einmütig dem einen Gott dient, bekennen, und die Kirche wäre dabei als Zeuge und
Zuschauer zugegen. Wenn diese Ordnung heute in Kraft wäre, so würde gewiß die Trägheit mancher
Eltern behoben werden, welche die Unterweisung der Kinder, als ob sie eine Sache wäre, die sie
nichts anginge, sorglos vernachlässigen; denn dann könnten sie sie nicht ohne öffentliche Schande
unterlassen. Dann würde auch unter dem Christenvolk größere Eintracht im Glauben herrschen und
die Unwissenheit und Unkundigkeit vieler Leute nicht so groß sein; manche würden sich auch nicht
so unbesonnen von neuen und fremden Lehren mitreißen lassen — und schließlich würden alle
gleichsam eine geordnete Unterweisung in der christlichen Lehre haben.
IV,19,14 An die nächstfolgende Stelle setzen die Papisten die Buße. Von
ihr reden sie so verwirrt und unordentlich, daß die Gewissen aus ihrer Unterweisung nichts Sicheres
und Festes entnehmen können. Wir haben an anderer Stelle weitläufig dargelegt, was wir auf Grund
der Schrift über die Buße lehren, und dann auch, was die Römischen für eine Lehre vortragen.
Jetzt brauchen wir bloß zu berühren, was für einen Grund diejenigen hatten, die die Meinung
aufgebracht haben, daß die Buße ein Sakrament sei — eine Meinung, die in Kirchen und Schulen
bisher lange Zeit hindurch geherrscht hat. Jedoch will ich vorher noch in Kürze einiges über den
Brauch der Alten Kirche sagen, den jene Leute als Vorwand mißbraucht haben, um ihr Hirngespinst zu
bekräftigen. Die Alten hielten bei der öffentlichen Buße die Ordnung inne, daß diejenigen, die
die ihnen auferlegten genugtuenden Werke geleistet hatten, durch feierliche Handauflegung versöhnt
wurden. Das war das Merkzeichen der Lossprechung, durch das einerseits der Sünder selbst vor Gott
durch die Zuversicht auf Vergebung aufgerichtet und andererseits die Kirche ermahnt wurde, die
Erinnerung an das von ihm bereitete Ärgernis auszutilgen und ihn in aller Freundlichkeit zu Gnaden
anzunehmen. Das nennt Cyprian häufig "Frieden geben" (z.B. Brief 57,1.3). Damit aber dieser
Vorgang größeres Gewicht bekam und bei dem Volk ein höheres Ansehen gewann, so hat man
festgesetzt, daß hierbei stets die Autorität des Bischofs ins Mittel treten sollte. Daher kommt
der Beschluß des zweiten Konzils zu Karthago (390), nach dem es einem Presbyter nicht erlaubt ist,
einen öffentlich Büßenden in der Messe zu versöhnen. Ebenso erklärt sich der Beschluß des
Konzils zu Orange (441): "Wer zur Zeit seiner Buße aus diesem Leben abscheidet, der soll ohne die
versöhnende Handauflegung zur Gemeinschaftzugelassen werden; wenn er aber von seiner Krankheit
genest, so soll er in der Schar der Büßenden seinen Platz haben und, wenn die Zeit erfüllt ist,
vom Bischof die versöhnende Handauflegung empfangen." Ebenso beschloß das dritte Konzil zu
Karthago: "Ein Presbyter soll einen Büßenden nicht ohne die Autorität des Bischofs versöhnen."
Mit dem allem war es darauf abgesehen, daß die Strenge, die sie in dieser Angelegenheit gewahrt
wissen wollten, nicht durch allzu große Lässigkeit in Verfall geriete. Sie wollten also, daß der
Bischof die gerichtliche Untersuchung führte, weil es wahrscheinlich war, daß er bei Vornahme der
Prüfung umsichtiger sein würde. Allerdings berichtet Cvprian an einer Stelle, es habe nicht nur
der Bischof die Hand aufgelegt, sondern auch der gesamte "Klerus"; er sagt da nämlich: "Sie
tun eine gebührende Zeit hindurch Buße, und dann kommen sie zur Gemeinschaft (Kommunion) und
empfangen durch die Handauflegung des Bischofs und des Klerus das Recht zur Gemeinschaft" (Brief
16,2). Später ist dann mit fortschreitender Zeit die Sache dermaßen in Verfall geraten, daß man
diese Zeremonie auch außerhalb der öffentlichen Buße bei persönlichen Lossprechungen anwandte.
Daher rührt jene Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater "Versöhnung", die sich bei
Gratian findet (Decretum Gratiani II,26,6). Ich urteile, daß jener alte Brauch, den Cyprian
erwähnt, heilig und für die Kirche heilsam gewesen ist, und ich möchte wohl wünschen, daß er
heute wiederhergestellt würde. Die neuere Übung wage ich zwar nicht zu mißbilligen oder
wenigstens schärfer zu tadeln, aber ich bin doch der Meinung, daß sie weniger notwendig ist. Wie
dem auch sei, so sehen wir doch, daß die Handauflegung bei der Buße eine Zeremonie darstellt, die
von Menschen, nicht aber von Gott eingerichtet und zu den "Mitteldingen" und "äußerlichen
Übungen" zu zählen ist, die wir zwar nicht verachten, aber doch für weniger wichtig halten
sollen als das, was uns im Worte des Herrn anempfohlen ist.
IV,19,15 Die Römischen aber und die Schultheologen, die die Sitte haben,
alles mit ihren verkehrten Auslegungen zu verderben, schwitzen sich voll Sorge ab, um hier ein
Sakrament zu finden. Das darf auch nicht verwunderlich erscheinen; denn sie "suchen einen Knoten
in der Binse" (d.h. sie suchen Schwierigkeiten, wo gar keine sind)! Das Beste, was sie erreichen
können, das ist, daß sie die Sache verhüllt, unentschieden, ungewiß und durch die
Vielfältigkeit der Meinungen verwirrt und in Unordnung gebracht hinterlassen. Sie sagen also,
entweder sei die äußere Buße (selbst) ein Sakrament, und wenn es sich so verhalte, so müsse man
sie für ein Zeichen der inneren Buße halten, das heißt also der "Zerknirschung des Herzens",
die dann die "Sache " des Sakraments sei — oder aber beides zusammen (äußere und inwendige
Buße) sei das Sakrament, und zwar bildeten beide nicht zwei Sakramente, sondern ein vollkommenes
(Petrus Lombardus, Sentenzen IV,22,3). Die äußerliche Buße, so fahren sie dann fort, sei bloß
Sakrament, die inwendige dagegen "Sache" und Sakrament. Die Vergebung der Sünden aber sei bloß
Sache und nicht Sakrament. Wer die oben von uns gegebene Begriffsbestimmung von "Sakrament" im
Gedächtnis hat, der möge das, was nach der Behauptung dieser Theologen ein Sakrament sein soll,
nach jener Bestimmung prüfen, und er wird finden, daß es sich dabei nicht um eine äußere
Zeremonie handelt, die von dem Herrn zur Stärkung unseres Glaubens eingerichtet ist. Sie könnten
allerdings einwenden, meine Begriffsbestimmung sei doch kein Gesetz, dem zu gehorchen sie für
nötig erachteten. Aber dann sollen sie den Augustin hören, den sie angeblich für heilig halten.
Er sagt: "Die Sakramente sind um der fleischlichen Menschen willen als etwas Sichtbares gestiftet,
damit sie von dem aus, was man mit Augen sieht, auf den Stufen der Sakramente zu dem gelangen, was
darunter verstanden ist." Was wollen die Scholastiker nun in dem, was sie das "Sakrament der
Buße" nennen, von dieser (von Augustin geschilderten) Art selber sehen oder anderen zeigen
können? Der nämliche Augustin sagt an anderer Stelle: "Das Sakrament hat seinen Namen daher,
daß man in ihm etwas anderes sieht und wieder etwas anderes versteht. Was man sieht, das hat
leibliche Gestalt, was man versteht, das hat geistliche Frucht" (Predigt 272). Auch diese Worte
passen auf keinerlei Weise zu dem "Sakrament der Buße", wie es sich die Römischen
zurechtmachen; denn da ist gar keine "leibliche Gestalt" vorhanden, die eine "geistliche
Frucht" veranschaulichte.
IV,19,16 Um nun aber diese wilden Tiere in ihrer eigenen Arena
niederzuzwingen, möchte ich fragen: wäre es nicht, wenn man hier überhaupt nach einem Sakrament
suchte, von viel schönerem Schein gewesen, wenn man behauptet hätte, die Absolution durch den
Priester sei das Sakrament, als wenn man sagte, es bestünde in der "inwendigen" oder "äußeren"
Buße? Denn da hätte doch die Behauptung auf der Hand gelegen, die Absolution sei eine "Zeremonie"
zur "Stärkung unseres Glaubens" hinsichtlich der Vergebung der Sünden, und sie habe auch die
sogenannte "Verheißung der Schlüssel", nämlich das Wort: "Was ihr auf Erden binden oder
lösen werdet, das soll auch im Himmel gebunden und gelöst sein" (Matth. 18,18; summarisch). Dann
aber hätte jemand den Einwand machen können, daß doch von den Priestern sehr viele Leute
losgesprochen würden, denen durch solche Absolution nichts dergleichen widerfahre, während doch
auf Grund ihrer Lehre die "Sakramente des Neuen Bundes" "bewirken" müssen, was sie "veranschaulichen"!
Es ist doch lächerlich. Bei der Eucharistie behaupten sie ein zwiefaches "Essen", nämlich
erstens das Essen im Sinne des (äußerlichen) Sakramentsgenusses (manducatio sacramentalis), das
den Guten wie den Bösen gleichermaßen eigen ist, und zweitens das "geistliche" (manducatio
spiritualis), das allein den Guten eigen ist. Weshalb sollten sie nun nicht ebenso haben erdichten
können, daß man auch eine zwiefache Absolution empfange? Jedoch habe ich bislang noch nicht zu
begreifen vermocht, was sie eigentlich mit jener Lehre (vom zwiefachen Genuß des Abendmahls) sagen
wollen — wie weit sie von Gottes Wahrheit geschieden ist, das haben wir ja schon dargelegt, als
wir diesen Punkt gründlich behandelten. Ich will hier nur zeigen, daß dies Bedenken keine Hemmung
dagegen bietet, daß sie die Absolution durch den Priester als Sakrament bezeichneten. Sie könnten
ja auch mit den Worten des Augustin antworten, die Heiligung sei (manchmal) ohne das sichtbare
Sakrament und das sichtbare Sakrament ohne die in wendige Heiligung (Fragen zum Heptateuch III,84).
Sie hätten ebenso mit Augustins Worten darauf verweisen können, daß die Sakramente allein in den
Auserwählten das bewirken, was sie veranschaulichen. Oder ebenso darauf, daß nach Augustin
Christus von den einen bis zum Empfang des Sakraments "angezogen" wird, von den anderen bis zur
Heiligung, und daß jenes von Guten und Bösen gleichermaßen geschieht, dies dagegen allein von den
Guten (Von der Taufe gegen die Donatisten V,24,34). Jedenfalls sind sie mehr als kindisch in die
Irre gegangen und beim hellen Sonnenlicht blind gewesen, daß sie sich mit soviel Beschwerlichkeit
abgemüht, aber unterdessen diese klare und jedermann leicht zugängliche Sache nicht erschaut
haben!
IV,19,17 Aber damit sie darüber nicht stolz werden: sie mögen dem
Sakrament seinen Platz geben, wo sie immer wollen (ob nun in der Buße oder in der Absolution), so
bestreite ich doch, daß es mit Recht für ein Sakrament gehalten wird. Und zwar erstens deshalb,
weil hierfür keine besondere Verheißung Gottes besteht, die doch der einzige Wesensgrund für ein
Sakrament ist, zweitens deshalb, weil alles, was man hier an Zeremonien vorweist, reines
Men-schenfündlein ist, während wir doch bereits festgestellt haben, daß die Zeremonien der
Sakramente ausschließlich von Gott gestiftet werden können. Daher war also alles, was sich die
Römischen von dem "Sakrament der Buße" ausgedacht haben, Lug und Trug. Dieses erlogene
Sakrament haben sie dann auch mit dem gebührenden Lobpreis ausgezeichnet und gesagt, es sei die "zweite
(rettende) Planke nach dem Schiffbruch", denn wenn einer das "Gewand der Unschuld", das er in
der Taufe empfangen hätte, durch Sündigen verdorben hätte, so könnte er es durch die Buße
wiederherstellen (Petrus Lombardus, Sentenzen IV,14,1; Decretum Gratiani II,33,3, 72). Das ist aber
doch, so sagen sie, ein Ausspruch des Hieronymus! Er mag stammen, von wem er will, so kann man ihn
jedenfalls nicht davon freisprechen, daß er offenkundig gottlos ist, wenn er nach dem Verständnis
der Römischen ausgelegt wird! Als ob nun die Taufe durch die Sünde hinfällig würde! Als ob sie
nicht vielmehr dem Sünder ins Gedächtnis zurückgerufen werden müßte, sooft er an die Vergebung
der Sünden denkt, damit er sich dadurch wieder zurechtfindet, den Mut wiedergewinnt und den Glauben
stärkt, daß er die Vergebung der Sünden erlangen wird, die ihm in der Taufe verheißen ist!
Hieronymus erklärt in harter und uneigentlicher Redeweise, durch die Buße werde die Taufe, aus der
diejenigen herausfielen, die von der Kirche mit dem Bann belegt zu werden verdienten,
wiederhergestellt. Das beziehen nun diese guten Ausleger auf ihre Gottlosigkeit! Es wäre daher sehr
sachgemäß, wenn man behauptete, das "Sakrament der Buße" sei die Taufe; denn sie ist denen,
die nach Buße trachten, zur Bekräftigung der Gnade und als Siegel ihrer Zuversicht gegeben. Man
soll nicht meinen, das hätten wir uns selbst ausgedacht, denn abgesehen davon, daß es den Worten
der Schrift gemäß ist, liegt es auch klar zutage, daß es in der Alten Kirche wie ein ganz fester
Grundsatz allgemein verbreitet war. Denn die Taufe wird in dem Büchlein "Vom Glauben an Petrus
(Diaconus)", das man dem Augustin zuschreibt, als das "Sakrament des Glaubens und der Buße"
bezeichnet. (So wird es Decretum Gratiani II,15,1,3 angeführt.) Aber wozu nehmen wir unsere
Zuflucht zu ungewissen Zeugnissen? Als ob sich etwas Klareres suchen ließe als der Bericht des
Evangelisten: "Johannes ... predigte von der Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden" (Mark.
1,4; Luk. 3,3)!
IV,19,18 Das dritte selbsterdachte "Sakrament" ist die "letzte Ölung".
Sie wird nur vom Priester vollzogen, und zwar bei äußerster Lebensgefahr, wie sie sagen; dabei
verwendet man Öl, das vom Bischof geweiht ist, und spricht folgende festgelegten Worte: "Durch
diese heilige Ölung und durch diese unendlich gütige Barmherzigkeit möge dir Gott alles vergeben,
was du gesündigt hast mit Gesicht, Gehör, Geruch, Gefühl und Geschmack." Angeblich soll die
letzte Ölung zwei Wirkungen haben: sie soll erstens die Vergebung der Sünden schenken und
zweitens, wenn es so sein soll, eine Milderung der leiblichen Krankheit, andernfalls der Seelen
Seligkeit. Die Stiftung dieser letzten Ölung soll nach den Worten der Papisten von Jakobus
festgelegt sein, indem er spricht: "Ist jemand krank, der rufe zu sich die Ältesten von der
Gemeinde, daß sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn. Und das Gebet des
Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und so er hat Sünden getan,
werden sie ihm vergeben sein" (Jak. 5,14f.). Mit dieser Ölung ist es nun genauso bestellt wie
nach unserem obigen Nachweis mit der Handauflegung: sie ist eine gauklerische Heuchelei, mit der die
Römischen es ohne Ursache und ohne Frucht den Aposteln nachtun wollen.Markus berichtet, daß die
Apostel bei ihrer ersten Aussendung nach der Weisung, die sie von dem Herrn empfangen hatten, Tote
auferweckt, Teufel ausgetrieben, Aussätzige rein gemacht und Kranke geheilt haben; bei der Heilung
der Kranken haben sie dann nach seinem Bericht Öl angewendet; er sagt: "Sie salbten viele Sieche
mit Öl und machten sie gesund" (Mark. 6,13). Eben dies hatte Jakobus im Auge, als er gebot, man
solle die Ältesten herbeiholen, um den Kranken zu salben. Daß dergleichen Zeremonien kein tieferes
Geheimnis zugrunde liegt, das wird man leicht herausfinden können, wenn man darauf achtet, mit
wieviel Freiheit der Herr wie auch seine Apostel in solchen äußeren Dingen zu Werke gegangen sind.
Als der Herr einem Blinden das Gesicht zurückgeben wollte, da "machte er einen Kot" aus Erde
und Speichel (Joh. 9,6); andere heilte er durch Anrühren (Matth. 9,29), andere durch das Wort (Luk.
18,42). In der gleichen Weise haben die Apostel manche allein durch das Wort, andere durch Anrühren
und wieder andere durch Salbung gesund gemacht (Apg. 3,6; 5,16; 19,12). Ja, wird man sagen, aber es
ist doch anzunehmen, daß sie solche Salbung, ebensowenig wie auch alles andere, nicht unüberlegt
angewendet haben! Das gebe ich zu; aber diese Salbung sollte trotzdem nicht ein Werkzeug, sondern
bloß ein Merkzeichen der Heilung sein, durch welches der grobe Sinn der Unerfahrenen darauf
aufmerksam gemacht werden sollte, woher denn solch große Kraft stammte, damit sie nämlich das Lob
dafür nicht den Aposteln zollten. Es ist nun aber allgemein üblich und überall verbreitet, daß
mit dem Öl der Heilige Geist und seine Gaben bezeichnet werden (Ps. 45,8). Jedoch hat jene
Gnadengabe der Heilungen aufgehört, genau wie auch die anderen Wunder, die der Herr für eine
Zeitlang geschehen lassen wollte, um die Predigt des Evangeliums, die doch etwas Neues war, für
alle Ewigkeit wunderbar zu machen. Wenn wir also auch noch so nachdrücklich zugeben, daß die
Ölung ein Sakrament (d.h. ein Zeichen) jener Kraftwirkungen war, die damals durch die Hand der
Apostel ausgeteilt wurden, so hat das heute mit uns nichts zu tun, da uns die Austeilung solcher
Kraftwirkungen nicht anvertraut ist!
IV,19,19 Wieso wollen die Römischen denn mehr Ursache haben, aus dieser
Ölung ein Sakrament zu machen, als aus all den anderen Merkzeichen, die uns in der Schrift erwähnt
werden? Weshalb weisen sie uns nicht einen Badeteich Siloah an, in dem dann die Kranken zu
bestimmten Zeiten untertauchen sollten (Joh. 9,7)? Sie sagen, es wäre vergebens, wenn man das
machte. Jedenfalls nicht mehr vergebens als die Ölung! Weshalb "legen" sie sich nicht auf die
Toten, weil doch Paulus einen toten Jüngling auferweckt hat, indem er sich auf ihn legte (Apg.
20,10)? Warum ist ein "Kot" aus Speichel und Erde kein Sakrament? Ja, sagen sie, diese anderen
Fälle waren doch einzelne Beispiele, während dagegen die Ölung von Jakobus geboten wird!
Allerdings, aber Jakobus redet doch nach den Verhältnissen jener Zeit, als die Kirche solchen Segen
Gottes noch genoß! Sie behaupten zwar, daß ihrer Ölung noch die nämliche Kraft innewohnt —
aber wir erfahren es anders. Es soll sich nun niemand darüber verwundern, wieso sie die Seelen, von
denen sie wußten, daß sie, des Wortes Gottes, das heißt ihres Lebens und Lichtes beraubt, stumpf
und blind waren, mit solcher Selbstsicherheit zu Narren gehalten haben; denn sie schämen sich ja
nicht im mindesten, die Sinne des Leibes, die Leben und Gefühl haben, betrügen zu wollen! Sie
machen sich also lächerlich, wenn sie behaupten, sie seien mit der Gnadengabe der Heilung
ausgerüstet! Ohne Zweifel steht der Herr zu allen Zeiten den Seinen zur Seite und heilt ihre
Schwachheiten, sooft es vonnöten ist, nicht weniger als in alter Zeit. Jedoch jene offenkundigen
Kraftwirkungen läßt er nicht in der gleichen Weise zutage treten, auch teilt er keine Wunder
mehrdurch die Hand der Apostel aus; denn diese Gabe war zeitlich (und damit vorübergehend), auch
ist sie zu einem Teil schon allsogleich durch die Undankbarkeit der Menschen hinfällig geworden.
IV,19,20 Wie es also nicht unbegründet war, daß die Apostel durch das
Merkzeichen des Öles offen bezeugt haben, daß die Gnadengabe der Heilungen, die ihnen anbefohlen
war, nicht ihre Kraft, sondern die des Heiligen Geistes war, so ist es auf der anderen Seite ein
Unrecht gegenüber dem Heiligen Geist, wenn man ein stinkiges und durchaus ohne Wirkung bleibendes
Öl für seine Kraft erklärt. Das ist genau so, als wenn jemand sagte, jegliches Öl sei eine Kraft
des Heiligen Geistes, weil dieser ja in der Schrift mit diesem Namen bezeichnet wird, oder jegliche
Taube sei der Heilige Geist, weil er ja unter der Gestalt einer Taube erschienen ist (Matth. 3,16;
Joh. 1,32)! Aber da mögen sie selbst zusehen! Was für uns vorderhand vollauf genug ist, das haben
wir mehr als sicher gesehen, nämlich daß die Ölung der Papisten kein Sakrament ist; denn sie ist
weder eine von Gott eingerichtete Zeremonie noch hat sie irgendwelche Verheißung. Denn indem wir
bei einem Sakrament diese beiden Forderungen aufstellen, daß es erstens eine von Gott gestiftete
Zeremonie sei und zweitens eine Verheißung Gottes habe, verlangen wir zugleich, daß jene Zeremonie
uns überliefert ist und die Verheißung auf uns Bezug hat. Niemand behauptet nämlich, daß die
Beschneidung auch für die christliche Kirche noch ein Sakrament sei, obwohl sie von Gott gestiftet
war und eine Verheißung bei sich trug; das kommt daher, daß sie nicht uns aufgetragen ist, und
daß die Verheißung, die mit ihr verbunden war, uns nicht mit der gleichen Bestimmung gegeben
worden ist. Daß nun die Verheißung, auf die sich die Papisten bei der Ölung so wild berufen, uns
nicht gegeben ist, das haben wir einleuchtend nachgewiesen, und die Papisten geben es selbst durch
die Erfahrung zu erkennen. Die Zeremonie hätte nur von solchen angewendet werden dürfen, die mit
der Gnadengabe der Heilungen ausgerüstet waren, nicht aber von diesen Henkersknechten, die im
Schlachten und Morden mehr leisten als im Gesundmachen!
IV,19,21 Freilich selbst wenn die Papisten — wovon sie jedoch sehr weit
entfernt sind — bewiesen hätten, daß das, was bei Jakobus über die Ölung geboten wird, auf
unsere Zeit zuträfe, so hätten sie es auch damit noch nicht weit in ihrem Unternehmen gebracht,
ihre Ölung, mit der sie uns bislang beschmiert haben, als berechtigt zu erweisen. Jakobus will,
daß alle Kranken gesalbt werden (Jak. 5,14), die Papisten dagegen bestreichen mit ihrer Fettigkeit
nicht Kranke, sondern halbtote Leichname, wenn die Seele bereits ganz vorn auf den Lippen schwebt
oder, wie sie selbst sagen, wenn es mit dem Kranken zu äußerster Lebensgefahr gekommen ist. Wenn
sie nun in ihrem Sakrament eine wirksame Arznei besitzen, um damit die Heftigkeit der Krankheiten zu
lindern oder der Seele wenigstens einige Linderung zu verschaffen, so sind sie grausam, indem sie ja
ihr heilendes Werk nie zur rechten Zeit tun! Jakobus will, daß der Kranke von den Ältesten der
Kirche gesalbt wird — die Papisten lassen keinen Menschen zu, der die Salbung vollzieht, außer
dem Priester! Sie erklären zwar, bei Jakobus seien unter den "Ältesten" die "Priester"
verstanden, sie schwatzen, die Mehrzahl sei zum Zweck der Ehrung gesetzt; aber das ist doch gar zu
abgeschmackt — als ob die Kirche zu dieser Zeit von solchen Schwärmen von Priestern übergelaufen
wäre, daß sie in langem Aufzug hätten einherschreiten können, um das Gefäß mit dem heiligen
Öl herumzutragen! Jakobus gebietet einfach, man solle die Kranken salben, und damit deutet er
meines Erachtens keine andere Salbung an als die mit gewöhnlichem Öl; ein anderes Öl findet sich
auch in dem Bericht des Markus nicht. Die Papisten aber finden kein anderes Öl würdig als das, was
vom Bischof gesalbt, das heißt: mit viel Anatmen gewärmt, mit viel Gemurmel verzaubert und neunmal
unter Kniebeugen gegrüßt ist, wobei man dann dreimal ruft: "Sei gegrüßt, heiliges Öl",
dreimal: "Sei gegrüßt, heilige Salbe", und dreimal: "Sei gegrüßt, heiliger Balsam!" Von
wem haben sie sich wohl diese Beschwörung geholt? Jakobus sagt, wenn der Kranke mit Öl gesalbt und
das Gebet über ihm getan worden sei, dann solle ihm, wenn er in Sünden gewesen sei, Vergebung
zuteil werden, das heißt: die Schuld solle abgetan werden und er solle deshalb eine Linderung der
Strafe erhalten; damit meint er aber nicht, daß die Sünden durch das Fett zunichte werden sollen,
sondern daß die Gebete der Gläubigen, in denen der angefochtene Bruder Gott anbefohlen worden ist,
nicht unwirksam sein sollen. Die Papisten aber lügen gottlos daher, daß durch ihre "heilige",
das heißt: abscheuliche Salbung die Sünden vergeben würden! Da sieht man, wie herrlich weit sie
es bringen werden, wenn man ihnen verstattet, das Zeugnis des Jakobus nach ihrem Belieben reichlich
zu mißbrauchen. Und damit wir uns mit unserem (Gegen-)Beweis nicht länger zu mühen brauchen,
machen uns auch ihre eigenen Annalen von solcher Beschwernis frei. Sie berichten nämlich, daß der
Papst Innozenz (I.), der zur Zeit Augustins an der Spitze der Kirche zu Rom stand, die Anordnung
erlassen hat, es sollten nicht nur die "Presbyter", sondern auch alle Christen das Öl anwenden,
um bei ihren eigenen Nöten oder bei denen der Ihrigen die Salbung vorzunehmen. So schreibt es
Sigebertus in seiner Chronik.
IV,19,22 Den vierten Platz in der Reihe der (angeblichen) Sakramente weisen
die Papisten dem "Sakrament der (kirchlichen) Amtsordnung" (sacramentum ordinis) zu. Aber dies
"Sakrament" ist nun so fruchtbar, daß es sieben kleine Sakramente aus sich gebiert. Es ist doch
recht lächerlich, daß die Papisten zwar behaupten, es gäbe sieben Sakramente, aber dann, wenn sie
sie aufzählen wollen, tatsächlich dreizehn nennen! Sie können auch nicht einwenden, es handele
sich hier nur um ein einziges Sakrament, weil sich doch alle (sieben) auf das eine Priesteramt
bezögen und gleichsam Stufen zu ihm darstellten. Denn es steht fest, daß bei allen sieben je
verschiedene Zeremonien stattfinden, und die Papisten erklären ja auch selbst, daß dabei
unterschiedliche Gnadengaben vorhanden sind; es kann also niemand daran zweifeln, daß bei Annahme
ihrer Ansichten von sieben Sakramenten die Rede sein müßte. Wozu lassen wir uns auch überhaupt
auf eine Auseinandersetzung ein, als ob es sich hier um eine zweifelhafte Sache handelte? Sie
erklären doch selbst offen und unter Nennung der Unterschiede, daß es sieben Sakramente sind! Wir
müssen nun zunächst (1) im Vorbeigehen kurz darauf hinweisen, wie zahlreiche und ungereimte
Widersinnigkelten sie uns aufdrängen, wenn sie uns ihre Amtsordnungen als Sakramente empfehlen
wollen, und dann (2) wollen wir zusehen, ob die Zeremonie, die die Kirchen bei der Amtseinweisung
ihrer Diener anwenden, überhaupt als Sakrament bezeichnet werden darf. Die Papisten stellen also
sieben Amtsordnungen oder kirchliche Amtsstufen auf, die sie mit dem Titel "Sakrament"
auszeichnen. Das sind folgende: "Türhüter" (Ostiarii), "Vorleser" (Lectores), "Teufelaustreiber"
(Exorcistae), "Begleiter" (Acoluthae), Unterdiakone, Diakone, Priester. Die Siebenzahl kommt
nach ihrer Behauptung von der siebengestaltigen Gnade des Heiligen Geistes her, mit der diejenigen
begabt sein müssen, die in diese verschiedenen Ämter befördert werden (Petrus Lombardus,
Sentenzen IV,24,1). Diese Gnade wird ihnen aber, so behauptet man weiter, bei der Beförderung
vermehrt und reichlicher geschenkt.Nun ist schon die Zahl der Amtsstufen durch eine verkehrte
Auslegung der Schrift "geheiligt". Sie glauben nämlich bei Jesaja gelesen zu haben, daß es
sieben Kraftwirkungen des Heiligen Geistes gäbe, während Jesaja tatsächlich nicht mehr als sechs
erwähnt (Jes. 11,2) und der Prophet auch nicht die Absicht gehabt hat, sie an dieser Stelle alle
zusammenzufassen. Denn der Geist wird an anderer Stelle ebensowohl als der Geist des "Lebens"
(Ez. 1,20 nach der Vulgata), der Heiligung (Röm. 1,4) und der "Kindschaft" (Röm. 8,15; nicht
Luthertext) bezeichnet, wie er bei Jesaja "der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist
des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn" heißt (Jes. 11,2).
Allerdings nennen andere, die noch scharfsinniger sind, nicht sieben Amtsordnungen, sondern neun,
und zwar, wie sie sagen, nach dem Gleichnis der "triumphierenden Kirche" (Sieben Sakramente
zählt Hugo von Sankt Viktor, neun erwähnt Wilhelm von Paris). Und unter diesen Theologen ist auch
wieder Streit, indem nämlich die einen die Klerikertonsur für die erste unter allen Amtsstufen und
das Bischofsamt für die letzte erklären, die anderen aber die Tonsur ausschließen und dafür das
Amt des Erzbischofs zu den Amtsstufen hinzurechnen. Isidor macht den Unterschied anders; er erklärt
"Psalmisten" und "Lektoren" für zweierlei und gibt den Psalmisten die Aufgabe, Gesänge zu
halten, und den Lektoren, die Lesung der Schrift vorzunehmen, durch die das Volk unterwiesen werden
soll. Diese Unterscheidung wird auch in den kirchlichen Rechtssatzungen beobachtet (Isidor von
Sevilla, Etymologien VII,12 wird Decretum Gratiani I,21,1 angeführt). Was sollen wir nun nach dem
Willen unserer Widersacher bei solcher Vielfältigkeit annehmen oder ablehnen? Sollen wir sagen, es
gäbe sieben Amtsordnungen? So lehrt es der Meister der Schultheologie (Petrus Lombardus) — aber
sehr "erleuchtete" Lehrer bestimmen es anders! Und die sind wieder selbst uneins untereinander.
Außerdem rufen uns die "hochheiligen" Kirchensatzungen in anderer Richtung (Decretum Gratiani
I,23,18f.). Ja, so sieht eben die Einmütigkeit der Menschen aus, wenn sie ohne Gottes Wort über
göttliche Dinge streiten!
IV,19,23 Aber das geht nun über alle Torheit hinaus, daß sie sich Christus
bei jeder einzelnen Amtsordnung zum Amtsgenossen machen. Zuerst, so sagen sie, hat er das Amt des
Türwächters (ostiarius) versehen, als er eine "Geißel aus Stricken" machte und die Menschen,
die da verkauften und kauften, aus dem Tempel hinaustrieb (Joh. 2,15). Daß er der Türwächter ist,
das deutet er, behaupten sie, auch an, wenn er spricht: "Ich bin die Tür" (Joh. 10,7). Das Amt
des Vorlesers hat er angenommen, als er in der Synagoge den Jesaja las (Luk. 4,17). Das Amt des
Exorzisten hat er ausgeübt, als er Zunge und Ohren des Taubstummen mit Speichel anrührte und dem
Menschen dadurch das Gehör wiedergab (Mark. 7,31ff.). Daß er ein "Akoluth" ist, das hat er mit
den Worten bezeugt: "Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis" (Joh. 8,12).
Die Aufgabe eines Subdiakonen hat er erfüllt, als er sich ein Leintuch vorschürzte und seinen
Jüngern die Füße wusch (Joh. 13,4). Das Amt des Diakons übte er aus, als er seinen Leib und sein
Blut im Abendmahl austeilte (Matth. 26,26). Und das Amt des Priesters erfüllte er, als er sich am
Kreuz dem Vater als Opfer darbrachte (Matth. 27,5; Eph. 5,2). Diese Dinge kann man nicht ohne Lachen
anhören, und deshalb wundere ich mich geradezu, daß sie ohne Lachen geschrieben sind — wofern es
nämlich Menschen waren, die da schrieben! Besonders achtenswert aber ist der Scharfsinn, mit dem
sie bei der Benennung des "Akoluthen" philosophieren, sie nennen ihn "ceroferarius"
(Kerzenträger); das ist ein Wort, das meines Er-achtens der Zaubersprache angehört, jedenfalls bei
allen Völkern und in allen Sprachen unbekannt ist; während doch "Akoluthos" bei den Griechen
einfach einen Diener bezeichnet, der seinem Herrn auf dem Fuße folgt. Allerdings würde ich, wenn
ich mich ernstlich daransetzen wollte, diese Dinge zu widerlegen, auch selbst mit Recht ausgelacht
werden; so abgeschmackt und närrisch sind sie!
IV,19,24 Damit sie aber den Weiblein nicht weiter etwas vormachen, so
müssen wir im Vorbeigehen ihre Eitelkeit ans Licht ziehen. Mit großartiger Pracht und
Feierlichkeit ernennen sie ihre Lektoren, Psalmisten, Türwächter und Akoluthen, um solche Ämter
auszuüben, die sie tatsächlich von Kindern oder jedenfalls von den "Laien" — wie sie sich
ausdrücken — versehen lassen! Denn wer zündet eigentlich in den meisten Fällen die Kerzen an,
wer gießt mit einem Krüglein Wein und Wasser ein? Wer tut das anders als ein Knabe oder irgendein
armer Mensch aus dem "Laienstande", der damit seinen Erwerb treibt? Und sind die, die da singen,
nicht ebensolche Leute? Besorgen sie nicht auch das Schließen und Öffnen der Kirchengebäude? Wer
hat denn in den Kirchengebäuden der Papisten je einen "Akoluthen" oder "Ostiarius" gesehen,
der seine Amtsaufgabe wahrnahm? Nein, es ist gar so: wenn einer, der als Knabe das Amt des "Akoluthen"
ausgeübt hat, nachher in die Amtsordnung der "Akoluthen" aufgenommen wird, so hört er damit
auf, das zu sein, was er dem Namen nach erst von jetzt an ist! Es kommt einem geradezu so vor, als
ob diese Leute mit voller Überlegung das Amt selbst von sich werfen wollten, wenn sie den Titel
annehmen! Da sieht man auch, wozu sie es für notwendig erachten, mit Sakramenten geweiht zu werden
und den Heiligen Geist zu empfangen — eben dazu, daß sie nichts tun! Wenn sie den Vorwand machen,
das sei eben die Verkehrtheit unserer Zeit, daß sie ihre Ämter verließen und vernachlässigten,
so sollen sie doch zugleich auch zugeben, daß heutzutage in der Kirche kein Nutzen und keine Frucht
von ihren "heiligen" Amtsordnungen vorhanden ist, die sie so wunderbar verherrlichen, und daß
ihre ganze Kirche vom Fluch erfüllt ist, indem sie es ja zuläßt, daß Kerzen und Krüglein von
Kindern und "Ungeweihten" berührt werden, obwohl doch zu ihrer Berührung nur solche Leute "würdig"
sind, die man zu "Akoluthen" geweiht hat — und indem sie die Gesänge den Knaben überläßt,
obwohl man sie doch ausschließlich aus einem "geweihten" Munde vernehmen sollte. Und zu welchem
Zweck weihen sie eigentlich die "Exorzisten"? Ich höre, daß die Juden ihre Exorzisten gehabt
haben; aber ich sehe auch, daß diese ihren Namen von Teufelaustreibungen hatten, die sie
tatsächlich vornahmen (Apg. 19,13)! Wer hat nun von diesen erlogenen Exorzisten je sagen hören,
daß sie auch nur einen einzigen Beweis für ihren Beruf abgelegt hätten? Man dichtet ihnen an, sie
hätten die Vollmacht empfangen, an Geistesgestörten, Katechumenen und Besessenen die Handauflegung
vorzunehmen — aber sie können die Teufel nicht davon überzeugen, daß sie mit solcher Vollmacht
ausgestattet sind, und zwar nicht allein, weil die Dämonen auf ihren Befehl hin nicht weichen,
sondern auch, weil sie selbst von den bösen Geistern beherrscht werden! Denn man wird unter ihrer
zehn kaum einen finden, der nicht von einem bösen Geist getrieben würde. Es ist also alles, was
sie sich über ihre "niederen" Amtsordnungen zusammenschwatzen, aus törichten, närrischen
Lügen zusammengesetzt. Von den Akoluthen, Ostiariern und Lektoren der Alten Kirche haben wir
anderwärts gesprochen, als wir die Ordnung der Kirche darstellten. An dieser Stelle besteht unsere
Absicht ausschließlich darin, gegen jenes neuerliche Fündlein von dem siebenfachen Sakrament zu
kämpfen, das in den kirchlichen Amtsordnungen liegen soll und von dem man nirgendwo anders etwas zu
lesen bekommt als bei diesen läppischen Zungendreschern, den Theologen der Sorbonne und den
kanonischen Rechtslehrern.
IV,19,25 Jetzt wollen wir noch auf die Zeremonien unser Augenmerk richten,
die sie anwenden. Zunächst haben sie ein gemeinsames Merkzeichen, mit dem sie alle, die sie in
ihren Kriegsdienst nehmen, in den Stand der Kleriker einweihen. Sie scheren ihnen nämlich allen den
Scheitel, damit solche "Krone" eine königliche Zier andeute, weil ja die Kleriker Könige sein
müßten, um sich selbst und andere zu regieren (Decretum Gratiani II,12,1,7). Denn von den
Klerikern — so behaupten sie — sagt Petrus: "Ihr seid das auserwählte Geschlecht, das
königliche Priestertum, das heilige Volk, das Volk des Eigentums" (1. Petr. 2,9)! Nun war es aber
ein Raub an Gottes Eigentum, daß sie sich das, was der ganzen Kirche beigelegt wird, allein
anmaßten, und daß sie sich mit einem Titel, den sie den Gläubigen entrissen haben, so hoffärtig
rühmten. Petrus redet die gesamte Kirche an, die Papisten aber verdrehen das und beziehen es bloß
auf einige wenige Geschorene — als ob allein zu ihnen gesagt wäre: "Ihr sollt heilig sein"
(1. Petr. 1,15), als ob sie allein "mit dem Blute Christi" "erlöst" wären (1. Petr.
1,18f.), und als ob sie es allein wären, die Gott durch Christus zu einem Königreich und
Priestertum gemacht sind (1. Petr. 2,5.9)! Dann verweisen sie auf andere Ursachen (für die Tonsur):
die höchste Stelle des Hauptes werde entblößt, damit gezeigt würde, daß der Sinn der Kleriker
frei zu dem Herrn stünde, um "mit aufgedecktem Angesicht" (2. Kor. 3,18) die Herrlichkeit
Gottes anzuschauen, oder damit ihnen deutlich würde, daß die Verkehrtheiten des Mundes und der
Augen abgetan werden müssen (Decretum Gratiani IV,24,2). Oder sie erklären auch, das Scheren des
Hauptes sei die Ablegung der zeitlichen Güter (Decretum Gratiani IV,12,1,7), der rings um die
Tonsur liegende Kranz (von Haaren) aber bedeute die übrigbleibenden Güter, die dem Kleriker zum
Lebensunterhalt belassen würden! Alles reden sie in Abbildern — denn der Vorhang im Tempel ist
eben (für diese Leute) noch nicht zerrissen (Matth. 27,51). So sind sie also überzeugt, daß sie
ihre Aufgabe damit erfüllt hätten, daß sie solche Dinge mit ihrem "Kranz" bildlich
dargestellt haben — und leisten deshalb von alledem tatsächlich nichts! Wie lange wollen sie uns
denn mit solchen Trügereien und Gaukeleien zu Narren halten? Die Kleriker deuten (angeblich) mit
dem Abscheren von einigen Haaren an, daß sie den Überfluß an zeitlichen Gütern von sich getan
haben, Gottes Herrlichkeit anschauen und die Begehrlichkeit der Augen und Ohren abgetötet haben —
und dabei gibt es doch keine Art Menschen, die raubgieriger, stumpfer und lüsterner sind! Weshalb
beweisen sie solche Heiligkeit nicht lieber in Wahrheit, als mit solchen falschen, lügenhaften
Zeichen einen Schein davon vorzutäuschen?
IV,19,26 Wenn sie nun sagen, der Haarkranz der Kleriker stamme von den
Nasiräern her (Petrus Lombardus, Sentenzen IV,24,2) und habe von ihnen seine Art, so mochte ich
wissen, was sie damit anders vorbringen, als daß eben ihre Geheimnisse (Sakramente) aus den
jüdischen Zeremonien entstanden sind, ja, vielmehr reines Judentum darstellen. Weiter behaupten
sie, es hätten sich doch auch Priscilla, Aquila und Paulus selbst auf Grund eines Gelübdes das
Haupt geschoren (Apg. 18,18), um dadurch gereinigt zu werden. Aber damit bringen sie ihre grobe
Unwissenheit an den Tag. Denn von Priscilla steht das nirgendwo zu lesen, und von Aquila ist es
ebenfalls unsicher, weil nämlich jenes Haarscheren (an der genannten Stelle Apg. 18,18) ebensogut
auf Paulus wie auf Aquila bezogen werden kann. Damit wir ihnen aber nicht überlassen, was sie
beweisen wollen, nämlich daß sie an Paulus ein Vorbild hätten, müssen die Einfältigeren darauf
achten, daß Paulus sich nie und nimmer das Haupt geschoren hat, um damit irgendwelche Heiligung zu
erlangen, sondern allein, um der Schwachheit der Brüder zu dienen. Solche Gelübde pflege ich "Gelübde
aus Liebe" zu nennen, nicht solche aus "Frömmigkeit"; das heißt: sie sind nicht zum Zweck
irgendeines Gottesdienstes geleistet, sondern zum Ertragen der groben Art der Schwachen, wie Paulus
ja selber sagt, er sei "den Juden geworden ein Jude ..." (1. Kor. 9,20). Er hat dies also getan,
und zwar nur ein einziges Mal und für kurze Zeit, um sich den Juden für diesen Zeitraum
anzupassen. Was tun nun aber die Papisten, wenn sie ohne jeden Nutzen die Reinigungsübungen der
Nasiräer nachmachen wollen, anders, als daß sie ein zweites Judentum aufrichten, indem sie es dem
alten in verkehrter Weise gleichzutun trachten (Num. 6,18)? Mit der gleichen "heiligen Scheu"
ist jenes Verordnungsschreiben (decretalis epistola) zusammengestellt, das den Klerikern die
Anweisung gibt, sie sollten sich nach dem Gebot des Apostels das Haar nicht lang wachsen lassen (1.
Kor. 11,4), sondern (den Kopf) wie einen Ball geschoren tragen (Decretum Gratiani I,23,21). Als ob
der Apostel, wenn er eine Lehre darüber gibt, was bei allen Männern ehrbar ist, um die runde
Tonsur der Kleriker besorgt gewesen wäre! Hieraus mag der Leser ein Urteil darüber gewinnen,
wieviel Wirkung und Würde wohl die anderen, nachfolgenden "Geheimnisse" haben werden, wenn man
auf diese Weise den Zugang zu ihnen bekommt!
IV,19,27 Woher die Tonsur der Kleriker (tatsächlich) ihren Ursprung hat,
das ergibt sich schon allein aus Augustin mehr als zur Genüge. Weil zu jener Zeit bloß Weichlinge
und Leute, welche in recht unmännlicher Weise auf Glanz und feine Lebensart versessen waren, das
Haar lang trugen, so schien es kein gutes Vorbild zu sein, wenn man es den Klerikern erlaubte. Daher
gebot man den Klerikern, das Haupt entweder zu scheren oder kahl zu schneiden, damit sie nicht den
Schein einer weibischen Geziertheit an den Tag legten. Das Hauptscheren war so weit verbreitet, daß
einige Mönche, die eine auffallende und von den anderen unterschiedene Tracht suchten, um damit
ihre Heiligkeit desto besser zur Schau zu tragen, ihr Haar frei wachsen ließen (Augustin, Vom Werk
der Mönche 33; Retraktationen II,47). Als man aber hernach wieder zur Haartracht zurückkehrte und
auch manche Völker zum Christentum kamen, die das Haar stets lang getragen hatten, wie Frankreich,
Deutschland und England, da haben die Kleriker wahrscheinlich allenthalben das Haupt geschoren, um
nicht den Eindruck zu erwecken, als seien sie auf den Schmuck versessen, den das Haupthaar gewährt.
Schließlich kam dann eine verdorbenere Zeit, in der alle früheren Einrichtungen in ihr Gegenteil
verkehrt oder zum Aberglauben entartet waren; da sah man für das Hauptscheren der Kleriker
keinerlei Ursache mehr; denn man hatte ja nichts mehr übrigbehalten als eine törichte Nachahmung
— und deshalb nahm man seine Zuflucht zu dem "Geheimnis", das sie uns jetzt abergläubisch
aufdrängen, um ihr "Sakrament" zu beweisen. Die "Türhüter" empfangen bei ihrer Weihe die
Schlüssel zum Kirchengebäude, um daran zu merken, daß ihnen die Hut dieser Gebäude aufgetragen
ist. Die "Lektoren" empfangen die Bibel. Die "Exorzisten" bekommen die Beschwörungsformeln
zu wissen, die sie an den Geistesgestörten und den Katechumenen anwenden sollen. Den "Akoluthen"
gibt man die Kerzen und das Krüglein. Sieh da, das sind nun die Zeremonien, denen, wenn es Gott
gefällt, soviel verborgene Kraft innewohnt, daß sie nicht nur "Zeichen" und Unterpfänder der
"unsichtbaren Gnade" sein können, sondern auch Ursachen derselben! Denn das verlangen sie doch
nach ihrer Begriffsbestimmung, wenn sie wollen, daß man diese Handlungen zu den Sakramenten zählen
soll. Um es aber mit wenigen Worten abzumachen, so behaupte ich: es ist Widersinn, daß man in den
Schulen und in den kirchlichen Satzungen diese "niederen" Amtsordnungen für Sakramente
erklärt, wo sie doch — auch nach dem Zugeständnis derer, die diese Lehre vortragen — der
ursprünglichen Kirche unbekannt gewesen und erst viele Jahre nachher ausgedacht worden sind (Petrus
Lombardus, Sentenzen IV,24,9). Da nun aber die Sakramente eine Verheißung Gottes in sich tragen, so
können sie weder durch Engel noch durch Menschen, sondern allein von Gott gestiftet werden, bei dem
allein es ja steht, eine Verheißung zu geben.
IV,19,28 Nun sind noch die drei Amtsordnungen übrig, die man die "höheren"
nennt. Unter diesen ist das Amt der "Subdiakonen", wie sie sagen, zu der Zeit in diese Reihe
aufgenommen worden, als jene Schar der "niederen" Amtsstufen überhandzunehmen begann. Weil die
Papisten nun für diese Amtsstufen ein Zeugnis aus dem Worte Gottes zu haben scheinen, so nennen sie
sie, um sie zu ehren, in besonderem Sinne die "heiligen Amtsordnungen". Aber wir müssen
zusehen, wie verkehrt sie damit die Stiftungen des Herrn zu ihrem Vorwand mißbrauchen. Wir wollen
dabei den Anfang mit der Amtsordnung des "Presbyteramtes" oder "Priesteramtes" machen. Mit
diesen beiden Bezeichnungen meinen sie nämlich eine und dieselbe Sache, und sie benennen damit
diejenigen, denen nach ihrer Behauptung die Aufgabe zufällt, das Opfer des Leibes und Blutes des
Herrn auf dem Altar zu bereiten, die Gebete zu halten und die Gaben Gottes zu segnen. Daher
empfangen sie bei ihrer Ordination eine Schale mit Hostien, die als Merkzeichen dafür dienen
sollen, daß ihnen die Vollmacht übertragen ist, Gott Sühnopfer darzubringen; außerdem werden
ihnen die Hände gesalbt — ein Merkzeichen, durch das sie darüber belehrt werden, daß ihnen die
Vollmacht zum Weihen gegeben ist. Aber über die Zeremonien will ich später noch sprechen. Über
die Sache selber sage ich dies: sie hat nicht einen Tüttel aus dem Worte Gottes (für sich), das
die Papisten als Vorwand dazu benutzen, und zwar so rein gar nicht, daß sie, die von Gott gesetzte
Ordnung nicht schamloser hätten verderben können! Zunächst muß es nun — und das haben wir bei
Behandlung der päpstlichen Messe bereits ausgesprochen — als ausgemachte Sache gelten, daß alle,
die sich "Priester" nennen, um ein Sühnopfer darzubringen, Christus Unrecht tun. Er ist vom
Vater mit einem Eidschwur zum Priester eingesetzt und geweiht worden, nach der Ordnung Melchisedeks,
ohne Ende und ohne Nachfolger (Ps. 110,4; Hebr. 5,6; 7,3). Er hat einmal das Opfer einer ewigen
Sühne und Versöhnung dargebracht, und auch jetzt, wo er in das Heiligtum des Himmels eingegangen
ist, tritt er für uns ein. In ihm sind wir alle Priester, aber um Gott Lob und Dank und
schließlich uns selbst und was wir haben zu opfern. Er allein hat das einzigartige Amt gehabt, mit
seinem Opfer Gott zu versöhnen und die Sünden abzutun. Wenn sich das nun die Papisten anmaßen,
was bleibt dann übrig, als daß ihr Priesteramt gottlos und heiligtumsschänderisch ist? Jedenfalls
treiben sie es in ihrer Unverschämtheit zu weit, wenn sie es mit dem Titel eines "Sakraments"
auszuzeichnen sich erdreisten. Was das wahre Presbyteramt angeht, das uns durch Christi eigenes Wort
anbefohlen ist, so will ich es gerne als "Sakrament" gelten lassen. Denn da haben wir es mit
einer Zeremonie zu tun, und die ist erstens aus der Schrift entnommen, und zweitens bezeugt uns
Paulus, daß sie nicht leer und überflüssig ist, sondern ein zuverlässiges Merkzeichen der
geistlichen Gnade darstellt (1. Tim. 4,14). Daß ich das Presbyteramt trotzdem nicht als drittes in
die Zahl der Sakramente eingereiht habe, das ist deshalb geschehen, weil es nicht allen Gläubigen
ordnungsmäßig zukommt und nicht allen gemein ist, sondern einen besonderen Gebrauch für eine
bestimmte Amtsaufgabe darstellt. Aber wenn dem christlichen Amte solche Ehre beigelegt wird, so
besteht deshalb kein Grund, daß diepapistischen Priester hoffärtig sind. Denn Christus hat
geboten, daß die Männer, die sein Evangelium und seine Geheimnisse (Sakramente) austeilen,
ordiniert werden, nicht aber, daß Opferpriester geweiht werden sollen. Er hat eine Weisung über
die Predigt des Evangeliums und das Weiden der Herde gegeben, nicht aber über die Darbringung von
Opfern (Matth. 28,19; Mark. 16,15; Joh. 21,15). Er hat die Gnadengabe des Heiligen Geistes
verheißen, aber nicht, um eine Sühne für die Sünden zu vollziehen, sondern um die Leitung der
Kirche nach Gebühr auszuüben und wahrzunehmen.
IV,19,29 Mit der Sache selbst befinden sich die Zeremonien in bester
Übereinstimmung. Als unser Herr die Apostel zur Predigt des Evangeliums aussandte, da "blies er
sie an" (Joh. 20,22). Mit diesem Merkzeichen veranschaulichte er die Kraft des Heiligen Geistes,
mit der er sie begabte. Dieses Anblasen haben diese trefflichen Männer (die Papisten) beibehalten,
und als ob sie den Heiligen Geist aus ihrer Kehle hervorblasen könnten, murmeln sie über denen,
die sie zu Priestern machen: "Nehmet hin den Heiligen Geist!" So rein gar nichts lassen sie
unberührt, ohne es in ihrer verkehrten Art nachzumachen — ich sage nicht: nach der Art der
Schaubühnendarsteller, die ihre Gebärden nicht ohne Kunstfertigkeit und nicht ohne Bedeutung
machen, sondern: genau wie die Affen, die lustig und ohne jede Auswahl alles nachahmen! Ja, sagen
sie, wir wahren damit doch das Vorbild des Herrn. Nein, der Herr hat vieles getan, was nach seinem
Willen kein Vorbild für uns sein sollte. Der Herr hat zu den Jüngern gesagt: "Nehmet hin den
Heiligen Geist" (Joh. 20,22). Er hat auch zu Lazarus gesagt: "Lazarus, komm heraus" (Joh.
11,43). Er hat zu dem Gichtbrüchigen gesagt: "Steh auf ... und wandle" (Matth. 9,5; Joh. 5,8).
Weshalb richten denn die Papisten nicht die gleichen Worte an alle Toten und Gichtbrüchigen?
Christus hat einen Beweis seiner göttlichen Kraft gegeben, indem er seine Apostel anblies und sie
dadurch mit der Gnadengabe des Heiligen Geistes erfüllte. Wenn die Papisten nun das gleiche zu
bewirken versuchen, so wetteifern sie mit Gott und fordern ihn geradezu zum Streit heraus; aber sie
bleiben so weit wie nur möglich davon entfernt, etwas zu erreichen, und tun mit ihrer närrischen
Gebärde nichts anderes, als daß sie Christus verspotten. Es gibt manche, die so schamlos sind,
daß sie zu behaupten wagen, durch sie werde der Heilige Geist geschenkt; aber wie wahr das ist, das
lehrt die Erfahrung, die einem laut kundmacht, daß alle, die man zu Priestern weiht, aus Pferden zu
Eseln und aus Narren zu Wahnwitzigen werden! Trotzdem mache ich ihnen nicht hieraus einen Streit;
ich verdamme nur die Zeremonie selbst: sie hätte nicht als Vorbild verwendet werden dürfen, da sie
ja von Christus als einzigartiges Merkzeichen eines Wunders gebraucht worden ist — so wenig kann
die Rede davon sein, daß den Papisten die Entschuldigung, Christus nachzuahmen, als Schutz dienen
sollte.
IV,19,30 Von wem haben sie aber eigentlich die Salbung genommen? Sie
antworten, sie hätten sie von den Söhnen Aarons empfangen, von dem auch ihr Stand sich herleite
(Petrus Lombardus, Sentenzen IV,24,9; Decretum GratianI, I,21). Sie wollen sich also fort und fort
lieber mit verkehrten Beispielen verteidigen, als zuzugestehen, daß sie sich das, was sie
unbesonnen anwenden, selbst ausgedacht haben. Unterdessen achten sie aber nicht darauf, daß sie,
indem sie Nachfolger der Söhne Aarons zu sein bekennen, dem Priestertum Christi Unrecht zufügen;
denn dies allein wird durch alle alten Priestertümer schattenhaft angedeutet und bildlich
dargestellt. In ihm sind sie also alle abgeschlossen und erfüllt worden, in ihm haben sie ihr Ende
gefunden, wie ich das bereits mehrfach wiederholt habe und wie es der Brief an die Hebräer auch
ohne die Unterstützung durch Erläuterungen bezeugt. Wenn sie an den mosaischen Zeremonien so
großes Gefallen finden — warum zerren sie dann keine Ochsen, Kälber und Lämmer zum Opfer? Sie
besitzen zwar einen guten Teil der alten Stiftshütte und des gesamten jüdischen Gottesdienstes,
aber ihre Religion hat doch den "Mangel", daß sie keine Kälber und Ochsen schlachten! Wer
sieht nun nicht, daß der Brauch der Salbung, wie sie ihn üben, viel verderblicher ist als die
Beschneidung (es wäre), vor allem, wo doch noch der Aberglaube und die pharisäische Wahnmeinung
von der Würdigkeit des Werkes hinzukommt? Die Juden setzten alle Zuversicht auf Gerechtigkeit in
die Beschneidung — die Papisten meinen, die geistlichen Gnadengaben lägen in der Salbung. Indem
sie also Nacheiferer der Leviten zu sein begehren, werden sie von Christus abtrünnig und sagen sie
sich von dem Amt der Hirten los!
IV,19,31 Das ist also, wenn Gott es so will, das "heilige" Öl, das den
Gesalbten ein "unauslöschliches Wesensmerkmal" (character indelebilis) aufdrückt. Als ob man
Öl nicht mit Sand und Salz oder, wenn es zäher festsitzt, mit Seife abwaschen könnte! Aber, so
wenden sie ein, dieses "Wesensmerkmal" ist doch geistlich, was hat aber dann das Öl mit der
Seele zu tun? Sie leiern doch selbst aus dem Augustin den Satz daher: "wenn das Wort von dem
Wasser weggezogen wird, so ist nichts mehr da als Wasser, und das Wasser hat von dem Wort her die
Eigenschaft, daß es ein Sakrament ist" (Predigten zum Johannesevangelium 80,3). Haben sie das nun
vergessen? Was für ein Wort wollen sie uns denn in ihrem Fett vorweisen? Etwa dies, daß Mose die
Weisung empfangen hat, die Söhne Aarons zu salben (Ex. 30,30)? Aber da ergeht doch auch ein Befehl
über den Rock, den Ephod, die Mütze und die Krone der Heiligkeit, mit denen Aaron geziert werden
sollte, und über die Röcke, Gürtel und Hüte, mit denen seine Söhne bekleidet werden sollten. Es
ergeht doch auch die Weisung, ein Kalb zu schlachten, sein Fett als Opfer zu verbrennen, die Widder
zu zerstückeln und zu verbrennen, die Ohrläppchen und Gewänder der Priester mit dem Blut des
einen Widders zu heiligen — und es finden sich da noch zahllose andere Bräuche, so daß ich mich
wundere, wieso sie die weglassen und allein an der Salbung mit Öl Gefallen finden. Wenn sie aber
Freude daran haben, besprengt zu werden — warum lassen sie sich dann lieber mit Öl besprengen als
mit Blut? Wahrhaftig, sie versuchen ein Meisterstück, nämlich aus Christentum, Judentum und
Heidentum wie aus zusammengenähten Lappen eine Religion herzustellen! Daher ist ihre Salbung
stinkig, weil ihr eben das Salz, nämlich das Wort Gottes fehlt. Nun ist noch die Handauflegung
übrig; da gebe ich zu, daß sie bei wahren und rechtmäßigen Ordinationen ein Sakrament ist, aber
ich behaupte ebenso, daß sie in diesem Possenspiel keinen Platz hat, wo man weder dem Gebot Christi
gehorcht noch den Zweck im Auge hat, dem uns die Verheißung zuführen soll, wenn sie nicht wollen,
daß man ihnen das Zeichen versagt, so müssen sie es der Sache selbst anpassen, für die es
verordnet ist.
IV,19,32 Auch im Bezug auf die Amtsordnung des Diakonats würde ich keinen
Streit erheben, wenn jenes Amt, das unter den Aposteln und in der reineren Kirche bestanden hat, in
seinen lauteren Zustand zurückversetzt würde. Aber was haben die Leute, die die Papisten als
Diakone ausgeben, damit für Ähnlichkeit? Ich spreche nicht über die Menschen, damit sie sich
nicht beklagen, ihre Lehre werde unbilligerweise nach den Verkehrtheiten von Menschen beurteilt,
sondern ich behaupte, daß das Zeugnis eben für diese Leute, die sie uns in ihrer Lehre als
Diakonen vorführen, in unwürdiger Weise von dem Vorbild derer hergenommen wird, die die
apostolische Kirche als Diakonen eingesetzt hat. Sie sagen, ihren "Diakonen" fiele die Aufgabe
zu, daß sie den Priestern zur Seite stünden, daß sie bei allem, was im Vollzug der Sakramente
verrichtet wird, Dienst leisteten, nämlich bei der Taufe, bei der Salbung, bei der Schale und beim
Kelch, daß sie die Opfergaben herbeibrächten und auf den Altar legten, daß sie den Tisch des
Herrn bereiteten und deckten, das Kreuz trügen und das Evangelium und die Epistel dem Volke
vorläsen und vorsängen. Findet sich hier nun auch nur ein Wort von dem wahren Amt der Diakonen?
Jetzt wollen wir auch hören, wie man die Einsetzung dieses "Diakonen" vollzieht: "Dem Diakon,
der ordiniert wird, legt allein der Bischof die Hand auf." Der Bischof legt ihm das "Orarium"
und die "Stola" auf die linke Schulter, damit er begreift, daß er das leichte Joch des Herrn
auf sich genommen hat, um nun alles, was zur linken Seite gehört (das Herz!), der Gottesfurcht zu
unterwerfen. Er legt ihm auch den Text des Evangeliums vor, damit er sich als dessen Herold erkenne.
Was hat das nun mit den Diakonen zu tun? Die Papisten tun genau so, wie wenn jemand sagte, er wolle
Apostel einsetzen, und ihnen dabei doch bloß die Aufgabe zuerteilte, Weihrauch zu verbrennen,
Bilder zu putzen, Kirchengebäude zu kehren, Mäuse zu fangen und Hunde wegzujagen! Wer würde es
dulden, daß man eine solche Art Menschen als "Apostel" bezeichnete und sie mit den Aposteln
Christi selbst vergliche? Sie sollen also von jetzt an nicht mehr weiter die Lüge aussprechen, das
wären Diakonen, die sie doch bloß zu ihren Schauspielereien einsetzen! Ja, selbst durch den Namen
geben sie genugsam zu erkennen, von welcher Art dieses Amt ist. Sie nennen diese Leute nämlich "Leviten"
und wollen ihr Wesen und ihren Ursprung auf die Söhne Levis zurückgeführt wissen. Das können sie
von mir aus tun, wenn sie sie nur nicht weiterhin mit fremden Federn schmücken.
IV,19,33 Was soll ich von den Subdiakonen sagen? Denn obwohl diese Leute in
alter Zeit wirklich die Fürsorge für die Armen zu leiten hatten, weisen ihnen die Papisten ich
weiß nicht was für eine possenhafte Amtsaufgabe zu, nämlich daß sie Kelch und Schale, das
Krüglein mit Wasser und das Handtuch zum Altar tragen, das Wasser zum Händewaschen eingießen und
so fort, was sie nun aber vom Empfangen und Herbeitragen der Opfergaben sagen, das beziehen sie auf
solche Gaben, die sie als zur Weihegabe bestimmt selbst einschlucken. Diesem "Amt" entspricht
aufs beste der Brauch bei der Weihe. Dieser sieht vor, daß der zu Weihende von dem Bischof Schale
und Kelch empfängt, vom Archidiakonen ein Krüglein mit Wasser, ein Handtuch und ähnlichen
Trödel. Sie verlangen nun, wir sollten zugeben, daß in dergleichen Albernheiten der Heilige Geist
eingeschlossen sei. Welcher fromme Mensch wird sich unterstehen, das zuzugeben? Aber, um einmal ein
Ende zu machen: man kann von den Subdiakonen das gleiche halten wie von den anderen; denn es ist
nicht nötig, ausführlicher zu wiederholen, was oben auseinandergesetzt worden ist. Das wird
bescheidenen und gelehrigen Leuten — und solche zu unterweisen habe ich unternommen — genügen
(um zu der Einsicht zu kommen), daß ein Sakrament Gottes nur da vorliegt, wo eine Zeremonie vor uns
hintritt, die an eine Verheißung gebunden ist, oder besser: wo die Verheißung in der Zeremonie
erschaut wird. Hier jedoch findet sich nicht eine einzige Silbe von irgendeiner bestimmten
Verheißung; also wird man auch vergebens nach einer Zeremonie suchen, um die Verheißung zu
bekräftigen. Auf der anderen Seite steht nirgendwo zu lesen, daß irgendeine unter den Zeremonien,
die die Papisten anwenden, von Gott eingesetzt sei. Also kann hier auch kein Sakrament vorliegen.
IV,19,34 An letzter Stelle steht (unter den angeblichen Sakramenten) der
Ehestand. Daß dieser von Gott gestiftet ist, das geben alle Leute zu, aber andererseits hat bis auf
die Zeit Gregors (VII.) niemand etwas davon gesehen, daß er uns als Sakrament gegeben wäre.
Welchem Menschen von gesunden Sinnen sollte das auch je in den Kopf gekommen sein? Gewiß, der
Ehestand ist eine gute und heilige Ordnung Gottes; aber auch der Ackerbau, das Häuserbauen, das
Schuster-und Barbierhandwerk sind rechtmäßige Ordnungen Gottes und trotzdem keine Sakramente. Denn
bei einem Sakrament wird nicht nur verlangt, daß es Gottes Werk sei, sondern daß es auch eine
äußere Zeremonie ist, die Gott dazu aufgerichtet hat, eine Verheißung zu bekräftigen. Auch
Kinder werden das Urteil gewinnen, daß bei dem Ehestand nichts dergleichen vorliegt. Aber, so sagen
die Papisten, er ist doch das Zeichen einer heiligen "Sache", nämlich der geistlichen
Verbindung Christi mit der Kirche! Wenn sie nun unter dem Wort "Zeichen" ein Merkzeichen
verstehen, das uns von Gott dazu vorgelegt ist, um die Gewißheit unseres Glaubens aufzurichten,
dann irren sie (mit ihrer obigen Behauptung) weit von dem gegebenen Richtpunkt ab; wenn sie aber den
Begriff "Zeichen" in seinem einfachen Sinne auffassen und darunter schlechtweg das verstehen,
was als Gleichnis angeführt, so will ich nachweisen, wie "scharfsinnig" sie ihre Folgerung
ziehen. Paulus sagt: "Wie sich ein Stern an Klarheit von dem anderen unterscheidet, also auch die
Auferstehung der Toten" (1. Kor. 15,41f.; Anfang ungenau). Da haben wir also das eine Sakrament.
Christus spricht: "Das Himmelreich ist gleich einem Senfkorn" (Matth. 13,31). Da hätten wir das
zweite Sakrament! Und wiederum spricht er: "Das Himmelreich ist einem Sauerteig gleich" (Matth.
13,33). Das wäre also das dritte! Jesaja sagt: "Der Herr wird seine Herde weiden wie ein Hirte"
(Jes. 40,11). Das vierte Sakrament! An anderer Stelle spricht er: "Der Herr wird ausziehen wie ein
Riese" (Jes. 42,13). Das fünfte! Und wo soll nun hier Ziel und Maß sein? In diesem Sinne wird
alles ein Sakrament sein: soviel Gleichnisse und Vergleiche es in der Schrift gibt, soviel
Sakramente werden wir dann haben! Ja, selbst der Diebstahl wird dann ein Sakrament sein; denn es
steht geschrieben: "Der Tag des Herrn wird kommen wie ein Dieb ..." (1. Thess. 5,2). Wer wird
diese Klüglinge ertragen können, wie sie so närrisch schwatzen? Ich gebe zwar zu: allemal, wenn
uns ein Weinstock vor Augen tritt, so ist es sehr gut, wenn man sich ins Gedächtnis ruft, was
Christus gesagt hat: "Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben; mein Vater ist der Weingärtner"
(Joh. 15,1.5). Jedesmal, wenn uns ein Hirte mit seiner Herde begegnet, so ist es, das gebe ich zu,
wohl gut, wenn uns auch das Wort in den Sinn kommt: "Ich bin der gute Hirte; meine Schafe hören
meine Stimme" (Joh. 10,12.27). Aber wenn jemand derartige Gleichnisse zu den Sakramenten zählte,
sollte man ihn nach Anticyra schicken (wo die Nießwurz wächst, mit der man den Wahnsinn heilt)!
IV,19,35 Aber sie halten uns nun ungestüm die Worte des Paulus vor, in
denen nach ihrer Behauptung dem Ehestande der Name "Sakrament" beigelegt wird: "Wer sein Weib
liebt, der liebt sich selbst. Denn niemand hat je sein eigen Fleisch gehaßt, sondern er nährt es
und pflegt sein, gleichwie auch Christus die Kirche. Denn wir sind Glieder seines Leibes, von seinem
Fleisch und von seinem Gebein. Um deswillen wird ein Mensch verlassen Vater und Mutter und seinem
Weibe anhangen, und werden die zwei ein Fleisch sein. Das Geheimnis (sacramentum!) ist groß. Ich
sage aber: in Christus und der Kirche" (Eph. 5,28-32; nicht immer Luthertext). Aber wenn man die
Schrift so behandelt (wie es die Papisten mit ihrer Deutung tun), so bedeutet da, die Erde mit dem
Himmel zu vermischen. Paulus will doch den Männern zeigen, mit welch einzigartiger Liebe sie ihren
Frauen begegnen sollen, und deshalb stellt er ihnen Christus als Vorbild vor Augen. Denn wie
Christus seine innigste Liebe auf die Kirche ausgegossen hat, die er sich angelobt hatte, so soll
nach dem Willen des Apostels jedermann gegen seine eigene Frau gesinnt sein. Dann folgt: "Wer sein
Weib liebt, der liebt sich selbst ... gleichwie Christus die Kirche geliebt hat" (Vers 28 und
Schluß von 29; ungenau). Um nun zu lehren, wieso denn Christus die Kirche ebenso geliebt hat wie
sich selbst, ja, wieso er sich mit seiner Braut, der Kirche, eins gemacht hat, bezieht er auf ihn
die Worte, die Adam nach dem Bericht des Mose von sich gesprochen hat. Denn als ihm Eva, die, wie er
wußte, aus seiner Rippe gebildet war, vor die Augen geführt wurde, da sagte er: "Das ist doch
Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch" (Gen. 2,23). Von dem allem bezeugt nun
Paulus, daß es in Christus und in uns geistlich erfüllt ist, indem er nämlich sagt, daß wir "Glieder
seines Leibes", "von seinem Fleisch und von seinem Gebein" sind und daher "ein Fleisch"
mit ihm. Dann fügt er den abschließenden Ausruf an: "Das Geheimnis (mysterium) ist groß",
und, damit niemand durch den zwiespältigen Ausdruck getäuscht wird, erklärt er, daß er nicht von
der fleischlichen Vereinigung von Mann und Frau redet, sondern von dem geistlichen Ehebund Christi
und der Kirche. Und fürwahr, es ist wirklich ein großes Geheimnis, daß sich Christus eine Rippe
hat nehmen lassen, damit wir daraus gebildet würden, das heißt, daß er, obwohl er stark war, hat
schwach sein wollen, damit wir durch seine Kraft stark gemacht würden, so daß wir nun nicht mehr
selber leben, sondern er in uns lebt (Gal. 2,20).
IV,19,36 Was die Römischen betrogen hat, ist das Wort "Sakrament". Aber
war es denn billig, daß die ganze Kirche für die Unwissenheit der Papisten Strafe zahlte? Paulus
hatte "Mysterium" gesagt, und der Übersetzer hätte diesen Ausdruck stehenlassen können, da er
für lateinische Ohren nichts Ungewohntes darstellte, oder er hätte ihn mit "arcanum"
(Verborgenheit) wiedergeben können; er wollte aber lieber "Sakrament" sagen, jedoch nicht in
einem anderen Sinne, als in dem Paulus auf Griechisch das Wort "Mysterium" gebraucht hatte. So,
nun mögen sie hingehen und mit lautem Geschrei die Sprachkundigkeit beschimpfen — in der sie so
unwissend waren, daß sie in einer leichten und jedermann zugänglichen Angelegenheit so lange
schmählich in der Irre gegangen sind! Aber weshalb legen sie an dieser einen Stelle auf das
Wörtlein "Sakrament" so großes Gewicht, während sie es doch sonst so oft unbeachtet
übergehen? Denn das Wort wird von dem allgemeinen Übersetzer (d.h. von der "Vulgata") auch im
ersten Timotheusbrief (1. Tim. 3,9) und ebenfalls allenthalben in dem nämlichen Brief an die
Epheser für "Mysterium" gesetzt (Eph. 1,9; 3,3.9). Jedoch könnte man ihnen diesen Fehlgriff
verzeihen — nur hätten diese Lügner ein gutes Gedächtnis haben sollen! Aber was für ein
sinnverwirrter Leichtsinn ist es, daß sie hernach den Ehestand, der doch (nach ihrer Lehre) mit dem
Titel eines Sakraments gepriesen ist, "Unreinheit", "Befleckung" und "fleischlichen
Schmutz" nennen? Wie widersinnig ist es, daß sie die Priester von einem Sakrament fernhalten!
Wenn sie behaupten, sie hielten sie nicht von dem Sakrament fern, sondern nur von der Lust des
fleischlichen Umgangs, so können sie mir auf die Weise nicht entwischen. Denn sie lehren, daß auch
der fleischliche Umgang ein Teil des Sakraments ist und daß erst durch ihn die Einheit zur
Darstellung kommt, die wir in Gleichartigkeit der Natur mit Christus haben, und zwar, weil Mann und
Frau allein durch die fleischliche Verbindung ein Fleisch werden (Petrus Lombardus, Sentenzen
IV,26,6; Decretum Gratiani II,27,2,17f.). Allerdings haben einige von ihnen hier zwei Sakramente
gefunden, das eine soll dann Gott und die Seele abbilden und in dem Verhältnis von Bräutigam und
Braut bestehen, das andere Christi Verbindung mit der Gemeinde bezeichnen und in der Verbundenheit
von Mann und Weib seinen Ausdruck finden. Wie dem aber auch sei, so ist doch der fleischliche Umgang
ein Sakrament, und es war ein Frevel, irgendeinen Christenmenschen von ihm auszuschließen. Sonst
müßte es wohl schon so sein, daß die Sakramente der Christen so schlecht zusammenpaßten, daß
sie nicht miteinander bestehen könnten. Es liegt auch noch eine zweite Widersinnigkeit in den
Lehren der Papisten. Sie behaupten, im Sakrament werde die Gnade des Heiligen Geistes geschenkt; und
nun lehren sie, daß der fleischliche Umgang ein Sakrament sei,leugnen aber, daß im fleischlichen
Umgang je der Heilige Geist gegenwärtig sei (Petrus Lombardus, Sentenzen IV,26,6; Decretum Gratiani
II,32,2,4)!
IV,19,37 Nun wollten sie aber die Kirche nicht nur in einer einzigen Fraget
zum Narren halten — und was für eine lange Reihe von Irrtümern, Lügen, Betrügereien und
Schalkheiten haben sie deshalb an den einen Irrtum angefügt! Man möchte geradezu sagen, daß sie,
indem sie aus dem Ehestand ein Sakrament machten, nichts anderes gesucht haben als einen
Schlupfwinkel von Abscheulichkeiten. Sobald sie nämlich jene Lehre einmal durchgesetzt hatten,
haben sie die richterliche Untersuchung der Ehesachen an sich gezogen — natürlich durfte doch die
"geistliche" Sache nicht von weltlichen Richtern angerührt werden! Alsdann haben sie Gesetze
erlassen, mit denen sie ihre Tyrannei befestigten — aber die sind zum Teil offenkundig lästerlich
gegen Gott, zum Teil von höchster Unbilligkeit gegen die Menschen. So haben sie zum Beispiel
bestimmt, daß Ehen zwischen Jugendlichen, die ohne Einwilligung der Eltern geschlossen sind, Kraft
und Gültigkeit behalten sollen. Sie haben verfügt, daß Ehen zwischen Blutsverwandten bis zum
siebenten Grad nicht rechtmäßig sind und, sofern sie bereits geschlossen sind, gelöst werden
sollen. Diese Grade selbst aber denken sie sich im Gegensatz zu den Rechten aller Völker und auch
zur Ordnung des Mose aus (Lev. 18,6ff.). Sie setzen fest, daß ein Mann, der seine ehebrecherische
Frau verstoßen hat, keine andere heiraten darf. Sie bestimmen, daß "geistliche Verwandte"
nicht ehelich verbunden werden dürfen. Sie gebieten, daß von der siebten Woche vor bis zum achten
Tage nach Ostern, in den drei Wochen vor dem Geburtstag des Johannes und in der Zeit von Advent bis
Epiphanias keine Hochzeiten gefeiert werden dürfen — und zahllose ähnliche Dinge, deren
Aufzählung zu weit führen würde! Es ist auch an der Zeit, daß wir uns endlich aus ihrem Schmutz
herausmachen, bei dem sich meine Darlegungen schon länger aufgehalten haben, als ich es gewünscht
hätte. Jedoch will es mich bedünken, als ob ich doch ein wenig damit erreicht hätte, daß ich
diesen Eseln in einiger Hinsicht die Löwenhaut abgestreift habe!
Vom bürgerlichen Regiment
IV,20,1 Wir haben oben festgestellt, daß es im Menschen ein zwiefaches
Regiment gibt (vgl. Buch III, Kap. 19,15f.). Von dem einen, das in der Seele oder im inneren
Menschen liegt und in Beziehung zum ewigen Leben steht, haben wir bereits an anderer Stelle genug
geredet. Hier ist nun der Platz, der es mit sich bringt, daß wir auch über das andere Regiment,
das allein dazu bestimmt ist, die bürgerliche und äußerliche Gerechtigkeit der Sitten zu
gestalten, einige Erörterungen anstellen. Allerdings scheint dieser Gedankenkreis seiner Art nach
von der geistlichen Unterweisung im Glauben, die ich zu behandeln unternommen habe, getrennt zu
sein; aber wenn wir weitergehen, so wird sich doch zeigen, daß die beiden mit vollem Recht von mir
verbunden werden, ja, daß die Not mich dazu drängt, diese Verbindung eintreten zu lassen, vor
allem weil auf der einen Seite unsinnige und barbarische Menschen diese von Gott eingesetzte Ordnung
wütend umzustoßen trachten, auf der anderen Seite aber die Schmeichler der Fürsten deren Macht
ohne Maß übersteigern und sie deshalb ungescheut Gottes eigener Herrschaft entgegenstellen. Wenn
man diesen beiden Übeln nicht entgegentritt, so wird die Lauterkeit des Glaubens zunichte werden.
Zudem liegt für uns nicht wenig daran, zu wissen, wie gütig Gott in diesem Stück für das
menschliche Geschlecht gesorgt hat, damit in uns um so mehr der fromme Eifer lebendig sei, ihm
unsere Dankbarkeit zu bezeugen. Zunächst müssen wir, bevor wir in die Behandlung der Sache selbst
eintreten, auf jene Unterscheidung achten, die wir oben aufgestellt haben. Das muß geschehen, damit
wir nicht — was gemeinhin vielen Leuten widerfährt — diese beiden Dinge, die völlig
verschieden geartet sind, unbesonnen miteinander vermengen. Denn wenn jene Leute hören, wie im
Evangelium eine Freiheit verheißen wird, die unter den Menschen keinen König und keine Obrigkeit
kennt, sondern allein auf Christus schaut, dann meinen sie, sie könnten von dieser Freiheit
keinerlei Frucht erlangen, solange sie noch sehen, daß irgendeine Macht über ihnen steht. Deshalb
sind sie der Ansicht, es könne nichts wohl stehen, wofern nicht die ganze Welt umgestaltet würde
und dadurch ein neues Gesicht erhielte, so daß da weder Gerichte noch Gesetze, noch Obrigkeit mehr
wären, noch irgend etwas dergleichen, was nach ihrem Wahn ihrer Freiheit im Wege steht. Wer dagegen
zwischen Leib und Seele, zwischen diesem gegenwärtigen, vergänglichen Leben und jenem kommenden,
ewigen zu unterscheiden weiß, der wird auch ohne Schwierigkeit begreifen, daß Christi geistliches
Reich und die bürgerliche Ordnung zwei völlig verschiedene Dinge sind. Da es also ein jüdischer
Wahn ist, Christi Reich unter den Elementen dieser Welt zu suchen und darin einzuschließen, so
wollen wir vielmehr bedenken, was die Schrift deutlich lehrt, nämlich daß die Frucht, die wir aus
Christi Wohltat empfangen, geistlich ist, und darauf bedacht sein, diese ganze Freiheit, die uns in
ihm verheißen und dargeboten wird, innerhalb ihrer Grenzen zu halten. Denn wie kann es kommen, daß
der nämliche Apostel, der uns gebietet, standzuhalten und uns nicht dem Joch der Knechtschaft zu
unterwerfen (Gal. 5,1), doch an anderer Stelle den Knechten verbietet, über ihren Stand bekümmert
zu sein (1. Kor. 7,21)? Das kann doch nur daher kommen, daß geistliche Freiheit und bürgerliche
Knechtschaft sehr wohl miteinander bestehen können! Er sagt doch auch: "Im Reiche Gottes ist kein
Jude noch Grieche, kein Mann noch Weib, kein Knecht noch Freier" (Gal. 3,28; etwas ungenau), und
ebenso: "Da istnicht Grieche, Jude, Beschnittener, Unbeschnittener, Ungrieche, Scythe, Knecht,
Freier, sondern alles und in allen Christus" (Kol. 3,11). In welchem Sinne soll man diese Aussagen
verstehen? Er gibt doch damit zu erkennen, daß es nichts ausmacht, in welcher Stellung man unter
den Menschen ist und unter den Gesetzen welches Volkes man lebt, weil eben Christi Reich durchaus
nicht in diesen Dingen besteht.
IV,20,2 Jedoch hat jene Unterscheidung nicht etwa den Sinn, daß wir die
ganze Gestaltung des bürgerlichen Lebens für etwas Beflecktes halten, das einen Christenmenschen
nichts anginge. Zwar schreien und pochen die Schwarmgeister, die an ungebundener Zügellosigkeit
ihre Freude haben, solchermaßen: nachdem wir durch Christus den Elementen dieser Welt gestorben
sind und, in Gottes Reich übergegangen, unter den Himmlischen unseren Platz haben, ist es unser
unwürdig und liegt es weit unter unserer hohen Stellung, uns mit jenen unheiligen und unreinen
Sorgen zu befassen, die zu Geschäften gehören, die einem Christenmenschen fremd sind. Wozu, so
sagen sie, soll es denn Gesetze geben ohne Urteile und Gerichtshöfe? Was aber hat ein
Christenmensch mit solchen Urteilen zu tun? Ja, wenn es nicht erlaubt ist, zu töten — was sollen
uns dann Gesetze und Urteile? Aber wie wir oben darauf aufmerksam gemacht haben, daß diese
(weltliche) Art des Regiments von jenem geistlichen, innerlichen Reiche Christi verschieden ist, so
müssen wir auch wissen, daß diese beiden in keiner Hinsicht zueinander im Widerspruch stehen. Denn
das letztere läßt zwar gewisse Anfänge des himmlischen Reiches schon jetzt auf Erden in uns
beginnen und läßt in diesem sterblichen, vergänglichen Leben gewissermaßen die unsterbliche,
unvergängliche Seligkeit anfangen. Das bürgerliche Regiment aber hat die Aufgabe, solange wir
unter den Menschen leben, die äußere Verehrung Gottes zu fördern und zu schützen, die gesunde
Lehre der Frömmigkeit und den (guten) Stand der Kirche zu verteidigen, unser Leben auf die
Gemeinschaft der Menschen hin zu gestalten, unsere Sitten zur bürgerlichen Gerechtigkeit
heranzubilden, uns miteinander zusammenzubringen und den gemeinen Frieden wie die öffentliche Ruhe
zu erhalten. Ich gebe zu: dies alles ist überflüssig, wenn das Reich Gottes, wie es jetzt in uns
beschaffen ist, das gegenwärtige Leben auslöscht. Wenn es aber Gottes Wille ist, daß wir,
während wir der wahren Heimat zustreben, auf Erden wallen, und wenn unsere Pilgrimschaft ihrem
Laufe nach solcher Hilfsmittel bedarf, so gilt, daß die, die sie dem Menschen wegnehmen, ihm sein
Menschsein rauben. Denn wenn sie vorschützen, es müsse eben in der Kirche Gottes eine solche
Vollkommenheit herrschen, daß für sie die eigene Selbstregierung an Stelle des Gesetzes
ausreichend wäre, so beruht diese Vollkommenheit auf ihrer eigenen, törichten Einbildung, da sie
in der Gemeinschaft der Menschen niemals zu finden ist. Denn die Frechheit der Bösen ist so groß,
ihre Nichtsnutzigkeit so widerspenstig, daß sie kaum durch große Strenge der Gesetze in Schranken
zu halten ist — und was würden sie dann wohl nach unserer Meinung tun, wenn sie sähen, daß man
ihrer Bosheit ungestraft freien Lauf lässt? Es sind doch Menschen, die nicht einmal mit Gewalt
zureichend davon abgehalten werden können, Böses zu tun!
IV,20,3 Aber von dem Nutzen der bürgerlichen Ordnung zu sprechen, wird an
anderer Stelle passendere Gelegenheit sein. Jetzt wollen wir nun, daß man begreift, daß es eine
entsetzliche Barbarei ist, wenn man daran denkt, sie abzuschaffen, ist doch ihr Nutzen unter den
Menschen nicht geringer als der von Brot und Wasser, Sonne und Luft, ihre Würde aber noch viel
hervorragender. Denn sie dient nicht nur — was jene alle bezwecken — dazu, daß die Menschen
atmen, essen, trinken und erwärmt werden; allerdings schließt sie sicherlich das alles in sich,
indem sie ja bewirkt, daß die Menschen miteinander leben, aber trotzdem,sage ich, dient sie nicht
allein dazu, nein, sie hat auch den Zweck, daß sich Abgötterei, Frevel gegen Gottes Namen,
Lästerungen gegen seine Wahrheit und andere Ärgernisse bezüglich der Religion nicht öffentlich
erheben und sich unter dem Volk verbreiten, sie hat den Zweck, daß die bürgerliche Ruhe nicht
erschüttert wird, daß jeder das Seine unverkürzt und unversehrt behält, daß die Menschen
unbeschadet untereinander Handel treiben können und daß Ehrbarkeit und Bescheidenheit unter ihnen
gepflegt werden. Kurz, sie dient dazu, daß unter den Christen die öffentliche Gestalt der Religion
zutage tritt und unter den Menschen die Menschlichkeit bestehenbleibt. Es darf auch niemand stutzig
werden, daß ich die Fürsorge für eine rechte Regelung der Religion der bürgerlichen Ordnung der
Menschen übertrage, obwohl ich sie doch oben außerhalb des menschlichen Urteils gestellt zu haben
scheine. Denn ich überlasse es den Menschen hier ebensowenig wie zuvor, über Religion und
Verehrung Gottes nach ihrem eigenen Ermessen Gesetze zu erlassen, wenn ich die bürgerliche Ordnung
gutheiße, die darauf dringt, daß die wahre Religion, die in Gottes Gesetz beschlossen liegt, nicht
ungestraft öffentlich und mit öffentlichem Frevel geschändet und geschmäht wird. Aber was wir
von der bürgerlichen Regierung im allgemeinen zu denken haben, das wird der Leser besser verstehen,
wenn wir ihre einzelnen Stücke gesondert behandeln: dann wird ihm nämlich auch die Klarheit der
Ordnung zu Hilfe kommen. Es handelt sich aber um folgende drei Stücke: da ist zunächst die
Obrigkeit, die der Schützer und Wächter der Gesetze ist, dann die Gesetze, auf Grund deren die
Obrigkeit regiert, und dann das Volk, das von den Gesetzen regiert wird und der Obrigkeit Gehorsam
leistet. Wir wollen also zunächst über das Amt der Obrigkeit sprechen und zusehen ob das ein
rechtmäßiger und von Gott gutgeheißener Beruf ist, was für eine Amtsaufgabe und wieviel Macht
sie hat; dann wollen wir zusehen, nach welchen Gesetzen ein christliches Regiment zu gestalten ist,
und dann schließlich, was für einen Nutzen das Volk von den Gesetzen hat und was für ein Gehorsam
der Obrigkeit zukommt.
IV,20,4 Der Herr hat nicht nur bezeugt, daß er das Amt der Obrigkeiten
billigt und daß es ihm wohlgefällig ist, sondern er hat obendrein auch seine Würde mit den
ehrenvollsten Auszeichnungen versehen und sie uns dadurch wunderbar angepriesen. Wenn alle, die ein
obrigkeitliches Amt tragen, als "Götter" bezeichnet werden (Ex. 22,8; Ps. 82,1. 6), so soll
niemand meinen, dieser Bezeichnung wohne nur geringe Bedeutung inne; denn durch sie wird doch
angedeutet, daß diese Menschen einen Auftrag von Gott haben, mit göttlicher Autorität
ausgestattet sind und überhaupt für Gottes Person eintreten, dessen Statthalterschaft sie
gewissermaßen ausüben. Das habe ich mir nicht etwa selbst ausgedacht, sondern es ist Christi
Auslegung. "Wenn die Schrift", so sagt er, "die Götter nennt, zu welchen das Wort Gottes
geschah ..." (Joh. 10,35; nicht ganz Luthertext). Was heißt das anders, als daß ihnen von Gott
ein Auftrag zuteil geworden ist, so daß sie in ihrem Amte ihm dienen und, wie es Mose und Josaphat
zu ihren damaligen Richtern sagten, die sie in den einzelnen Städten Judas einsetzten, "das
Gericht nicht den Menschen, sondern Gott" halten sollen (2. Chron. 19,6; Deut. 1,16f.)? In die
gleiche Richtung gehört es auch, daß die Weisheit Gottes durch den Mund Salomos versichert, es sei
ihr Werk, daß die Könige regieren und die Ratsherren das Recht bestimmen, daß die Fürsten ihre
Herrschaft führen und alle Richter auf Erden gute Taten tun (Spr. 8,14-16). Denn das bedeutet genau
soviel, wie wenn es hieße: es geschieht nicht aus menschlicher Verkehrtheit, daß auf Erden das
Urteil über alle Dinge bei den Königen und anderen Oberen liegt, sondern aus Gottes Vorsehung und
heiliger Anordnung heraus; ihr hat esgefallen, daß die Angelegenheiten der Menschen auf diese Weise
geleitet werden; denn sie steht ihnen zur Seite und geht ihnen auch leitend voran, wenn sie Gesetze
geben und die Billigkeit der Urteile handhaben. Das lehrt auch Paulus offen und klar, indem er
(Röm. 12,8) die Ämter der Leitung unter Gottes Gaben zählt, die, nach der Verschiedenheit der
Gnade verschieden verteilt, von Christi Knechten zur Auferbauung der Kirche angewendet werden
sollen. Allerdings redet er an dieser Stelle im eigentlichen Sinne von dem Rate ernster Männer, die
in der ursprünglichen Kirche eingesetzt wurden, um die öffentliche Zuchtübung zu leiten, ein Amt,
das er im (ersten) Briefe an die Korinther mit dem Ausdruck "Regierungen" bezeichnet (1. Kor.
12,28). Aber wir sehen doch, daß das Ziel der bürgerlichen Gewalt in der gleichen Richtung liegt,
und darum ist nicht daran zu zweifeln, daß er uns an jener Stelle jegliches gerechte Amt der
Leitung preist. Viel klarer aber redet er an der Stelle, an der er eine gründliche Erörterung
über diesen Punkt anstellt. Denn da lehrt er, daß die Gewalt eine Ordnung Gottes ist und daß es
keine Gewalten gibt als die, die von Gott geordnet sind (Röm. 13,1). Ferner lehrt er da, daß die
Fürsten selbst Gottes Diener sind, denen, die da gut handeln zum Lobe gesetzt, den Bösen aber als
Rächer zum Zorn (Röm. 13,3f.). Dazu kommen dann auch Beispiele heiliger Männer: manche von ihnen
haben Königreiche verwaltet, so David, Josia und Hiskia, andere wieder Statthalterschaften, wie
Joseph und Daniel, wieder andere sind bürgerliche Vorsteher in einem freien Volke gewesen, so Mose,
Josua und die Richter, und der Herr hat erklärt, daß ihre Ämter ihm wohlgefielen. Daher darf es
niemandem mehr zweifelhaft sein, daß die bürgerliche Gewalt ein Beruf ist, der nicht nur vor Gott
heilig und rechtmäßig, sondern auch im höchsten Maße geweiht und im ganzen Leben der Sterblichen
von allen bei weitem der ehrenvollste ist.
IV,20,5 Nun machen die Leute, die die Anarchie einzuführen trachten, einen
Einwand: vorzeiten hätten wohl über das ungeschlachte Volk Könige und Richter geherrscht, heute
aber wolle sich mit der Vollkommenheit, die Christus mit seinem Evangelium gebracht hat, doch jene
knechtische Art von Regierung durchaus nicht mehr reimen. Damit legen sie nicht nur ihre
Unwissenheit, sondern auch ihre teuflische Aufgeblasenheit an den Tag, indem sie sich stolz eine
Vollkommenheit anmaßen, von der man nicht den hundertsten Teil an ihnen zu sehen bekommt. Aber sie
mögen nun geartet sein, wie sie wollen, jedenfalls ist die Widerlegung leicht zu geben. David
fordert an einer Stelle (Ps. 2,12) alle Könige und Oberen auf, Gottes Sohn zu "küssen"; da
gebietet er ihnen aber nicht, sie sollten ihre Herrschaft beiseite legen und sich in ein amtloses
Leben zurückziehen, sondern vielmehr, sie sollten Christus die Macht unterwerfen, mit der sie
ausgestattet sind, damit er allein über allen stehe. Auch wenn Jesaja verheißt: "Könige sollen
deine Pfleger und ... Fürstinnen deine Säugammen sein" (Jes. 49,23), so spricht er ihnen damit
ihre Würde nicht ab, sondern er setzt sie vielmehr in ehrenvoller Auszeichnung zu Schutzherren für
Gottes fromme Verehrer ein; denn diese Weissagung bezieht sich auf Christi Kommen. Mit Überlegung
lasse ich sehr viele Zeugnisse aus, die uns immer wieder begegnen, vor allem in den Psalmen, in
denen allen Oberen ihr Recht zugesprochen wird. Am herrlichsten von allen ist aber eine Stelle bei
Paulus; da ermahnt er den Timotheus, man sollte in der öffentlichen Versammlung für die Könige
Gebete sprechen, und dann fügt er alsbald die Ursache hinzu: "Auf daß wir unter ihnen ein
stilles Leben führen mögen in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit" (1. Tim. 2,2; nicht ganz
Luthertext). Mit diesen Worten befiehlt er den Wohlstand der Kirche ihrem Schutz und Schirm.
IV,20,6 Diese Erwägung sollte sich die Obrigkeit selbst ständig angelegen
sein lassen, weil sie ihr einen mächtigen Ansporn geben kann, um sie zu ihrer Pflicht zu ermuntern,
und ihr zugleich einen einzigartigen Trost zu bringen vermag, um die Schwierigkeiten ihres Amtes,
die sicherlich viele und ernste sind, zu lindern. Denn wieviel Trachten nach Lauterkeit und
Vorsicht, Milde, Mäßigkeit und Unschuld müssen die von sich verlangen, die darum wissen, daß sie
zu Dienern der göttlichen Gerechtigkeit eingesetzt sind! Woher sollen sie die Zuversicht nehmen, um
die Unbilligkeit auf ihren Richterstuhl zu lassen, von dem sie doch hören, daß er der Thron des
lebendigen Gottes ist? Wie sollen sie die Verwegenheit gewinnen, um einen ungerechten Spruch zu tun
— mit dem Munde, von dem sie doch wissen, daß er zu einem Werkzeug der göttlichen Wahrheit
bestimmt ist? Wie können sie es mit ihrem Gewissen verantworten, gottlose Beschlüsse zu
unterschreiben — mit der Hand, die doch, wie sie wissen, dazu bestellt ist, Gottes Entscheide zu
schreiben? Kurzum, wenn sie daran denken, daß sie Gottes Statthalter sind, dann müssen sie auch
mit allem Eifer, aller Gründlichkeit und allem Fleiß darüber wachen, daß sie den Menschen an
ihrer Person gewissermaßen ein Bild (imago) der göttlichen Vorsehung und Wacht, Güte,
Freundlichkeit und Gerechtigkeit vor Augen stellen. Und immerfort sollen sie sich dies vorhalten:
wenn schon alle verflucht werden, die das Werk der Rache Gottes betrüglich verrichten (Jer. 48,10),
dann verfallen diejenigen noch viel ernsterem Fluche, die sich in einem gerechten Beruf unaufrichtig
verhalten. Als deshalb Mose und Josaphat ihre Richter ermahnen wollten, ihre Pflicht zu tun, da
hatten sie, um ihre Herzen zu bewegen, nichts Wirksameres als das eben bereits angeführte Wort: "Sehet
zu, was ihr tut! Denn ihr haltet das Gericht nicht den Menschen, sondern dem Herrn, und er ist mit
euch im Gericht. Darum laßt die Furcht des Herrn über euch sein. Sehet zu und tut’s; denn es ist
keine Verkehrtheit bei dem Herrn, unserm Gott" (2. Chron. 19,6f.; zum Teil nicht Luthertext; Deut.
1,16). Und an einer anderen Stelle heißt es, Gott habe in der Versammlung der "Götter"
gestanden und wirke als Richter inmitten der "Götter" (Ps. 82,1). Dadurch sollen sie (die
Träger eines obrigkeitlichen Amtes) zu ihrer Pflicht ermuntert werden, indem sie ja hören, daß
sie Gottes Abgesandte sind und daß sie ihm einst über das von ihnen verwaltete Gebiet werden
Rechenschaft ablegen müssen. Und diese Mahnung muß berechtigterweise bei ihnen besonders viel
bedeuten; denn wenn sie sich in einer Sache vergehen, so tun sie damit nicht allein Menschen
Unrecht, die sie schändlich quälen, sondern sie schmähen auch Gott selber, dessen heilige
Gerichte sie besudeln (Jes. 3,14). Auf der anderen Seite aber haben sie auch Anlaß, sich herrlich
zu trösten, indem sie bei sich bedenken, daß sie sich nicht mit unheiligen und einem Knechte
Gottes fremden Tätigkeiten abgeben, sondern mit einem sehr heiligen Amte, da sie ja Gottes Auftrag
ausrichten.
IV,20,7 Die sich aber von so vielen Zeugnissen der Schrift nicht davon
abbringen lassen, daß sie es noch wagen, dies heilige Amt zu beschimpfen, als ob es eine Sache
wäre, die mit Religion und christlicher Frömmigkeit nichts zu tun hätte — was tun die anders,
als daß sie Gott selber lästern, dem ja unvermeidlich Schmach angetan wird, wenn man sein Amt
schmäht? Und wahrlich, sie verwerfen nicht die Obrigkeit, sondern stoßen Gott beiseite, damit er
nicht mehr über sie regiert! Denn wenn dies (1. Sam. 8,7) Wort, das der Herr über das Volk Israel
gesprochen hat, weil es die Herrschaft des Samuel verworfen hatte, die Wahrheit war, wie soll es
dann heutzutage etwa weniger wahrheitsgemäß von denen gesagt werden, die es sich gestatten, über
sämtliche leitenden Ämter, die doch Gott eingesetzt hat, ihre Wut auszulassen? Aber, so werden sie
einwenden, der Herr hat doch zu seinen Jüngern gesagt, die Könige der Völker führten ihre
Herrschaft über sie, bei ihnen aber, den Jüngern,sei es nicht so, da müßte vielmehr der, welcher
der erste sei, der letzte werden (Luk. 22,25f.) — und deshalb ist es durch dieses Wort allen
Christen untersagt, sich mit dem Königtum oder mit obrigkeitlichen Ämtern abzugeben. Ach, was sind
das doch für geschickte Ausleger! Es war unter den Jüngern ein Streit entstanden, welcher unter
ihnen höher stünde als der andere, und da gab ihnen der Herr, um diese eitle Ehrsucht zu dämpfen,
die Lehre, daß ihr Amt keine Ähnlichkeit mit dem Königtum habe, bei dem ja einer unter den
anderen hervorragt. Wieso soll nun, frage ich, dieser Vergleich zu einer Entehrung der königlichen
Würde führen? Ja, was beweist er überhaupt anders, als daß eben das königliche Amt kein
apostolischer Dienst ist? Außerdem besteht unter den Obrigkeiten selbst, obwohl sie verschiedene
Gestalt haben, doch in dem Stück kein Unterschied, daß sie alle von uns als Gottes Ordnungen
anzuerkennen sind. Denn einerseits schließt sie Paulus alle miteinander ein, wenn er sagt, es sei
keine Macht außer von Gott (Röm. 13,1). Und andererseits ist uns gerade die durch ein besonders
herrliches Zeugnis in höherem Maße als die anderen angepriesen worden, die den Menschen von allen
am wenigsten zusagte, nämlich die Macht eines einzelnen; denn diese bringt ja die öffentliche
Knechtschaft aller mit sich — mit Ausnahme des einen, dessen Willkür sie alles unterwirft — und
konnte deshalb in alter Zeit den heldenhaften und hervorragenden Geistern weniger gefallen. Die
Schrift dagegen will solchen ungerechten Urteilen entgegentreten; deshalb betont sie ausdrücklich,
es sei die Vorsehung göttlicher Weisheit, daß die Könige herrschen, und gebietet uns besonders,
den König zu ehren (Spr. 8,15; 1. Petr. 2,17).
IV,20,8 Und wahrlich, es wäre sehr müßig, wenn amtlose (private) Leute
darüber Erörterungen anstellen wollten, welches wohl an dem Ort, an dem sie leben, die beste
Gestalt des bürgerlichen Regiments sein würde; denn solchen Leuten steht es nicht zu, über die
Einrichtung dieser oder jener öffentlichen Ordnung zu beratschlagen. Zudem läßt sich hierüber
auch nicht so einfach eine Entscheidung treffen, wofern man nicht unbesonnen handelt; denn ein
wesentlicher Gesichtspunkt für diese Erörterung liegt in den jeweiligen Umständen. Wenn man nun
die verschiedenen Gestalten des bürgerlichen Regiments abgesehen von den jeweiligen Umständen
miteinander vergleicht, so dürfte es nicht leicht zu entscheiden sein, welche den größeren Nutzen
bringt — so gleich sind die Bedingungen, unter denen sie miteinander im Wettbewerb stehen. Gar
leicht kann das Königtum in Tyrannei abgleiten, nicht viel schwerer entartet die Macht der
Vornehmsten zur Parteiherrschaft weniger, bei weitem am leichtesten aber kommt es von der
Volksherrschaft zum Aufruhr. Freilich, wenn man jene drei Regierungsformen, die die Philosophen
aufstellen (Monarchie, Aristokratie, Demokratie) an und für sich betrachtet, so würde ich durchaus
nicht leugnen, daß die Aristokratie oder ein aus ihr und der bürgerlichen Gewalt gemischter
Zustand weit über allen anderen steht, zwar nicht aus sich heraus, sondern weil es sehr selten
vorkommt, daß die Könige sich so viel Maß auferlegen, daß ihr Wille niemals von Recht und
Gerechtigkeit abweicht, und weil sie ferner auch sehr selten mit solchem Scharfsinn und solcher
Vorsicht begabt sind, daß jeder einzelne König soviel sieht, wie es zureichend ist. So bringt es
also die Gebrechlichkeit und Mangelhaftigkeit der Menschen mit sich, daß es sicherer und
erträglicher ist, wenn mehrere das Steuerruder halten, so daß sie also einander gegenseitig
beistehen, sich gegenseitig belehren und ermahnen, und wenn sich einer mehr als billig erhebt,
mehrere Aufseher und Meister da sind, um seine Willkür im Zaume zu halten. Das hat einerseits die
Erfahrung selbst allezeit bewiesen, andererseits hat es auch der Herr mit seiner Autorität
bekräftigt, indem er bei den Israeliten, als er sie, bis er in David das Ebenbild Christi
hervortretenließ, in dem bestmöglichen Zustande halten wollte, eine Aristokratie einrichtete, die
an die bürgerliche Regierungsform angrenzte. Und wie ich gerne zugebe, daß es keine glücklichere
Art der Regierung gibt als die, wo die Freiheit die gebührende Mäßigung erfährt und in rechter
Weise auf beständige Dauer eingerichtet ist, so halte ich auch die für die glücklichsten, denen
es erlaubt ist, diesen Zustand zu genießen, und gebe zu, daß sie nichts tun, was ihrer Pflicht
nicht entspräche, wenn sie sich wacker und beständig bemühen, ihn zu bewahren und
aufrechtzuerhalten. Ja, die Obrigkeiten müssen mit höchster Anstrengung danach streben, daß sie
es nicht zulassen, daß die Freiheit, zu deren Beschützern sie eingesetzt sind, in irgendeinem
Stück gemindert, geschweige denn verletzt wird; wenn sie dabei zu nachlässig sind oder zu wenig
Sorgfalt walten lassen, dann sind sie treulos in ihrem Amte und Verräter an ihrem Vaterlande. Wenn
dies nun aber solche, denen der Herr eine andere Regierungsform zugewiesen hat, auf sich
übertragen, so daß sie dadurch aufgestachelt werden, eine Änderung haben zu wollen, so ist das
nicht nur eine törichte und überflüssige, sondern auch eine durchaus schädliche Überlegung.
Wenn man seine Augen nicht bloß auf ein einziges Gemeinwesen richtet, sondern zugleich den ganzen
Erdkreis rundherum anschaut und betrachtet oder den Blick auch nur über weiter entfernte Gebiete
schweifen läßt, so wird man sicher finden, wie es die göttliche Vorsehung nicht ohne Grund so
eingerichtet hat, daß die verschiedenen Gebiete nach verschiedenen bürgerlichen Ordnungen regiert
werden. Denn wie die Elemente nur durch ungleiche Mischung untereinander zusammenhängen, so werden
auch diese verschiedenen Gebiete gewissermaßen durch ihre Ungleichheit aufs beste zusammengehalten.
Allerdings, wer an des Herrn Willen genug hat, dem ist auch all dies unnötig zu sagen. Denn wenn es
ihm gefallen hat, Könige über die Königreiche, Rate und Ratsherren über die freien Gemeinwesen
zu stellen, so ist es unsere Pflicht, uns allen denen gegenüber, die er über die Orte gesetzt hat,
an denen wir leben, gehorsam und untertänig zu erweisen.
IV,20,9 Nun haben wir an dieser Stelle noch kurz darzulegen, was für eine
Amtspflicht die Obrigkeit nach der Beschreibung des Wortes Gottes hat und in welchen Dingen diese
besteht. Daß sich diese Amtspflicht auf beide Tafeln des Gesetzes erstreckt, das könnte man, wenn
es die Schrift nicht lehrte, bei den weltlichen Schriftstellern erfahren. Denn keiner hat über die
Amtspflicht der Obrigkeiten, über die Gesetzgebung und die öffentliche Ordnung Erörterungen
angestellt, der nicht mit der Religion und der Gottesverehrung den Anfang machte. Und so haben sie
alle bekannt, daß keine bürgerliche Ordnung glücklich eingerichtet werden kann, wenn nicht an
erster Stelle die Sorge für die Frömmigkeit steht, und daß alle Gesetze verkehrt sind, die Gottes
Recht beiseite lassen und allein für die Menschen sorgen. Da also bei allen Philosophen die
Religion auf der höchsten Stufe steht und man das auch allezeit bei allen Völkern in allgemeiner
Übereinstimmung so gehalten hat, so sollten sich christliche Fürsten und Obrigkeiten ihrer
Trägheit schämen, wenn sie sich dieser Fürsorge nicht mit Eifer widmen wollten. Auch haben wir
bereits gezeigt, daß ihnen diese Aufgabe von Gott in besonderer Weise auferlegt wird, wie es ja
auch billig ist, daß sie ihre Mühe daran wenden, die Ehre dessen zu schützen und zu verteidigen,
dessen Statthalter sie sind und durch dessen Wohltat sie ihre Herrschaft innehaben. Deshalb werden
auch die heiligen Könige in der Schrift ausdrücklich deshalb aufs höchste gepriesen, weil sie die
verderbte oder hinfällig gewordene Verehrung Gottes wiederhergestellt oder für die Religion Sorge
getragen haben, damit sie unter ihnen rein und unbeeinträchtigt blühte. Auf der anderen Seite aber
zählt es die heilige Geschichte zu den Schäden der Anarchie, daß (öfters inder Richterzeit) kein
König in Israel war und deshalb "ein jeglicher tat, was ihn recht deuchte" (Richt. 21,25). Von
da aus wird auch die Torheit derer widerlegt, die da wünschten, die Obrigkeit sollte unter
Vernachlässigung der Sorge für Gott allein darin tätig sein, unter den Menschen Recht zu
sprechen. Als ob Gott in seinem Namen Obere eingesetzt hätte, um irdische Streitigkeiten zu
schlichten, dabei aber ausgelassen hätte, was doch von weit ernsterer Bedeutung ist, nämlich daß
er selbst auf Grund der Vorschrift seines Gesetzes rein verehrt werde. Aber die Begierde, alles
ungestraft neu zu machen, treibt unruhesüchtige Menschen so weit, daß sie wohl möchten, es
würden alle Rächer der geschändeten Frömmigkeit aus dem Wege geräumt werden. Was nun die zweite
Tafel (des Gesetzes) angeht, so tut Jeremia den Königen kund: "Haltet Recht und Gerechtigkeit und
errettet den Beraubten von des Frevlers Hand und schindet nicht die Fremdlinge, Witwen und Waisen
und tut niemand Gewalt und vergießt nicht unschuldig Blut ..." (Jer. 22,3). In der gleichen
Richtung geht die Ermahnung, die man im 82. Psalm liest: die Könige sollen dem Armen und Elenden
Recht verschaffen, "den Geringen und Armen erretten" und den Armen und Elenden aus der Hand des
Bedrückers herausreißen (Ps. 82,3f.). Und Mose gab den Oberen, die er zu seiner Stellvertretung
eingesetzt hatte, die Weisung mit: "Verhöret eure Brüder und richtet recht zwischen jedermann
und seinem Bruder und dem Fremdlinge. Keine Person sollt ihr im Gericht ansehen, sondern sollt den
Kleinen hören wie den Großen und vor niemandes Person euch scheuen; denn das Gerichtamt ist Gottes"
(Deut. 1,16f.). Dabei lasse ich noch jene Worte aus, nach denen die Könige nicht viel Rosse halten,
auch ihr Herz nicht an die Habgier hängen, sich nicht über ihre Brüder erheben, sondern alle Tage
ihres Lebens fleißig dabei sein sollen, das Gesetz des Herrn zu überdenken (Deut. 17,16-20), die
Richter sich nach keiner Seite neigen und keine Geschenke annehmen sollen (Deut. 16,19), und viel
Ähnliches, das wir immer wieder in der Schrift zu lesen bekommen. Ich übergehe das, weil ich hier,
bei der Darlegung der Amtspflicht der Obrigkeiten, nicht so sehr die Absicht habe, die Obrigkeiten
selbst zu unterweisen, als vielmehr andere zu lehren, was Obrigkeiten sind und zu welchem Zweck sie
Gott eingesetzt hat. Wir sehen also, daß sie zu Schützern und Verteidigern der öffentlichen
Unschuld, Bescheidenheit, Ehrbarkeit und Ruhe bestellt werden, die nur ein einziges Streben haben
sollen, nämlich für das gemeinsame Wohlergehen und den gemeinsamen Frieden aller zu sorgen. Ein
Vorbild in solchen Tugenden gelobt David sein zu wollen, sobald er einmal den königlichen Thron
bestiegen hat: er will nämlich in keine Schandtaten willigen, sondern die Übertreter, die
Lästerer und Hoffärtigen verabscheuen, dagegen rechtschaffene und getreue Ratgeber von allen
Seiten herbeiholen (Ps. 101). Da die Obrigkeiten dies aber nicht zu leisten vermögen, wenn sie
nicht die guten Leute gegen die Ungerechtigkeiten der Bösen schützen und den Bedrückten mit Hilfe
und Schutz zur Seite stehen, so sind sie auch mit Macht gewappnet, um die offenkundigen Verbrecher
und Übeltäter, durch deren Schlechtigkeit die öffentliche Ruhe gestört und in Aufruhr versetzt
wird, streng in Schranken zu halten. Denn wir erfahren es durchaus, was Solon einst sagte, nämlich
daß alle Gemeinwesen ihren Bestand durch Lohn und Strafe erhalten und daß bei deren Aufhebung die
ganze Zucht in den Städten zusammenbricht und zunichte wird. Denn in den Herzen vieler Menschen
wird die Sorge um Billigkeit und Recht erkalten, wenn für die Tugend nicht ihre Ehre bereitsteht,
und die Willkür verbrecherischer Menschen kann nur durch Strenge und strafende Ahndung in Schranken
gehalten werden. Diese beiden Stücke hat nun der Prophet zusammengefaßt, indem er den Königen und
anderen Oberen gebietet, Recht und Gerechtigkeit zu tun (Jer. 21,12; 22,3). "Gerechtigkeit"
bedeutet dabei, die Unschuldigen in seine Hut zu nehmen, sie zu schirmen, zu schützen, zu
verteidigen und frei zu machen. "Recht" aber (oder Rechtsübung) bedeutet, sich der
Vermessenheit der Gottlosen entgegenzustellen, ihre Gewalt zu dämpfen und ihre Verbrechen zu
bestrafen.
IV,20,10 Aber hier entsteht, wie es scheint, eine schwierige und
umständliche Frage: wenn im Gesetze Gottes allen Christen verboten wird zu töten (Ex. 20,13; Deut.
5,17; Matth. 5,21) und wenn der Prophet von dem heiligen Berge Gottes, das heißt von der Kirche,
weissagt, da werde man keinem mehr Leid noch Schaden tun (Jes. 11,9; 65,25) — wie kann dann die
Obrigkeit zugleich fromm sein und Blut vergießen? Aber wenn wir begreifen, daß die Obrigkeit bei
der Ausübung der Strafe nichts von sich selbst aus tut, sondern vielmehr Gottes eigenste Urteile
vollstreckt, dann wird uns dies Bedenken keinerlei Hinderung bereiten. Das Gesetz des Herrn
verbietet das Töten; aber damit der Mord nicht ungestraft bleibt, so gibt der Gesetzgeber selbst
seinen Dienern das Schwert in die Hand, damit sie es gegen alle Mörder brauchen! Leid und Schaden
zu tun ziemt den Frommen nicht, aber das heißt nicht Schaden noch Leid tun, wenn man die
Bedrängnis der Frommen auf des Herrn Befehl rächt. Ach, wenn es uns doch immerfort vor der Seele
stehen wollte, daß hier nichts aus der unbesonnenen Vermessenheit des Menschen, sondern alles aus
der Autorität Gottes heraus geschieht, der dabei befiehlt; wenn diese Autorität dem Menschen
vorangeht, dann kann er nie und nimmer vom rechten Wege abweichen. Sonst müßte schon der
göttlichen Gerechtigkeit ein Zügel angelegt sein, daß sie für die Verbrechen keine Strafe üben
könnte. Wenn es aber nicht erlaubt ist, ihr ein Gesetz aufzuerlegen, warum sollen wir dann ihre
Diener mit falscher Anklage beschweren? "Sie tragen das Schwert nicht umsonst; denn sie sind
Gottes Diener, Rächer zur Strafe über die, die da Böses tun", sagt Paulus (Röm. 13,4;
Luthertext Einzahl). Wenn also die Fürsten und andere Obere wissen, daß dem Herrn nichts
wohlgefälliger sein wird als ihr Gehorsam, so sollen sie sich diesem Dienste hingeben, wofern sie
danach trachten, Gott ihre Frömmigkeit, Gerechtigkeit und Lauterkeit zu beweisen. Dies war
sicherlich das Empfinden, das den Mose beseelte als er in dem Bewußtsein, daß er durch die Kraft
des Herrn zum Befreier seines Volkes bestimmt war, an den Ägypter Hand anlegte (Ex. 2,12; Apg.
7,24). Und das gleiche Empfinden beseelte ihn dann auch, als er, indem er an einem einzigen Tage
dreitausend Mann erwürgen ließ, den Frevel des Volkes bestrafte (Ex. 32,27f.). Nicht anders war es
auch mit David, als er gegen Ende seines Lebens seinem Sohne Salomo gebot, Joab und Simei zu Tode zu
bringen (1. Kön. 2,5f.8f.). Daher erwähnt er unter den königlichen Tugenden auch die, daß er
alle Gottlosen im Lande vertilge, damit alle Übeltäter ausgerottet würden aus der Stadt Gottes
(Ps. 101,8). Dahin gehört auch das Lob, das dem Salomo gezollt wird. "Du liebest Gerechtigkeit
und hassest gottlos Wesen" (Ps. 45,8). Wie kommt es denn, daß das milde, freundliche Wesen des
Mose zu solcher unwirschen Art entflammt wird, daß er, vom Blute seiner Brüder bespritzt und
triefend, durch das Lager rennt zu neuem Schlagen? Wie kommt es, daß David, der sein Leben lang ein
Mann von solcher Milde war, in seinen letzten Zügen jenes blutige Testament machte, nach dem sein
Sohn die grauen Haare des Joab und des Simei nicht im Frieden in die Grube fahren lassen sollte?
Aber sie haben beide ihre Hände, die sie durch Schonung (der Übeltäter) besudelt hätten, durch
solches Wüten geheiligt, indem sie die Rache übten, die ihnen von Gott aufgetragenwar! "Den
Königen", sagt Salomo, "ist Unrecht tun ein Greuel; denn durch Gerechtigkeit wird der Thron
befestigt" (Spr. 16,12). Und wiederum: "Ein König, der auf dem Stuhl sitzt, zu richten,
zerstreut das Arge mit seinen Augen" (Spr. 20,8). Oder ebenso: "Ein weiser König zerstreut die
Gottlosen und bringt das Rad über sie" (Spr. 20,26). Oder: "Man tue den Schaum vom Silber, und
wird dem Töpfer ein Gefäß daraus kommen; man tue den Gottlosen hinweg vor dem König, so wird
sein Thron mit Gerechtigkeit befestigt" (Spr. 25,4f.; nicht ganz Luthertext). Oder: "Wer den
Gottlosen gerecht spricht und den Gerechten verdammt, die sind beide dem Herrn ein Greuel" (Spr.
17,15). Oder: "Der Widerspenstige sucht sich das Böse, aber es wird ein schrecklicher Bote über
ihn kommen" (Spr. 17,11; nicht Luthertext). Oder endlich: "Wer zum Gottlosen spricht: du bist
gerecht, dem fluchen die Völker und Nationen" (Spr. 24,24; nicht Luthertext). Wenn es nun ihre
wahre Gerechtigkeit ist, die Schuldigen und Gottlosen mit gezücktem Schwerte zu verfolgen, und wenn
sie dann doch das Schwert in die Scheide stecken und ihre Hände vom Blute rein halten, während
unterdessen verlorene Leute ruchlos mit Mord und Gemetzel wüten, so machen sie sich der äußersten
Unfrömmigkeit schuldig, geschweige denn, daß sie dafür das Lob der Güte und Gerechtigkeit
ernteten! Fort jedoch mit der schroffen, wütigen Härte, fort mit jenem Richterstuhl, der mit Recht
eine Klippe für den Angeklagten heißen könnte — ich erinnere an den Richterstuhl des Cassius!
Denn ich bin nicht der, der einer unangebrachten Härte das Wort reden wollte, bin auch nicht der
Meinung, daß ein billiges Urteil gesprochen werden kann, wenn nicht stets jene beste und sicherste
Ratgeberin der Könige den Beisitz hat, jene Erhalterin des königlichen Thrones, wie Salomo sagt:
die Milde (vgl. Spr. 20,28)! Vorzeiten hat mit Recht jemand (Seneca) gesagt, daß sie die erste Gabe
der Fürsten sei. Auf diese beiden Dinge aber muß die Obrigkeit sehen: einmal darauf, daß sie
nicht in gar zu großer Strenge mehr verwundet als heilt, zum andern aber auch darauf, daß sie
nicht durch ein abergläubisches Haschen nach Milde auf eine höchst grausame "Menschlichkeit"
verfällt, wenn sie nämlich zu vieler Menschen Schaden in einer weichlichen, haltlosen Nachsicht
zergeht. Es war nämlich auch der Spruch nicht ohne Grund, den einst einer unter der Herrschaft des
Nerva tat: es sei zwar übel, unter einem Fürsten zu leben, unter dem nichts erlaubt sei, noch viel
übler aber unter einem, unter dem alles erlaubt sei!
IV,20,11 Da es nun die Könige und Völker zuweilen nötig haben, zur
Vollstreckung solcher öffentlichen Strafe zu den Waffen zu greifen, so läßt sich aus dieser
Überlegung zugleich das Urteil entnehmen, daß dergestalt unternommene Kriege rechtmäßig sind.
Denn wenn ihnen die Macht übertragen ist, um damit die Ruhe des unter ihrer Botmäßigkeit
stehenden Gebiets zu schützen, die aufrührerischen Bewegungen unruhiger Leute zu unterdrücken,
den Bedrängten mit Gewalt zu Hilfe zu kommen und die Freveltaten zu ahnden — können sie diese
Macht dann mit größerem Nutzen in Wirksamkeit setzen als zur Dämpfung der Wut dessen, der nicht
nur die Ruhe des einzelnen Menschen insonderheit, sondern den gemeinsamen Frieden aller stört, der
aufrührerisch wühlt und von dem gewaltsame Bedrückungen und unwürdige Freveltaten ausgehen? Wenn
sie die Hüter und Wahrer der Gesetze sein sollen, so müssen sie gleichermaßen die Anschläge
aller zunichte machen, durch deren Mutwillen die Ordnung der Gesetze zerstört wird. Ja, wenn sie
mit Recht solche Räuber strafen, deren ungerechtes Tun bloß wenige betroffen hat — sollen sie es
dann zulassen, daß das ganze Land ungestraft durch Räubereien in Not gebracht und verwüstet wird?
Denn es macht nichts aus, ob es ein König ist oder einer aus dem niedrigsten Volke, der in ein
fremdes Land, auf das er kein Anrecht hat, einbricht und es feindselig quält — sie müssen alle
gleicherweise für Räuber gehalten und als solche bestraft werden. Die natürliche Billigkeit und
der Sinn des Amtes gebietet es also, daß die Fürsten nicht nur dazu bewaffnet sind, um die
Missetaten von Einzelmenschen mit richterlichen Strafen im Zwang zu halten, sondern auch, um die
Herrschaftsgebiete, die ihrer Obhut anvertraut sind, im Wege des Krieges zu verteidigen, wenn sie
feindselig angetastet werden. Und der Heilige Geist gibt durch viele Zeugnisse der Schrift zu
erkennen, daß derartige Kriege rechtmäßig sind.
IV,20,12 Wenn man mir entgegenhält, im Neuen Testament gebe es weder ein
Zeugnis noch ein Beispiel, das uns lehren könnte, daß der Krieg eine Sache sei, die dem Christen
erlaubt ist, so antworte ich zunächst: die Begründung für das Führen von Kriegen, die einstmals
bestand, dauert auch heute noch fort, und es gibt im Gegenteil keine Ursache, die die Obrigkeit
davon abhalten könnte, ihre Untertanen zu verteidigen. Zweitens entgegne ich, daß man in den
apostolischen Schriften eine ausdrückliche Behandlung dieser Dinge nicht suchen darf, weil ja in
ihnen nicht die Absicht besteht, die bürgerliche Regierung zu gestalten, sondern Christi
geistliches Reich aufzurichten. Und schließlich weise ich darauf hin, daß auch in diesen Schriften
beiläufig angedeutet wird, daß Christus durch sein Kommen in diesem Stück keinerlei Veränderung
gebracht hat. Denn "wenn die christliche Zucht" — um mit den Worten Augustins zu sprechen —
"alle Kriege verdammte, dann würde doch jenen Kriegsknechten, die einen Rat zum Heil begehrten,
besser gesagt worden sein, sie sollten die Waffen von sich tun und sich voll und ganz dem
Kriegsdienst entziehen. Tatsächlich aber wurde ihnen gesagt: ‘Tut niemand Gewalt noch Unrecht und
lasset euch genügen an eurem Solde’ (Luk. 3,14). Wenn Johannes diesen Kriegsknechten gebot, sie
sollten sich an ihrem eigenen Solde genug sein lassen, so hat er ihnen sicherlich nicht verboten,
Kriegsdienst zu leisten" (Brief 133, an Marcellinus). Alle Obrigkeiten aber müßten sich mit
höchstem Fleiß davor hüten, auch nur im allermindesten ihren Begierden zu gehorchen. Nein, sie
dürfen sich vielmehr, wenn Strafen geübt werden müssen, nicht von jähem Zorn treiben, nicht vom
Haß hinreißen lassen, dürfen nicht in unversöhnlicher Härte glühen, sondern sollen sich, wie
Augustin sagt, in dem Menschen, dessen eigene Missetat sie strafen, doch auch der gemeinsamen
(menschlichen) Natur erbarmen. Oder wenn es gilt, gegen einen Feind, das heißt gegen einen
bewaffneten Räuber, zu den Waffen zu greifen, so sollen sie nicht eine geringfügige Sache zum
Anlaß nehmen, ja, auch einen gebotenen Anlaß nicht annehmen, wofern sie nicht die äußerste Not
dazu zwingt. Denn wenn wir doch viel mehr leisten müssen, als jener Heide (Cicero) gefordert hat,
der da verlangte, der Krieg sollte als das Suchen nach Frieden erscheinen (Von den Pflichten I,23),
so müssen wir sicherlich zuvor alles versuchen, ehe wir die Entscheidung mit den Waffen
herbeiführen. In beiderlei Hinsicht aber sollen sich die obrigkeitlichen Personen von keiner
privaten Regung fortreißen, sondern ausschließlich von dem Empfinden für die öffentlichen
Erfordernisse führen lassen. Im anderen Falle treiben sie mit ihrer Macht übelsten Mißbrauch;
denn diese ist ihnen ja nicht zu ihrem eigenen Vorteil, sondern zum Nutzen und Dienst der anderen
gegeben. Auf dem gleichen Rechte zur Kriegführung beruht ferner auch die Berechtigung zu
Schutzbesatzungen, Bündnissen und bürgerlichen Rüstungen. Unter Schutzbesatzungen verstehe ich
solche, die zum Schutz der Grenzen eines Landes über die einzelnen Städte verteilt werden. "Bündnisse"
nenne ich jene Verträge, die von benachbarten Fürsten mit der Bestimmung geschossen werden, daß
sie sich, wenn in ihren Gebieten Wirren eintreten sollten, gegenseitig Hilfe leisten und ihre
Kräfte gemeinsam daran wenden, um die gemeinsamen Feinde des Menschengeschlechts nieder-zukämpfen.
"Bürgerliche Rüstungen" sind die, die in der Kriegskunst gebräuchlich sind.
IV,20,13 Ich möchte zum Schluß noch hinzufügen, daß die Abgaben und
Steuern rechtmäßige Einkünfte der Fürsten sind. Diese sollen sie zwar vor allem dazu verwenden,
um die öffentlichen Lasten ihres Amtes zu bestreiten, sie können sie aber gleichfalls für den
Glanz ihres Hofes brauchen, wie er mit der Würde der Herrschaft, die sie führen, einigermaßen
verbunden ist. So sehen wir, daß David, Hiskia, Josia, Josaphat und andere heilige Könige, dazu
auch Joseph und Daniel aus öffentlichen Einkünften, je nach dem Maße des Amtes, das sie
bekleideten, ohne Beeinträchtigung ihrer Frömmigkeit ein kostspieliges Leben geführt haben, und
wir lesen bei Ezechiel, wie den Königen ein sehr großes Stück Land zugewiesen wird (Ez. 48,21).
Er beschreibt zwar an dieser Stelle Christi geistliches Reich, aber er nimmt das Muster zu seinem
Bilde doch von dem rechtmäßigen Königtum der Menschen. Freilich gilt das dergestalt, daß die
Fürsten selbst wiederum bedenken müssen, daß ihre Geldmittel nicht so sehr persönliches Eigentum
sind als vielmehr Besitztümer des ganzen Volkes — so bezeugt es nämlich Paulus (Röm. 13,6) —,
die sie nicht ohne offenkundiges Unrecht vergeuden oder verschleudern können. Oder besser, daß
dieser Besitz geradezu das Blut des Volkes darstellt, wobei es doch die härteste Unmenschlichkeit
wäre, das nicht zu schonen! Auch sollen sie sich vergegenwärtigen, daß ihre Schätzungen und
Steuern und alle Abgaben anderer Art nur Hilfsmittel für die öffentliche Notdurft darstellen, und
daß es eine tyrannische Raubgier wäre, das arme Volk ohne Ursache damit zu plagen. Diese
Erwägungen machen den Fürsten nicht etwa Mut zu Verschwendung und ausschweifender Verwendung ihrer
Ausgaben — wie es denn wahrlich nicht vonnöten ist, ihren Begierden, die von selbst schon mehr
als billig entbrannt sind, noch Feuer zuzulegen! —, nein, da es in höchstem Maße darauf ankommt,
daß sie das, was sie wagen, auch mit reinem Gewissen vor Gott wagen, so müssen sie gelehrt werden,
wieviel ihnen erlaubt ist, damit sie nicht aus unfrommem Selbstvertrauen heraus zur Verachtung
Gottes gelangen. Aber auch für amtlose Leute ist diese Unterweisung nicht überflüssig, damit sie
es sich nicht herausnehmen, alle und jegliche Ausgaben der Fürsten, auch wenn sie das gewöhnliche,
bürgerliche Maß überschreiten, unbesonnen und frech zu verdammen.
IV,20,14 Auf die Obrigkeit folgen in der bürgerlichen Regierung die
Gesetze, die kräftigsten Sehnen der Gemeinwesen oder auch, wie sie nach dem Vorgang des Platon von
Cicero genannt werden, die Seelen, ohne welche die Obrigkeit nicht bestehen kann, wie die Gesetze
auf der anderen Seite auch selbst ohne die Obrigkeit keine Kraft haben. Deshalb konnte nichts mehr
der Wahrheit entsprechen, als wenn man gesagt hat, das Gesetz sei eine stumme Obrigkeit und die
Obrigkeit ein lebendiges Gesetz (Cicero). Wenn ich es aber auf mich genommen habe, darüber zu
sprechen, nach welchen Gesetzen ein christliches Regiment einzurichten sei, so besteht doch kein
Anlaß, daß hier jemand eine lange Erörterung über die beste Art von Gesetzen erwartet; denn eine
solche würde kein Ende finden und weder in den hier verhandelten Gedankenkreis noch an diesen Ort
gehören. Ich will nur mit wenigen Worten und gleichsam im Vorbeigehen angeben, welche Gesetze ein
christliches Regiment in Frömmigkeit vor Gott gebrauchen und nach welchen es unter den Menschen
recht verwaltet werden kann. Auch diesen Punkt hätte ich lieber voll und ganz mit Stillschweigen
übergangen, wenn ich nicht bemerkte, daß hier viele Leute in gefährlicher Weise abirren. Es gibt
nämlich solche, die behaupten, ein Gemeinwesen, das unter Außerachtlassung der bürgerlichen
Ordnungen des Mose nach den allgemeinen Gesetzen der Völker regiert wird, sei nicht recht
eingerichtet. Wie gefährlich und aufrührerisch diese Meinung ist, mögen andere untersuchen; mir
wird es genug sein, wenn ich nachgewiesen habe, daß sie falsch und sinnlos ist. Wir müssen dabei
aber jene gewohnte Einteilung ins Auge fassen, die das gesamte Gesetz Gottes, wie es Mose
verkündigt hat, in "sittliche Weisungen" (mores), "Zeremonien" und "Rechtssatzungen"
teilt. Hier müssen wir nun die einzelnen Stücke untersuchen, um festzustellen, was von ihnen auch
uns angeht und was weniger. Indessen darf sich hier niemand von dem Anstoß stutzig machen lassen,
daß doch auch Rechtssatzungen und Zeremonien zu den "Sitten" gehören. Denn die Alten, die
diese Einteilung überliefert haben, wußten auch durchaus, daß jene beiden letzteren Stücke
(Zeremonien, Rechtssatzungen) mit den "Sitten" zu tun haben; aber weil man sie doch ohne
Beeinträchtigung der Sitten abändern oder abschaffen konnte, so behaupteten die Alten, sie seien
nicht "sittlich". Als "sittlich" bezeichneten sie vielmehr jenes erste Stück besonders,
weil ohne dies die wahre Heiligkeit der Sitten und eine unveränderliche Richtschnur zu rechtem
Lebenswandel nicht bestehen kann.
IV,20,15 Das sittliche Gesetz also — um damit zunächst den Anfang zu
machen — besteht aus zwei Hauptstücken: das eine gebietet einfach, Gott in reinem Glauben und
reiner Frömmigkeit zu verehren, das andere, die Menschen in aufrichtiger Liebe zu umfangen. Dieses
sittliche Gesetz ist die wahre und ewige Richtschnur der Gerechtigkeit, die den Menschen aller
Völker und aller Zeiten vorgeschrieben ist, wenn sie ihr Leben nach Gottes Willen gestalten wollen.
Denn das ist sein ewiger, unwandelbarer Wille, daß er selbst von uns allen verehrt werde, und daß
wir uns andererseits untereinander gegenseitig lieben. Das Zeremonialgesetz war eine unterweisende
Erziehung der Juden, die nach des Herrn Wohlgefallen dazu diente, den gleichsam kindlichen Stand
dieses Volkes zu üben, bis jene Zeit der Fülle käme (Gal. 4,4), zu der er der Erde seine Weisheit
völlig offenbaren und die Wahrheit jener Dinge ans Licht bringen wollte, die damals noch mit
Bildern schattenhaft umrissen waren. Das Gesetz im Sinne der Rechtssatzungen war ihnen als
bürgerliche Ordnung gegeben; es überlieferte ihnen bestimmte Regeln für Billigkeit und
Gerechtigkeit, nach denen sie unschuldig und friedlich miteinander umgehen sollten. Nun gehörte
jene Übung unter den Zeremonien zwar im eigentlichen Sinne zur Lehre der Frömmigkeit, weil sie ja
die Kirche der Juden bei der Verehrung Gottes und der Religion erhielt; trotzdem aber konnte sie von
der Frömmigkeit selbst unterschieden werden. Ganz ebenso verhielt es sich mit der hier vorliegenden
Form der Rechtssatzungen, diese hatte freilich keinen anderen Zweck, als daß eben jene Liebe, die
in Gottes ewigem Gesetz geboten wird, auf die bestmögliche Weise gewahrt würde, aber trotzdem
hatte sie etwas, das von dem Gebot der Liebe selbst verschieden war. Wie also die Zeremonien
abgeschafft werden konnten, ohne daß dadurch die Frömmigkeit verkürzt oder angetastet wurde, so
können auch bei Aufhebung dieser rechtlichen Ordnungen die dauernden Pflichten und Gebote der Liebe
bestehen bleiben. Ist das aber wahr, dann ist auf jeden Fall den einzelnen Völkern die Freiheit
gelassen, die Gesetze zu machen, von denen sie voraussehen, daß sie ihnen Nutzen bringen, aber sie
müssen nach jener dauernden Regel der Liebe gerichtet werden, so daß sie zwar in ihrer Form
verschieden sind, aber den gleichen Sinn haben. Denn ich bin in keiner Weise der Meinung, daß man
jene barbarischen, rohen Gesetze, wie etwa jene, die die Spitzbuben in Ehren hielten, die ohne
Unterschied die fleischliche Gemeinschaft erlaubten, und andere, die noch viel abscheulicher und
widersinniger waren, überhaupt für Gesetze zu halten hat. Denn sie stehen ja im Gegensatz nicht
nur zu aller Gerechtigkeit, sondern auch zur Menschlichkeit und Milde.
IV,20,16 Was ich gesagt habe, wird deutlich werden, wenn wir, wie es sich
gehört, bei allen Gesetzen folgende beide Eigentümlichkeiten betrachten: die festgelegte Gestalt
(constitutio) des Gesetzes und die Billigkeit (aequitas), auf die sich die festgelegte Gestalt
sinngemäß gründet und stützt. Die Billigkeit ist etwas Natürliches (naturalis) und kann deshalb
bei allen nur eine (und dieselbe) sein; sie muß deshalb für alle Gesetze, freilich je nach der Art
der von ihnen geregelten Angelegenheit, das gleiche Ziel darstellen. Die festgelegten Gestaltungen
der Gesetze dagegen stehen unter dem Einfluß bestimmter Umstände, von denen sie teilweise
abhängig sind, und deshalb steht ihrer Verschiedenartigkeit nichts im Wege, wenn sie nur allesamt
gleichermaßen nach dem gleichen Ziel, nämlich der Billigkeit ausgerichtet sind. Nun steht es aber
fest, daß Gottes Gesetz, das wir das "sittliche" nennen, nicht etwas anderes ist als das
Zeugnis des natürlichen Gesetzes und jenes Gewissens, das den Menschen von Gott ins Herz
eingegraben ist, und deshalb ist diese Billigkeit, von der wir hier reden, ihrem Sinne nach voll und
ganz in diesem Gesetz vorgeschrieben. Deshalb muß es auch allein Richtpunkt, Regel und Grenze für
alle Gesetze sein. Sofern nun also Gesetze nach dieser Regel gestaltet, auf diesen Richtpunkt
eingestellt und von dieser Grenze umzogen sind, besteht bei ihnen allen kein Grund, weshalb sie von
uns nicht gutgeheißen werden sollten, so verschieden sie auch von dem jüdischen Gesetz oder auch
untereinander sein mögen. (Beispiele:) Das Gesetz Gottes verbietet das Stehlen. Was für eine
Strafe in der bürgerlichen Ordnung der Juden auf Diebstahl gesetzt war, das läßt sich aus dem
Buche Exodus ersehen (Ex. 21,37; 22,1-3). Sehr alte Gesetze anderer Völker bestraften den Diebstahl
mit der Auflage doppelter Erstattung (des Gestohlenen). Die später nachfolgenden Gesetze haben dann
zwischen unmittelbar handgreiflichem (manifestus) und nicht unmittelbar handgreiflichem Diebstahl
einen Unterschied gemacht. Andere sind weitergegangen und haben die Landesverweisung verhängt,
wieder andere die Geißelung und andere schließlich die Todesstrafe. Falsches Zeugnis wurde unter
den Juden mit der Strafe der genauen Vergeltung belegt (poena talionis: "so sollet ihr ihm tun,
wie er gedachte seinem Bruder zu tun" Deut. 19,19); anderen Orts wurde es allein mit scharfer
Entehrung, wieder anderswo mit dem Strick oder wieder anderswo mit Kreuzigung bestraft. Den Mord
ahnden alle Gesetze gleichermaßen mit Blut, freilich mit verschiedenen Arten der Todesstrafe. Gegen
Ehebrecher hat man am einen Ort strengere, am anderen leichtere Strafen verhängt. Aber wir sehen
doch, wie alle diese Gesetze in solcher Verschiedenartigkeit einem und demselben Ziele zustreben.
Denn es ist doch so, daß sie alle zugleich mit einem Munde gegen jene Missetaten Strafe verhängen,
die in Gottes ewigem Gesetz verurteilt werden, nämlich gegen Mord, Diebstahl, Ehebruch und falsches
Zeugnis. Dagegen kommen sie im Maß der Strafe nicht überein; das ist aber auch nicht notwendig,
ja, es ist nicht einmal von Nutzen. Es gibt Länder, die sofort durch Bluttaten und Räubereien
zugrunde gerichtet würden, wenn sie nicht mit furchtbaren Maßregeln gegen die Mörder vorgingen.
Es gibt Zeiten, die es erfordern, daß die Härte der Strafen vergrößert wird. Sind im
öffentlichen Leben Wirren vorgekommen, so muß man gegen die Übel, die daraus zuerwachsen pflegen,
mit neuen Verordnungen Abhilfe schaffen. Zu Kriegszeiten, unter dem Lärm der Waffen, würde alle
Menschlichkeit zunichte werden, wenn man den Leuten nicht eine ungewöhnliche Furcht vor Strafen
einflößte. Bei Dürre oder Pestilenz muß alles übel abgehn, wenn nicht größere Strenge
angewendet wird. Es gibt manches Volk, das eine recht üble Neigung zum Laster hat, wenn es nicht
mit äußerster Schärfe zurückgehalten wird. Was wäre es da für eine Schalkheit und was für ein
böser Wille gegenüber dem öffentlichen Wohl, wenn einer an solch einer Verschiedenheit Anstoß
nähme, die doch ganz besonders dazu angetan ist, die Wahrung des Gesetzes Gottes
aufrechtzuerhalten! Einige Leute machen hier den Einwand, man tue dem Gesetz Gottes, wie es Mose
gegeben hat, Schmach an, wenn man es abschaffte und damit anderen, neuen Gesetzen vor ihm den Vorzug
gäbe. Aber das ist völlig unbegründet. Denn wenn diese anderen Gesetze mehr Billigung finden, und
zwar nicht aus einfacher Gegenüberstellung, sondern in Anbetracht der Verhältnisse, die Zeit, Ort
und Volk mit sich bringen, so erhalten sie damit nicht etwa vor jenem Gesetz den Vorzug. Und dann
kann von der Abschaffung jenes Gesetzes auch keine Rede sein; denn es ist uns nie gegeben worden.
Denn der Herr hat es nicht durch die Hand des Mose überliefern lassen, damit es bei allen Völkern
verkündet würde und allenthalben in Geltung stünde; nein, da er das jüdische Volk in seine
Treue, seine Hut und seinen Schutz aufgenommen hatte, so wollte er für dies Volk auch im besonderen
Sinne der Gesetzgeber sein und trug ihm auch, wie es einem weisen Gesetzgeber geziemt, bei der
Gesetzgebung in besonderem Maße Rechnung.
IV,20,17 Jetzt bleibt uns noch übrig zu untersuchen, was wir uns an letzter
Stelle vorgenommen hatten, nämlich, was der allgemeinen Gemeinschaft der Christen aus Gesetzen,
Gerichten und Obrigkeiten für ein Nutzen erwächst. Damit hängt dann auch eine weitere Frage
zusammen, nämlich was amtlose Leute der Obrigkeit zu leisten schuldig sind und wie weit der
Gehorsam gehen soll. Sehr viele Leute haben den Eindruck, unter Christen sei das Amt der Obrigkeit
überflüssig, weil sie ihre Hilfe ja doch nicht in Frömmigkeit anrufen könnten, da ihnen eben
verboten sei, Rache zu nehmen, ein Gericht anzurufen und Prozesse zu führen. Demgegenüber bezeugt
nun aber Paulus klar und deutlich, daß die Obrigkeit "Gottes Dienerin" ist, uns zu gut (Röm.
13,4), und daraus ersehen wir, daß es von Gott aus so angeordnet ist, daß wir durch ihre Hand und
ihre Hilfe gegen die Bosheit und die Ungerechtigkeit frevelhafter Menschen verteidigt werden und so
ein friedliches und sicheres Leben führen (1. Tim. 2,2). Nun ist uns die Obrigkeit aber vergebens
vom Herrn zum Schutze gegeben, wenn es uns nicht freisteht, von solcher Wohltat Gebrauch zu machen,
und daraus ergibt sich deutlich, daß wir sie auch um Hilfe bitten und anrufen können, ohne damit
unfromm zu sein. Hier muß ich mich nun mit einer doppelten Art von Menschen befassen. (1) Es gibt
nämlich viele, die von einer solch wilden Lust zum prozessieren entbrannt sind, daß sie keine Ruhe
bei sich haben, wenn sie nicht mit anderen im Streite liegen. Ihre Prozesse aber führen sie mit
tödlich bitterem Haß und mit wahnwitziger Gier, Rache zu nehmen und Schaden zu tun, und treiben
sie in unversöhnlicher Halsstarrigkeit bis zum Untergang ihres Widersachers. Um nun den Eindruck zu
erwecken, als täten sie nichts anderes, als was sie mit Recht tun dürften, so verteidigen sie
solche Verdrehtheit mit dem Vorwand, sie suchten ihr Recht. Aber wenn es erlaubt ist, mit dem Bruder
vor Gericht zu gehen, so darf man ihn doch nicht gleich hassen, darf sich nicht von wütender
Schadgier gegen ihn hinreißen lassen und ihn nicht halsstarrig verfolgen!
IV,20,18 Solche Leute sollen also wissen: gerichtliches Vorgehen ist recht,
wenn man den rechten Gebrauch davon macht. Der Kläger aber wird bei seiner Klage und ebenso der
Angeklagte bei seiner Verteidigung den rechten Gebrauch innehalten, wenn beide folgendes beachten:
ist der Beschuldigte vor Gericht gefordert, so soll er sich an dem festgesetzten Tage einstellen und
seine Sache ohne Bitterkeit mit den ihm möglichen Entschuldigungsgründen verteidigen, aber stets
allein in der Gesinnung, das, was sein ist, kraft des Rechtes zu schützen; der Kläger aber, der
unbillig an Leben oder Gut bedrängt wird, soll sich in die Obhut der Obrigkeit begeben, seine Klage
darlegen und das, was billig und gut ist, fordern, aber völlig ohne die Gier, zu schaden oder Rache
zu nehmen, ohne Schärfe und Haß, ja, viel eher bereit, auf das Seine zu verzichten und alles
Mögliche zu erdulden, als sich etwa von feindseliger Gesinnung gegen seinen Widersacher leiten zu
lassen. Wo die Herzen dagegen vom Übelwollen übergossen, vom Neid verderbt sind, wo sie vor Zorn
brennen und Rache schnauben oder wo sie schließlich dermaßen von der Kampfeshitze entflammt sind,
daß sie der Liebe vergessen, da kann die gerichtliche Austragung auch der gerechtesten Sache nicht
anders als gottlos sein. Denn bei allen Christenmenschen muß der Grundsatz feststehn: niemals kann
jemand einen noch so billigen Rechtsstreit in gerechter Weise durchfechten, wenn er seinen Gegner
nicht mit der gleichen Liebe und Freundlichkeit behandelt, wie wenn der strittige Fall bereits
freundschaftlich erledigt und geschlichtet wäre. Vielleicht mag jemand einwerfen, eine solche
Mäßigung käme vor Gericht so selten zum Vorschein, daß es geradezu ein Wunder wäre, wenn sie
sich einmal fände. Ich gebe gewiß zu, daß, wie die Sitten dieser Zeiten nun einmal sind, selten
ein Beispiel eines solchen Menschen, der seinen Prozeß recht führt, zu finden ist, aber trotzdem
hört die Sache selbst, die durch kein hinzutretendes Übel verunreinigt wird, nicht auf, gut und
rein zu sein. Wenn wir übrigens hören, daß die Hilfe der Obrigkeit eine heilige Gabe Gottes ist,
so müssen wir uns um so eifriger davor hüten, daß sie durch unsere Schuld befleckt wird.
IV,20,19 (2) Es gibt aber andere, die alle gerichtlichen Streitigkeiten
rundweg verdammen. Die sollen nun wissen, daß sie damit zugleich heilige Anordnung Gottes verwerfen
und eine Gabe von der Art, die dem Reinen rein sein können (Tit. 1,15). Sie müßten sonst schon
den Paulus einer Missetat beschuldigen, der die Schmähungen seiner Ankläger von sich wies und
dabei auch ihre Verschlagenheit und Bosheit darlegte, der vor Gericht auf das Vorrecht Anspruch
erhob, das ihm der Besitz des römischen Bürgerrechts gewährte, und der sich, als es nötig war,
von einem unbilligen Statthalter auf den Richterstuhl des Kaisers berief (Apg. 22,1.25; 24,12;
25,10f.). Es steht auch nicht im Wege, daß allen Christen die Rachgier untersagt ist (Lev. 19,18;
Matth. 5,39; Deut. 32,35; Röm. 12,19). Die wollen auch wir von christlichen Gerichtshöfen ganz
weit fernhalten! Denn wenn ein bürgerlicher Rechtsstreit zur Verhandlung steht, so geht nur der auf
dem rechten Weg, der seine Sache in unschuldiger Einfalt dem Richter als dem öffentlichen
Beschützer anbefiehlt und dabei an nichts weniger denkt, als Böses mit Bösem zu vergelten —
denn das wäre eben rachgieriger Sinn. Oder wenn die Anklage auf Tod und Leben geht oder sonst einen
ernsteren Fall betrifft, so verlangen wir einen Ankläger, der vor Gericht tritt, ohne daß er sich
von hitziger Lust zur Strafe hat hinreißen oder von irgendeiner Verärgerung über persönliches
Unrecht hat berühren lassen, sondern ausschließlich den Willen hat, die Anschläge eines
gefährlichen Menschen zu verhindern, damit sie dem Gemeinwesen keinen Schaden tun. Denn wenn man
den rachgierigen Sinn wegnimmt, dann gibt es keine Verfehlung gegen jenes Gebot, in dem den Christen
die Rache untersagt wird.Aber, so wird man einwenden, es wird den Christen doch nicht nur verboten,
Rache zu begehren, sondern auch die Anweisung gegeben, auf die Hand des Herrn zu warten, der da
verheißt, er wolle den Bedrückten und Angefochtenen als Rächer zur Seite stehen — wenn nun aber
jemand für sich oder andere verlangt, die Obrigkeit solle ihnen zu Hilfe kommen, so kommt er jener
ganzen Rache des himmlischen Schirmherrn zuvor. Tatsächlich aber ist es keineswegs so. Denn wir
müssen daran denken, daß die Rache der Obrigkeit nicht die eines Menschen ist, sondern Gottes
Rache, die er durch den Dienst eines Menschen — uns zugut, wie Paulus sagt (Röm. 13,4) —
wirksam macht und ausübt.
IV,20,20 Ebensowenig stehen wir mit Christi Worten im Widerspruch, wenn er
uns da gebietet, dem Übel nicht zu widerstreben, wenn er uns anweist, dem, der uns einen Schlag auf
die linke (!) Backe gegeben hat, auch die rechte (!) hinzuhalten, und wenn er uns sagt, wir sollten
dem, der uns den Rock nimmt, auch den Mantel lassen (Matth. 5,39f., zum Teil ungenau). Er will
freilich an dieser Stelle die Herzen der Seinigen so stark von der Gier nach Wiedervergeltung
abschrecken, daß sie es bereitwilliger ertragen würden, wenn das Unrecht an ihnen verdoppelt
würde, als daß sie danach strebten, es zu vergelten. Von dieser Geduld aber führen auch wir sie
nicht weg. Denn die Christen müssen in Wahrheit eine Art von Menschen sein, die dazu geboren ist,
Schmähungen und Beleidigungen zu ertragen, die der Bosheit, dem Betrug und dem Gespött der
übelsten Menschen ausgesetzt ist; ja, nicht nur dies, sondern sie müssen all dies Übel geduldig
ertragen, das heißt von ganzem Herzen so geartet sein, daß sie sich, wenn sie gerade die eine
Widerwärtigkeit erfahren haben, sogleich auf die nächste rüsten, sie müssen Leute sein, die sich
für das ganze Leben nichts anderes versprechen als das Tragen eines dauernden Kreuzes. Unterdessen
sollen sie denen, die ihnen Unrecht widerfahren lassen, Gutes tun, sollen segnen, die ihnen fluchen
(Matth. 5,44), und, was ihr einziger Sieg ist, danach trachten, das Böse mit Gutem zu überwinden
(Röm. 12,21). Kraft dieser Gesinnung sollen sie nicht "Aug’ um Auge, Zahn um Zahn" begehren
— so unterwiesen die Pharisäer ihre Jünger zum Begehren nach Rache —, nein, sie sollen es, wie
wir von Christus erzogen werden, ertragen, daß ihnen der Leib zerstückelt und Hab und Gut
hinterlistig entrissen wird, und zwar dergestalt ertragen, daß sie dergleichen Unrecht sogleich
verzeihen und gern vergeben, wenn es ihnen soeben angetan worden ist (Matth. 5,39). Aber diese
Billigkeit und Mäßigung, die sie in ihrem Herzen tragen, wird sie doch nicht daran hindern,
unbeschadet ihrer Freundlichkeit gegen ihre Widersacher die Hilfe der Obrigkeit zur Bewahrung ihrer
Güter in Anspruch zu nehmen oder aus Eifer um das öffentliche Wohl die Bestrafung eines schuldigen
und verderbenbringenden Menschen zu verlangen, von dem sie wissen, daß er nur durch den Tod
gebessert werden kann. Es ist nämlich eine der Wahrheit entsprechende Auslegung, wenn Augustin
erklärt, daß alle diese Weisungen das Ziel haben, daß der gerechte und fromme Mensch bereit ist,
geduldig die Bosheit derer zu tragen, von denen er wünscht, daß sie gut würden, und zwar, damit
die Zahl der Guten wachse, nicht aber der Gute sich durch gleiche Bosheit zur Zahl der Bösen
hinzuzähle, — und wenn er weiterhin sagt, diese Gebote bezögen sich mehr auf die im Inneren sich
vollziehende Zurüstung des Herzens als auf das Werk, das in der Öffentlichkeit geschieht, so daß
also im Verborgenen des Herzens die Geduld samt dem Wohlwollen festgehalten würde, in der
Öffentlichkeit aber das geschähe, das nach unserer Einsicht denen nutzen könnte, denen wir
wohlwollen sollten (Brief 138, an Marcellinus).
IV,20,21 Falsch ist aber auch der weitere Einwand, den man hier zu machen
pflegt, nämlich Paulus habe allgemein jegliche gerichtliche Streitigkeiten verurteilt (1. Kor.
6,5-8). Denn aus seinen Worten läßt sich leicht ersehen, daß in der Kirche der Korinther eine
maßlose Prozeßwut herrschte, dieso weit ging, daß sie Christi Evangelium und die ganze Religion,
die sie bekannten, dem Spott und den Schmähworten der Gottlosen aussetzten. In erster Linie tadelt
Paulus an ihnen dies, daß sie durch die Maßlosigkeit ihrer Streitereien das Evangelium bei den
Ungläubigen in Verruf brachten. Und dann auch dies, daß Brüder mit Brüdern auf diese Weise
miteinander im Streite lagen. Denn sie waren so weit davon entfernt, ein ihnen vom anderen
widerfahrenes Unrecht zu ertragen, daß die einen gierig nach dem Besitz der anderen lauerten und
sie sich noch dazu gegenseitig herausforderten und Schaden zufügten. Gegen diese wahnwitzige
Prozeßsucht fährt also der Apostel los, nicht aber einfach gegen jegliche Streitigkeiten. Ja (wird
man sagen), aber er erklärt doch, daß es überhaupt schon ein Laster oder eine Schwäche sei, daß
sie nicht lieber an ihren Gütern Schaden litten, als sich bis zu Streitereien hin darum zu
bemühen, sie zu behalten. Gewiß, aber es war doch so: sie ließen sich durch irgendwelche
Schädigungen dermaßen leicht erregen, daß sie aus den geringsten Ursachen vor Gericht liefen und
einen Prozeß anfingen, und Paulus sagt nun, das sei eben ein Anzeichen dafür, daß sie eine allzu
erregbare und zur Geduld wenig bereite Gesinnung in sich trügen. Sicherlich müssen sich die
Christen darum bemühen, allezeit lieber von ihrem Rechte Abstand zu nehmen, als vor Gericht zu
gehen — denn da können sie schwerlich herauskommen, ohne daß ihr Herz recht erregt und zum Haß
gegen den Bruder entbrannt ist. Wo dagegen jemand sieht, daß er seine Sache ohne Beeinträchtigung
der Liebe schützen kann, während ihm deren Verlust einen schweren Schaden zufügen würde, da
vergeht er sich, wenn er das tut, nicht gegen diesen Spruch des Paulus. Und schließlich: jedem
wird, wie wir zu Beginn dargelegt haben, die Liebe den besten Rat geben, und wir stellen ohne
Erörterung fest, daß alle Streitigkeiten, die ohne sie unternommen werden und über sie
hinausgehen, ungerecht und gottlos sind.
IV,20,22 Die erste Pflicht der Untertanen gegenüber ihrer Obrigkeit besteht
darin, daß sie von ihrem Amt eine höchst ehrerbietige Meinung haben — denn sie erkennen ja, daß
es eine von Gott auf die Obrigkeit übertragene Rechtsgewalt ist — und sie daraufhin als Gottes
Dienerin und Abgesandte aufnehmen und ehren. Denn man kann Leute finden, die sich ihrer Obrigkeit
durchaus gehorsam erweisen und die nicht möchten, es wäre keine da, der man gehorchen könnte,
weil sie eben wissen, daß es so dem öffentlichen Wohl nützlich ist — die aber von den
Obrigkeiten selber die Ansicht haben, als seien sie notwendige Übel. Petrus aber verlangt etwas
mehr von uns, wenn er uns gebietet, den König zu ehren (1. Petr. 2,17), auch Salomo, wenn er die
Weisung gibt, Gott und den König zu fürchten. Denn der erstere versteht unter dem Wörtlein "Ehren"
eine aufrichtige und lautere Hochschätzung, und wenn Salomo den König mit Gott zusammen nennt, so
zeigt er damit, daß er von einer heiligen Ehrwürdigkeit und Hoheit erfüllt ist. Herrlich ist auch
der Spruch bei Paulus: "Darum ist’s not, Untertan zu sein, nicht allein um der Strafe willen,
sondern auch um des Gewissens willen" (Röm. 13,5). Damit meint er: die Untertanen sollen nicht
allein von der Angst vor den Fürsten und Oberen dazu gebracht werden, sich ihnen gegenüber in der
Unterwerfung zu erhalten — so wie man sich einem bewaffneten Feinde zu unterwerfen pflegt, wenn
man sieht, daß im Falle des Widerstandes die Vergeltung unmittelbar bereitsteht —, nein, sie
sollen es tun, weil sie Gott selbst den Gehorsam leisten, den sie ihnen erweisen, weil ja ihre
Gewalt von Gott kommt. Ich rede dabei nicht von Personen, als ob die Maske der Würde die Torheit
oder die Faulheit oder die Grausamkeit oder einen nichtsnutzigen und von Schandtaten erfüllten
Lebenswandel verdeckte und dadurch den Lastern das Lob von Tugenden verschaffte. Nein, ich behaupte,
daß der Stand selbst auf Wert-haltung und Ehrerbietung gebührenden Anspruch hat, so daß also
alle, die ein obrigkeitliches Amt haben, mit Rücksicht auf ihre vorgesetzte Stellung bei uns in
Wert stehen und Verehrung erhalten sollen.
IV,20,23 Daraus ergibt sich dann weiter auch das zweite, nämlich, daß die
Untertanen aus einer Gesinnung heraus, die bereit ist, der Obrigkeit gegenüber ihre Pflicht zu tun,
ihr auch den schuldigen Gehorsam zu beweisen haben, ob es nun gilt, ihren Erlassen zu gehorchen oder
die Abgaben zu entrichten oder die öffentlichen Dienste und Lasten zu übernehmen, die zur
gemeinsamen Verteidigung dienen, oder irgendwelche sonstigen Anordnungen auszuführen. "Jede Seele",
sagt Paulus, "sei den übergeordneten Gewalten untertan ... Denn wer der Gewalt widerstrebt, der
leistet Widerstand gegen Gottes Ordnung ..." (Röm. 13,1f.; nicht Luthertext). "Erinnere sie",
schreibt der nämliche Paulus an Titus, "daß sie den Fürsten und der Obrigkeit untertan und
gehorsam seien, zu allem guten Werk bereit seien ..." (Tit. 3,1). Und Petrus sagt: "Seid
untertan aller menschlichen Schöpfung" — oder besser, wie ich jedenfalls übersetze: "jeder
menschlichen Ordnung" — "um des Herrn willen, es sei dem König, als dem Obersten, oder den
Hauptleuten, als die von ihm gesandt sind zur Rache über die Übeltäter und zu Lobe den Frommen"
(1. Petr. 2,13f.). Und damit weiterhin die Untertanen ein Zeugnis dafür geben, daß sie nicht
Untertänigkeit heucheln, sondern aufrichtig und von Herzen untertänig sind, so fügt Paulus noch
hinzu, sie sollten Gott das Heil und Wohlergehen derer anbefehlen, unter denen sie leben. "So
ermahne ich nun", sagt er, "daß man vor allen Dingen zuerst tue Bitte, Gebet, Fürbitte und
Danksagung für alle Menschen, für die Könige und für alle Obrigkeit, auf daß wir ein ruhiges
und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit" (1. Tim. 2,1f.). Und hier
soll sich auch niemand täuschen. Wenn man nämlich der Obrigkeit nicht widerstreben kann, ohne sich
zugleich Gott zu widersetzen, so ist, selbst wenn es den Anschein hat, als könnte man die
waffenlose Obrigkeit ungestraft verachten, doch Gott gewappnet, um die ihm widerfahrene Verachtung
nachdrücklich zu bestrafen. In diesen Gehorsam begreife ich außerdem auch die Mäßigung mit ein,
die sich amtlose ("private") Leute im öffentlichen Leben auferlegen müssen, damit sie sich
nicht unberufen in öffentliche Dinge einmischen oder der Obrigkeit unüberlegt ins Amt greifen und
auch sonst öffentlich durchaus nichts ins Werk setzen. Wenn an der öffentlichen Ordnung etwas
gebessert werden muß, so sollen sie nicht selbst Lärm machen, auch nicht die Hand ans Werk legen,
die ihnen allen in diesem Stück geziemenderweise gebunden sein muß, nein, sie sollen die Sache der
Obrigkeit zur Kenntnis bringen, die hier allein ungebundene Hände hat. Ich verstehe das aber so:
sie sollen nichts wagen, ohne einen Auftrag dazu zu haben; denn sobald der Befehl des Oberen
hinzukommt, sind auch sie mit öffentlicher Autorität ausgerüstet. Wie man nämlich im allgemeinen
die Ratgeber des Fürsten als seine Ohren und Augen zu bezeichnen pflegt, so wäre es auch nicht
abwegig, wenn jemand behauptete, des Fürsten Hände seien die, die er durch seinen Auftrag
eingesetzt hat, um seine Angelegenheiten zu besorgen.
IV,20,24 Da wir nun bisher einen im obrigkeitlichen Amt stehenden Menschen
beschrieben haben, der in Wahrheit ist, was er heißt, nämlich "Vater des Vaterlandes" und, wie
der Dichter sagt, "Hirte des Volkes", "Wächter des Friedens", "Beschützer der
Gerechtigkeit" und "Wahrer der Unschuld", so wäre der, dem solche Herrschaft nicht paßte,
verdientermaßen für wahnwitzig zu achten. Nun bieten aber fast alle Jahrhunderte Beispiele dafür,
daß es auch andere Fürsten gibt. Die einen setzen sich unbekümmert über alles hinweg, für das
sie eigentlich mit Fleiß sorgen sollten, und leben fern von aller Sorge schlaff ihremVergnügen.
Andere sind auf ihren eigenen Vorteil aus und geben deshalb alle Rechte, Vorrechte, Urteile und
Rechtsurkunden als feile Ware in Verkauf. Andere rauben dem armen Volk alles Geld, das sie dann
hernach in sinnloser Freigebigkeit verschwenden. Wieder andere plündern die Häuser aus, schänden
Jungfrauen und Eheweiber, schlachten die Unschuldigen hin und betreiben damit also reine Räuberei.
Daß man nun aber solche Leute als Fürsten anerkennen soll, deren Befehl man, soweit es erlaubt
ist, gehorchen muß, davon kann man viele Leute nicht überzeugen. Denn in solcher Würdelosigkeit
und inmitten solcher Schandtaten, die nicht nur mit der Pflicht der Obrigkeit, sondern auch mit der
eines Menschen so gar nichts zu tun haben, sehen sie keinerlei Erscheinung des Ebenbildes Gottes,
das doch an der Obrigkeit aufleuchten sollte. Sie bekommen keine Spur von jener "Dienerin Gottes"
zu sehen, die den Guten zu Lobe und den Bösen zur Strafe gegeben war (Röm. 13,4). Und weil es so
ist, deshalb erkennen sie in einem solchen Fürsten auch nicht jenen Oberen, dessen Würde und
Autorität uns die Schrift anbefiehlt. Sicherlich ist dem Menschenherzen allezeit das Empfinden
angeboren gewesen, daß man gegen die Tyrannen mit ebensoviel Haß und Verabscheuung vorgehen muß,
wie man den rechtmäßigen Königen mit Liebe und Verehrung begegnen soll.
IV,20,25 Wenn wir aber auf Gottes Wort schauen, so wird es uns weiter
führen, so daß wir nicht nur der Herrschaft solcher Fürsten untertänig sind, die ihr Amt gegen
uns rechtschaffen und mit gebührender Treue wahrnehmen, sondern vielmehr aller, die im Regiments
sitzen, sie mögen es nun führen, wie sie wollen, ja selbst, wenn sie nichts weniger leisten, als
was die Pflicht der Fürsten gebietet. Denn obwohl der Herr bezeugt, daß die Obrigkeit die höchste
Gabe seiner Freundlichkeit ist, um die Wohlfahrt der Menschen zu erhalten, und obwohl er den
Obrigkeiten selbst ihr Gebiet vorschreibt, so erklärt er doch zugleich, daß sie alle, mögen sie
nun geartet sein, wie sie wollen, ihre Herrschaft allein von ihm haben. Die nun, die ihre Herrschaft
zum öffentlichen Wohl führen, so sagt er uns weiter, die sind die wahren Beispiele und Beweise
seiner Freundlichkeit, die aber ungerecht und zügellos herrschen, die sind von ihm erweckt worden,
um die Ungerechtigkeit des Volkes zu strafen — alle aber sind gleichermaßen mit jener heiligen
Majestät ausgerüstet, mit der er die rechtmäßige Gewalt ausgestattet hat. Ich will nicht
weitergehen, ehe ich dafür einige sichere Zeugnisse vorgebracht habe. Es geht nun aber bei unserer
Bemühung nicht um den Beweis dafür, daß ein gottloser König des Herrn Zorn über das Land ist
(Hiob 34,30 nach der lateinischen Übersetzung, der Vulgata; Hos. 13,11; Jes. 3,4; 10,5; Deut.
28,29). Denn ich glaube nicht, daß jemand dasein wird, der das bestreitet, und außerdem wäre auf
diese Weise von solchem König nicht mehr gesagt als von einem Räuber, der einem Hab und Gut nimmt,
von einem Ehebrecher, der einem das Ehebett befleckt, oder von einem Meuchelmörder, der einen
umbringen will; denn alle derartigen Nöte rechnet die Schrift zu Gottes Fluch. Nein, wir wollen uns
vielmehr bemühen, etwas nachzuweisen, was dem menschlichen Verstande nicht gar so schnell eingeht,
nämlich daß in einem ganz üblen und jeglicher Ehre völlig unwürdigen Menschen, der nur die
öffentliche Gewalt innehat, doch jene herrliche, göttliche Macht liegt, die der Herr in seinem
Wort den Dienern seiner Gerechtigkeit und seines Gerichts übertragen hat, und daß dieser deshalb
auch — soweit es dem öffentlichen Gehorsam anbetrifft — von den Untertanen die gleiche
Ehrerbietung und Wertschätzung erfahren soll, die sie dem besten König erweisen würden, wenn er
ihnen gegeben würde.
IV,20,26 In erster Linie möchte ich, daß die Leser die Vorsehung Gottes
beachteten und fleißig im Auge behielten, die uns in der Schrift nicht ohne Ursache so oft ins
Gedächtnis gerufen wird, und seine besondere Wirksamkeit, kraft deren er die Königreiche verteilt
und die Könige einsetzt, die er will. Bei Daniel lesen wir: "Der Herr ändert die Zeiten und den
Wechsel der Zeiten; er setzt Könige ab und setzt Könige ein" (Dan. 2,21; nicht ganz Luthertext).
Und ebenso: "Auf daß die Lebendigen erkennen, daß der Höchste Gewalt hat über der Menschen
Königreiche und gibt sie, wem er will" (Dan. 4,14). Und obgleich die Schrift immer wieder von
vergleichen Sprüchen übervoll ist, sprudelt sie doch die Prophetie des Daniel in besonderem Maße
aus sich hervor. Nun weiß man genugsam, was für ein König Nebukadnezar gewesen ist, der Jerusalem
erobert hat, nämlich ein wackerer Eroberer und Verwüster von anderer Leute Land. Trotzdem
versichert der Herr bei Ezechiel, daß er ihm das Land Ägypten gegeben habe für den Gehorsam, den
er ihm bei der Verwüstung jenes Landes erwiesen hatte (Ez. 29,19). Und zu diesem König sprach
Daniel: "Du, König, bist ein König aller Könige, dem der Gott des Himmels ein mächtiges und
starkes und herrliches Reich gegeben hat; dir, sage ich, hat er es gegeben, dazu auch alle Länder,
in denen die Menschenkinder wohnen, die Tiere auf dem Felde und die Vögel unter dem Himmel, die hat
er dir in die Hand gegeben und dich zum Herrscher über sie gemacht" (Dan. 2,37f.; nicht
Luthertext). Und wiederum sagt er zu seinem Sohne Belsazar: "Gott der Höchste hat deinem Vater
Nebukadnezar Königreich, Macht, Ehre und Herrlichkeit gegeben. Und bei solcher Macht, die ihm
gegeben war, fürchteten und scheuten sich vor seinem Anblick alle Völker, Stämme und Zungen"
(Dan. 5,18f.; nicht ganz Luthertext). Wenn wir hören, daß solch ein König von Gott eingesetzt
ist, so wollen wir uns zugleich auch jene himmlischen Weisungen wieder vor die Seele stellen, die
uns gebieten, den König zu ehren und zu fürchten — und dann werden wir uns nicht scheuen, auch
dem nichtsnutzigsten Tyrannen den Rang zugute zu halten, dessen ihn der Herr gewürdigt hat. Als
Samuel dem Volke Israel ankündigte, was es sich von seinen Königen gefallen lassen müßte, da
sagte er: "Das wird des Königs Recht sein, der über euch herrschen wird: eure Söhne wird er
fortnehmen und sie an seinen Wagen stellen und sie als seine Reiter verwenden, er wird sie seinen
Acker bauen, seine Ernte einholen und seine Waffen schmieden lassen. Eure Töchter aber wird er
nehmen, daß sie Salbenbereiterinnen, Köchinnen und Bäckerinnen seien. Eure besten Äcker und
Weinberge und Ölgärten schließlich wird er nehmen und seinen Knechten geben. Dazu von eurer Saat
und euren Weinbergen wird er den Zehnten nehmen und seinen Kämmerern und Knechten geben. Und eure
Knechte und Mägde und Esel wird er nehmen und seine Geschäfte damit ausrichten. Von euren Herden
wird er den Zehnten nehmen, und ihr müßt seine Knechte sein" (1. Sam. 8,11-17; nicht durchweg
Luthertext). Sicherlich würden die Könige das nicht mit Recht getan haben, wo sie doch das Gesetz
aufs beste zu aller Mäßigkeit unterwies (Deut. 17,16ff.); aber es heißt doch ein "Recht über
das Volk", das nun solchem "Recht" gehorchen mußte und sich ihm nicht widersetzen durfte. Es
ist, wie wenn Samuel gesagt hätte: die Willkür der Könige wird wohl bis zu solcher Ungebundenheit
kommen — und es wird nicht in eurer Macht stehen, sie in Schranken zu halten; euch wird vielmehr
nur das eine übrigbleiben, ihre Befehle zu empfangen und ihnen aufs Wort zu gehorchen!
IV,20,27 Besonders bedeutungsvoll und denkwürdig aber ist eine Stelle bei
Jeremia, und ich will es mich, obwohl sie einigermaßen ausführlich ist, doch nicht verdrießen
lassen, sie hier wiederzugeben, weil sie diese ganze Frage mit höchster Deutlichkeit klarmacht: "Ich
habe die Erde gemacht, spricht der Herr, und Menschen und Vieh, so auf Erden sind, durch meine
große Kraft und meinen ausgestreckten Arm und gebe sie, an wen es gut scheint in meinen Augen. Nun
aber habe ich alle diese Lande gegeben in die Hand meines Knechtes Nebukadnezar, und sollen ihm
dienen alleVölker und großen Könige, bis daß die Zeit seines Landes auch komme. Welches Volk
aber und Königreich dem König zu Babel nicht dienen will, solch Volk will ich heimsuchen mit
Schwert, Hunger und Pestilenz. Darum so dienet dem König zu Babel, so werdet ihr lebendig bleiben"
(Jer. 27,5-6.17; nicht ganz Luthertext). Da sehen wir, mit welchem Gehorsam der Herr jenen
garstigen, wilden Tyrannen verehrt wissen wollte, und zwar aus keinem anderen Grunde, als weil er
die Königswürde innehatte. Eben dies aber bedeutete: er war durch himmlischen Beschluß auf den
Königsthron gesetzt und zu königlicher Majestät erhoben, die zu verletzen ein Frevel wäre. Wenn
uns das aber beständig vor Seele und Augen steht, daß durch den nämlichen Ratschluß (Gottes),
kraft dessen die Autorität der Könige (allgemein) aufgerichtet wird, auch die aller übelsten
Könige eingesetzt werden, dann werden uns nie und nimmer solche aufrührerischen Gedanken in den
Sinn kommen, man müsse den König nach seinen Verdiensten behandeln und es sei nicht billig, daß
wir uns einem Menschen gegenüber als Untertanen erwiesen, der sich uns gegegenüber nicht als
König erwiese.
IV,20,28 Es wäre vergebens, wenn hier jemand den Einwand machte, jenes
Gebot sei den Israeliten eigentümlich gewesen. Denn es ist zu beachten, welchen Grund der Herr
nennt, um es zu bekräftigen. "Ich habe dem Nebukadnezar das Reich übergeben", sagt er, "darum
dienet ihm und lebet" (Jer. 27,17; vgl. Vers 6; nicht Luthertext, ungenau). Wenn es also
feststeht, daß das Königtum jemandem übertragen ist, so wollen wir nicht daran zweifeln, daß wir
ihm dienen sollen, er mag sein, wer er will. Und sobald der Herr jemanden zu königlicher Hoheit
erhebt, bezeugt er uns damit seinen Willen: er will, daß er königlich regiert! Darüber nämlich
bestehen allgemeine Zeugnisse der Schrift. So sagt Salomo im achtundzwanzigsten Kapitel (der
Sprüche): "Um der Ungerechtigkeit des Landes willen sind der Fürsten viele" (Spr. 28,2; nicht
Luthertext). Und ebenso sagt Hiob im zwölften Kapitel: "Er löst auf der Könige Zwang und bindet
wiederum mit einem Gurt ihre Lenden" (Hiob 12,18; nicht ganz Luthertext). Ist das aber ausgemacht,
so bleibt nichts übrig, als daß wir "dienen und leben" (Jer. 27,17). Es steht bei dem
Propheten Jeremia auch noch eine weitere Weisung des Herrn, in der er seinem Volke befiehlt, es
solle "den Frieden" Babels suchen, der Stadt, nach der es gefangen weggeführt worden war, und
es sollte zu ihm für sie beten, weil ja in ihrem Frieden auch sein eigener Friede liegen würde
(Jer. 29,7). Sieh da, die Israeliten, denen man all ihr Hab und Gut weggenommen hatte, die man aus
ihren Häusern herausgerissen, in die Verbannung weggeführt und in elende Knechtschaft geworfen
hatte — die bekommen also die Weisung, für das Wohlergehen des Siegers zu beten! Und das nicht in
der Weise, wie uns sonst befohlen wird, für unsere Verfolger im guten Sinne zu beten (vgl. Matth.
5,44), sondern damit ihm das Reich unversehrt und friedlich bewahrt werde, damit sie auch selbst
unter ihm glücklich lebten! So hielt auch David, als er bereits durch Gottes Anordnung zum König
bestimmt und mit seinem heiligen Öle gesalbt war und obwohl er ohne seine Schuld von Saul unwürdig
verfolgt wurde, trotzdem das Haupt seines Verfolgers für unantastbar, weil der Herr es durch die
Königswürde geheiligt hatte. "Das sei ferne von mir", sprach er, "daß ich im Angesicht des
Herrn an meinem Herrn, dem Gesalbten des Herrn, das tun sollte, daß ich meine Hand an ihn legte;
denn er ist der Gesalbte des Herrn" (1. Sam. 24,7; nicht Luthertext). Und ebenso: "Meine Seele
hat dich verschont; denn ich sprach: ich will meine Hand nicht an meinen Herrn legen; denn er ist
der Gesalbte des Herrn" (1. Sam. 24,11; Anfang nicht Luthertext). Oder ebenso: "Wer will die
Hand an den Gesalbten des Herrn legen und ungestraft bleiben? ... So wahr der Herr lebt, wo der Herr
nicht ihn schlägt oder seine Zeit kommt, daß er sterbe oder in einen Streit ziehe und komme um, so
lasse der Herr ferne von mir sein, daß ich meine Hand sollte an den Gesalbten des Herrn legen"
(1. Sam. 26,9-11).
IV,20,29 Diese ehrerbietige und geradezu fromme Gesinnung sind wir allen
unseren Oberen, bis zum letzten hin, schuldig, sie mögen nun schließlich geartet sein, wie sie
wollen. Das wiederhole ich deshalb öfters, damit wir es lernen, nicht die Menschen selbst zu
untersuchen, sondern uns daran genug sein zu lassen, daß sie nach dem Willen des Herrn jene
Stellung einnehmen, der er selbst eine unverletzliche Majestät aufgeprägt und eingegraben hat. Ja,
wird man sagen, aber die Oberen haben auch ihren Untertanen gegenüber entsprechende
Verpflichtungen. Das habe ich bereits zugegeben. Aber wenn man von da aus zu der Ansicht kommt, man
brauche nur einer gerechten Herrschaft untertänig zu sein, so vollzieht man eine törichte
Beweisführung. Denn durch gegenseitige Verpflichtungen sind auch Mann und Frau, Eltern und Kinder
aneinander gebunden. Wenn nun die Eltern und Ehegatten ihre Pflicht vernachlässigen, wenn sich also
die Eltern ihren Kindern gegenüber, die sie doch nicht "zum Zorn reizen" dürfen (Eph. 6,4),
als dermaßen hart und abstoßend erweisen, daß sie sie durch ihr eigensinniges Wesen über alle
Maßen quälen, und wenn die Männer ihre Ehefrauen, die sie doch liebhaben und als zerbrechliche
Gefäße schonen sollen (Eph. 5,25; 1. Petr. 3,7), auf die schmählichste Weise behandeln — sollen
dann die Kinder ihren Eltern oder die Frauen ihren Männern etwa weniger untertan sein? Nein, sie
werden ihnen auch dann unterstellt, wenn sie böse und pflichtvergessen sind. Ja, es sollen doch
alle lieber danach trachten, daß sie nicht etwa "nach dem Sack schauen, den der andere auf dem
Rücken trägt" (nach Catull), das heißt: daß sich nicht die einen um die Pflichten der andern
bekümmern, sondern jeder sich allein das angelegen sein läßt, was seines eigenen Amtes ist. Gilt
das aber, so muß es vor allem bei denen in Kraft stehen, die unter die Gewalt anderer gestellt
sind. Wenn wir also von einem harten Fürsten grausam gemartert, von einem habgierigen und
ausschweifenden raubgierig ausgeplündert, von einem faulen vernachlässigt oder schließlich von
einem gottlosen und frevlerischen um unserer Frömmigkeit willen gequält werden, so soll uns
zunächst die Erinnerung an unsere Missetaten ins Gedächtnis kommen, die unzweifelhaft durch
dergleichen Geißeln des Herrn gezüchtigt werden (Dan. 9,7). Dann wird die Demut unsere Ungeduld
zügeln. Danach soll uns auch der Gedanke kommen, daß es nicht bei uns steht, gegen derartige Übel
Abhilfe zu schaffen, sondern daß uns nichts anderes übrigbleibt, als die Hilfe des Herrn
anzurufen, in dessen Hand die Herzen der Könige sind und die Wechsel der Reiche (Spr. 21,1). Er ist
der Gott, der da stehn wird in der Versammlung der Götter und wird Richter sein unter den Göttern
(Ps. 82,1). Er ist der Gott, vor dessen Angesicht alle Könige und alle Richter der Erde dahinfallen
und vergehen, die nicht seinen Gesalbten geküßt haben (Ps. 2,10.12), die unbillige Gesetze
erlassen haben, um die Armen im Gericht zu unterdrücken, der Sache der Geringen Gewalt anzutun, um
die Witwen zum Raube zu nehmen und die Waisen zur Beute (Jes. 10,1f.).
IV,20,30 Hier offenbart sich nun Gottes wunderbare Güte, Macht und
Vorsehung. Denn bald erweckt er aus seinen Knechten öffentliche Erretter und rüstet sie mit seinem
Auftrag aus, um eine mit Schandtaten beladene Herrschaft zur Strafe zu ziehen und das auf manch
ungerechte Weise unterdrückte Volk aus seiner elenden Qual zu befreien, bald bestimmt er dazu auch
die Wut von Menschen, die bei solcher Rettungstat etwas anderes im Schilde führen und etwas anderes
ins Werk setzen. So hat er das Volk Israel aus der Tyrannei des Pharao durch Mose (Ex. 3,7-10), aus
der Gewaltherrschaft Kusans, des Königs von Syrien, durch Othniel (Richter 3,9) und aus manch
anderer Knechtschaft durch andere Könige oder Richter zur Freiheit führen lassen. So dämpfte er
die Hoffart von Tyrus durch die Ägypter, die Frechheit der Ägypter durch die Assyrer, die Roheit
der Assyrer durch die Chaldäer, das Selbstvertrauen Babylons durch die Meder und, als Cyrus die
Mederbereits unterworfen hatte, durch die Perser. Die Undankbarkeit und die gottlose Halsstarrigkeit
der Könige von Juda und Israel aber, die sie angesichts der vielen Wohltaten bewiesen, die er ihnen
gewährt hatte, die hat er bald durch die Assyrer, bald durch die Babylonier gebändigt und
niedergeschlagen. Freilich geschah das nicht alles in der gleichen Weise. Denn jene ersteren (Mose,
die Richter usw.) waren durch eine rechtmäßige Berufung Gottes zur Ausrichtung solcher Taten
herbeigerufen worden, und wenn sie also gegen Könige zu den Waffen griffen, so verletzten sie damit
in keiner Weise jene Majestät, die den Königen durch Gottes Anordnung beigegeben ist, sondern sie
hielten, da sie vom Himmel herab gewappnet waren, die geringere Gewalt kraft der größeren im Zaum,
so wie auch die Könige das Recht haben, gegen ihre Statthalter vorzugehen. Die letzteren aber
wurden zwar durch Gottes Hand zu dem bestimmt, was ihm gefallen hatte, und richteten, ohne es zu
wissen, sein Werk aus, aber in ihrem Herzen lebte doch kein anderer Gedanke als der, eine Freveltat
zu tun.
IV,20,31 Aber wie man auch die Taten der Menschen selbst beurteilen mag, so
führte der Herr doch durch diese Taten gleichermaßen sein Werk aus, indem er das blutige Zepter
schamloser Könige zerbrach und manch unerträgliche Herrschaft stürzte. Das sollen die Fürsten
hören — und darob erschrecken! Wir aber sollen uns unterdessen nachdrücklichst hüten, diese
Autorität der Obrigkeit, die mit verehrungswürdiger Majestät erfüllt ist und die Gott durch die
ernstesten Gebote bekräftigt hat, zu verachten oder zu schänden — selbst wenn sie bei ganz
unwürdigen Menschen liegt und bei solchen, die sie durch ihre Bosheit, soviel an ihnen ist, mit
Schmutz bewerfen! Denn wenn auch die Züchtigung einer zügellosen Herrschaft Gottes Rache ist, so
sollen wir deshalb doch nicht gleich meinen, solche göttliche Rache sei uns aufgetragen — denn
wir haben keine andere Weisung, als zu gehorchen und zu leiden. Dabei rede ich aber stets von
amtlosen Leuten. Anders steht nun die Sache, wo Volksbehörden eingesetzt sind, um die Willkür der
Könige zu mäßigen; von dieser Art waren z.B. vorzeiten die "Ephoren", die den
lakedämonischen Königen, oder die Volkstribunen, die den römischen Konsuln, oder auch die "Demarchen",
die dem Senat der Athener gegenübergestellt waren; diese Gewalt besitzen, wie die Dinge heute
liegen, vielleicht auch die drei Stände in den einzelnen Königreichen, wenn sie ihre wichtigsten
Versammlungen halten. Wo das also so ist, da verbiete ich diesen Männern nicht etwa, der wilden
Ungebundenheit der Könige pflichtgemäß entgegenzutreten, nein, ich behaupte geradezu: wenn sie
Königen, die maßlos wüten und das niedrige Volk quälen, durch die Finger sehen, so ist solch ihr
absichtliches übersehen immerhin nicht frei von schändlicher Treulosigkeit; denn sie verraten ja
in schnödem Betrug die Freiheit des Volkes, zu deren Hütern sie, wie sie wohl wissen, durch Gottes
Anordnung eingesetzt sind!
IV,20,32 Aber bei diesem Gehorsam, der, wie wir festgestellt haben, den
Weisungen der Oberen zukommt, ist stets eine Ausnahme zu machen, ja, es ist vor allem anderen auf
eines zu achten, nämlich daß er uns nicht von dem Gehorsam gegen den wegführt, dessen Willen
billigerweise aller Könige Begehren untertan sein muß, dessen Ratschlüssen ihre Befehle weichen
und vor dessen Majestät ihre Zepter niedergelegt werden müssen. Und wahrlich, was wäre das für
eine Torheit, wenn man, um den Menschen Genüge zu tun, den zu beleidigen unternähme, um des willen
man eben den Menschen gehorcht? Der Herr also ist der König der Könige, und wo er seinen heiligen
Mund aufgetan hat, da muß er allein vor allen und über alle gehört werden; dann sind wir auch den
Menschen unterstellt, die uns vorgesetzt sind, aber allein in ihm. Wenn sie etwas gegen ihn
befehlen, so ist dem kein Raum zu gönnen und zählt es nicht. Und hier dürfen wir auch auf
jeneganze Würde, die die Obrigkeit besitzt, durchaus keine Rücksicht nehmen; denn dieser geschieht
keinerlei Unrecht, wenn sie im Vergleich mit dieser einzigartigen und wahrhaftig höchsten Gewalt
Gottes auf den ihr zustehenden Platz genötigt wird. In diesem Sinne behauptete Daniel, er habe
sich, als er der Verordnung des Königs nicht gehorchte, in keiner Weise gegen den König vergangen
(Dan. 6,23). Denn der König war über seine Grenzen hinausgegangen und hatte nicht nur den Menschen
Unrecht getan, sondern gar die Hörner gegen Gott erhoben und sich dadurch selbst seiner Gewalt
entsetzt. Auf der anderen Seite werden die Israeliten verdammt, weil sie gegenüber einem gottlosen
Gebot des Königs gar zu folgsam gewesen waren (Hos. 5,13). Denn als Jerobeam goldene Kälber
gegossen hatte, da hatte das Volk den Tempel Gottes verlassen und war dem König zuliebe auf neue
abergläubische Dinge verfallen (1. Kön. 12,30). Mit der gleichen Leichtfertigkeit hatten sich auch
die Nachfahren nach den Meinungen ihrer Könige gedreht, und der Prophet macht es ihnen mit Strenge
zum Vorwurf, daß sie die Verordnungen des Königs befolgt hätten (Hos. 5,11). So wenig kommt es in
Frage, daß der Vorwand der Bescheidenheit etwa Lob verdiente, mit dem sich die Hofschmeichler
bedecken und kraft dessen sie schlichte Leute täuschen, indem sie behaupten, es sei ihnen nicht
erlaubt, etwas abzulehnen, was ihnen von ihren Königen aufgetragen wäre. Als ob Gott, indem er
sterblichen Menschen die Führung des Menschengeschlechts übertrug, zu ihren Gunsten auf sein Recht
verzichtet hätte! Oder als ob die irdische Gewalt eine Beeinträchtigung erführe, wenn sie ihrem
Geber unterstellt wird, vor dessen Angesicht auch die himmlischen Fürstentümer demütig
erschrecken! Ich weiß, was für eine große und unmittelbare Gefahr dieser Beständigkeit droht.
Denn die Könige lassen sich nur unter höchster Entrüstung geringschätzen — und "des Königs
Grimm ist ein Bote des Todes", sagt Salomo (Spr. 16,14)! Aber da der himmlische Herold, Petrus,
das Gebot kundgemacht hat: "Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen" (Apg. 5,29), so
wollen wir uns mit der Erwägung trösten, daß wir jenen Gehorsam, den der Herr verlangt, dann
leisten, wenn wir lieber alles Erdenkliche leiden als von der Frömmigkeit weichen. Und damit uns
der Mut nicht ins Wanken gerät, so setzt uns Paulus noch einen anderen Sporn in die Seite, indem er
uns ermahnt: Christus hat uns dazu um jenen hohen Preis erkauft, den unsere Erlösung ihn zu stehen
kam, daß wir uns nicht an die bösen Begierden der Menschen verknechten, um ihnen untertan zu sein,
und uns noch viel weniger der Gottlosigkeit unterwerfen (1. Kor. 7,23). Ehre sei Gott!
Johannes Calvin: Die echte und die falsche Prädestination.
- Diskurs 100